Heute vor 50 Jahren starb Roman Rosdolsky, der Begründer der „Neuen Marx-Lektüre“ und sozialistische Revolutionär. Eine materialreiche Biographie erinnert an ihn und seine Frau Emmy Rosdolsky.
Längst hat er begonnen, der Veranstaltungs- und Publikationsmarathon, mit dem an den 200. Geburtstag von Karl Marx im kommenden Jahr und an das erstmalige Erscheinen des „Kapital“ vor 150 Jahren erinnert wird. Das Gedenken ist ein bisweilen zwiespältiges Unterfangen, denn so manche der Grüppchen und Initiativen, die sich auf sein Hauptwerk berufen, würden mit dem, was sie daraus gelernt zu haben meinen, möglicherweise vor der Schärfe von Marx’ens Kritik nicht bestehen.
Vor allem eine Person hat mit ihrer Arbeit wesentlich dazu beigetragen, die Kritik zur Geltung zu bringen, die man im „Kapital“ vorgeführt bekommt: Die Rede ist von Roman Rosdolsky, der heute vor 50 Jahren gestorben ist.
Um das „Kapital“ nicht als Ansammlung von Fakten über den Kapitalismus zu lesen, sondern um selbst zu einer solchen Gesellschaftskritik fähig zu werden, müsse man verstehen, wie Marx dabei vorgegangen ist, so der simple Gedanke, der Rosdolskys eigenem Opus Magnum zugrunde liegt. Und wie könnte das besser gelingen als durch den Versuch, den Entstehungsprozess von Marx‘ „Kapital“ zu rekonstruieren, sagte sich Rosdolsky. Er nannte das Werk, das ihn bekannt gemacht hat, konsequenterweise „Zur Entstehungsgeschichte des Marxschen ‚Kapital‘“.
Das hört sich nach sehr viel Arbeit und detailgenauer Recherche an. Die Zeit für ein solches Unternehmen fand Rosdolsky – wie Marx selbst als Verfasser des „Kapital“ – erst nach dem Gang ins Exil. Denn wie Marx wirkte auch Roman Rosdolsky in den ersten Jahrzehnten seines Lebens vor allem als sozialistischer Revolutionär.
1898 im damals österreichisch-ungarischen Lemberg geboren, gehörte er der ukrainischen, damals „ruthenisch“ genannten Minderheit des vorwiegend polnischen Galiziens an. In der wechselvollen Geschichte dieser Region, mit der zum Russischen Reich gehörenden sogenannten „Ost- ukraine“ und der mal zu Polen, mal zu Österreich gehörenden „Westukraine“ (Ostgalizien), bildete sich im 19. und vor allem im 20. Jahrhundert zunehmend ein ukrainisches Nationalbewusstsein heraus. Bei Rosdolsky, der aus einem bürgerlichen Elternhaus stammte, das sich als national gesinnt, zugleich jedoch als kosmopolitisch begriff, hinterließ dies einen bleibenden Eindruck.
Schon mit 14 Jahren gelangte er in Kreise, in denen die Schriften von Luxemburg, Lenin, Trotzki und anderen diskutiert wurden. Er gehörte dem linken Flügel einer Gruppe an, die ihren Namen von dem ukrainischen Historiker und Sozialisten Mychajlo Drahomanow (1841-95) bezog, der sich für eine autonome Ukraine als Teil einer demokratischen russischen Föderation ausgesprochen hatte. Mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs spaltete der Nationalismus Rosdolskys Gruppe. Eine Mehrheit kämpfte auf Seiten der Österreicher gegen Zarismus und die russische Unterdrückung der Ostukraine, während Rosdolsky und andere dies aus einer antimilitaristisch-sozialrevolutionären Haltung heraus ablehnten. In den folgenden Jahren nahm Rosdolsky eine revolutionäre Haltung ein, die sich verstärkt auf Marx berief. Er gehörte der „Internationalen Revolutionären Sozialdemokratischen Jugend“ (IRSD) an, die in Opposition zur kriegsbefürwortenden europäischen Mehrheits-Sozialdemokratie stand und als einzige galizische Organisation die russische Oktoberrevolution begrüßte.
Als materialistischer Gesellschaftskritiker war Rosdolsky bemüht, die Verrücktheiten der „nationalen Frage“ vor allem als soziale Frage zu entziffern. Ihm ging es darum, die sozialen Konflikte sichtbar zu machen, die sich hinter dem Unabhängigkeitsbestreben verbargen. Dennoch rückte er in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg von seiner ursprünglichen Kritik an nationalen Unabhängigkeitsbestrebungen immer weiter ab, insbesondere, weil er die Russifizierungspolitik der Bolschewiki in der Ukraine kritisierte.
Nationale Selbstbestimmung?
In seiner in mehrere Sprachen übersetzten Arbeit „Zur nationalen Frage – Friedrich Engels und das Problem der ‚geschichtslosen‘ Völker“ widmete er sich diesem Thema in einem weiteren Sinn. Er ging darin auf die bereits in den 1840er-Jahren auch von Marx und Engels vertretene These ein, wonach nicht jede „Nation“ und Bevölkerungsgruppe eine eigene Geschichte habe, und damit auch keinen Anspruch auf Gründung eines eigenen Staates. In seiner Arbeit wollte Rosdolsky diese „antislawisch“ konnotierte These historisch widerlegen; letztlich jedoch war für ihn die Forderung einer unterdrückten Bevölkerungsgruppe nach Selbstbestimmung vor allem eine demokratische Selbstverständlichkeit. Dass damit wiederum gesellschaftliche Konflikte und die Interessenwidersprüche innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft verschleiert werden konnten, scheint ihm aufgrund seiner historischen Erfahrung nachrangig gewesen zu sein.
Die vom Wiener Rosdolsky-Kreis herausgegebene Biographie „Mit permanenten Grüßen“ – ein von Rosdolsky in Anspielung auf Trotzkis Diktum von der permanenten Revolution häufig verwendeter brieflicher Abschiedsgruß – zeichnet den Lebensweg und intellektuellen Werdegang von Roman Rosdolsky und seiner Frau Emmy Meder-Rosdolsky sehr aufschlussreich nach. In der Einleitung wird das schöne Buch als „Crowdwriting-Projekt“ vorgestellt: Bis auf zwei Kapitel wurde es von sechs AutorInnen gemeinschaftlich erarbeitet. Der teils sehr komplexe biographische Hintergrund des Ehepaars Rosdolsky wird zum besseren Verständnis in ausführlichen Exkursen erläutert, was im Allgemeinen sehr hilfreich ist, an manchen Stellen den LeserInnen vielleicht als zu detailliert erscheinen mag.
In Wien aufgewachsen, war Emmy Meder ihrerseits schon früh in der kommunistischen Bewegung in Österreich und später auch im Kampf gegen den Austrofaschismus aktiv. Roman Rosdolsky hatte sie kennengelernt, als dieser in Wien studierte. 1934 wurde er aufgrund seines polnischen Passes in das mittlerweile polnische Lemberg ausgewiesen, Emmy Meder, vor ihrer Ausreise aufgrund ihrer politischen Betätigung mehrere Wochen inhaftiert, folgte ihm im Dezember 1938 nach. Als Resultat der Aufteilung Polens zwischen Deutschland und der Sowjetunion im Hitler-Stalin-Pakt marschierte die Rote Armee im September 1939 in Lemberg ein. Roman Rosdolsky, der politisch Trotzki nahestand, galt damit automatisch als Stalingegner und fürchtete um sein Leben. Zu Recht, wie das Schicksal ihm nahestehender Genossen wenig später zeigte.
Das mittlerweile verheiratete Paar flüchtete ins deutsch besetzte Krakau, wo es zunächst unbehelligt leben konnte. Doch im Spätsommer 1942 wurden beide von der Gestapo verhaftet, weil sie Jüdinnen und Juden bei sich versteckt hatten. Die schwangere Emmy kam drei Wochen später wieder frei, für Roman begann ein Leidensweg, der ihn durch die Konzentrationslager Auschwitz, Ravensbrück und Sachsenhausen führte. Mitte April 1945 wurde er von dort auf einen „Todesmarsch“ geschickt, wo die Wachen der SS aus Angst vor den herannahenden alliierten Truppen Anfang Mai schließlich flohen.
Als sie endlich wieder zusammen waren, verbrachten Roman und Emmy Rosdolsky einige Zeit in Österreich, doch schließlich entschlossen sie sich aus Angst vor stalinistischen Nachstellungen 1947 fürs Exil in den USA.
Neue Marx-Lektüre
Nach einem ersten Aufenthalt in New York zog die dreiköpfige Familie nach Detroit, wo Emmy Rosdolsky als Ökonomin bei der Gewerkschaft „United Auto Workers“ beschäftigt war. Roman konnte beruflich nie in den Vereinigten Staaten Fuß fassen und blieb Privatgelehrter; für den Lebensunterhalt der Familie kam Emmy alleine auf. Wie Enkelin Diana Rosdolsky in einem gesonderten Kapitel des Buches berichtet, ließen Roman seine Erlebnisse in der KZ-Haft nicht los. Er litt an Depressionen, hatte Alpträume. An seinen Freund Ernst Federn schrieb er: „Immer derselbe Traum: Ich komme irgendwie wieder ins KZ, obwohl der Krieg schon aus ist, und muss die ganze Suppe noch einmal auskosten.“
Dennoch machte sich Roman Rosdolsky 1948 an eine Herkules-Aufgabe, die ihm großen Einfluss in der künftigen Marx-Lektüre sichern sollte: Im Alter von 50 Jahren begann er, sich intensiv mit der Marx’schen Kritik der politischen Ökonomie auseinanderzusetzen. Dabei griff er auch auf einen in den Jahren 1939 und 1941 in zwei Bänden erstmals erschienenen Rohentwurf des „Kapital“ zurück, ein Manuskript, das Marx in den Jahren 1857/58 zu Papier gebracht hatte.
Beim Studium dieser bis zu ihrem Nachdruck 1953 immer noch kaum verfügbaren „Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie“ wurde Rosdolsky klar, wie viel Marx‘ Kapitalkritik der Philosophie Hegels zu verdanken hat. Nach seiner Auffassung ist es unmöglich, das von Marx kritisch Dargestellte ohne Rückbezug auf Hegels in seinen Werken entwickelte Dialektik zu verstehen. Sie ist, wie Rosdolsky meint, die „Seele“ des „Kapital“. Er erläutert, dass die Darstellungsprobleme, die Marx dazu nötigten, mehrere Anläufe zum Verfassen seines Hauptwerkes zu nehmen, methodischer Natur waren. Wegweisend für alle künftige Marx-Forschung war daher Rosdolskys Erkenntnis, dass bereits das Problem des Anfangs wie des Aufbaus des „Kapital“ von großer Bedeutung war.
Mit seiner „Entstehungsgeschichte“ hat Rosdolsky viel zu einer Lektüre beigetragen, die das „Kapital“ nicht als Nachvollzug einer historischen Entwicklung versteht. Vielmehr legt sie nahe, dass sich Karl Marx in all den von ihm diskutierten Aspekten immer schon auf die Struktur des Verhältnisses bezieht, welcher der Kapitalismus als gesellschaftliche Reproduktionsweise ist. Rosdolsky ermöglicht beispielsweise die Erkenntnis, dass Marx in seinem Buch nicht etwa einem vermeintlich ausbeutungsfreien, zinsfreien einfachen Warentausch einen späteren „kapitalistischen“ Warentausch gegenüberstellt, sondern dass Kategorien wie Ware, Gebrauchswert, Tauschwert, Zins, etc. in Marx‘ kritischer Darstellung allesamt notwendige Momente ein und desselben gesellschaftlichen Verhältnisses sind.
Als Rosdolskys Werk 20 Jahre, nachdem er mit der Arbeit daran begonnen hatte, 1968 endlich in der „Europäischen Verlagsanstalt“ erschien, kam es gerade recht, um zumindest in Teilen der „Neuen Linken“ wirksame Früchte zu tragen. Roman Rosdolsky hatte dort einen Einfluss, der jenem des Philosophen Herbert Marcuse durchaus gleichzusetzen ist.
Rosdolsky selbst sollte dies allerdings nicht mehr erleben. Ohne je ein gedrucktes Exemplar seines dreibändigen Werkes in den Händen zu haben, starb er am 20. Oktober 1967 in Detroit. Emmy Rosdolsky kehrte nach ihrer Pensionierung 1971 nach Österreich zurück, wo sie ihren Lebensabend verbrachte. Sie starb am 3. September 2001 in Wien.
Rosdolsky-Kreis – Mit permanenten Grüßen. Leben und Werk von Emmy und Roman Rosdolsky. Mandelbaum Verlag, 440 Seiten.
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