Vor dreißig Jahren begann im mexikanischen Bundesstaat Chiapas der des Aufstand der Zapatist*innen. Von Beginn an war die damals erkämpfte Autonomie politisch, wirtschaftlich, militärisch und durch bewaffnete Paramilitärs bedroht. In den vergangenen zwei Jahren hat die Gewalt in Chiapas jedoch dramatisch zugenommen. Ein Gespräch mit der Journalistin und Wissenschaftlerin Marta Durán.
woxx: Was hat sich an der Bedrohungslage für die zapatistischen Gemeinden geändert?
Marta Durán: Zu Beginn, also 1994, waren die beiden großen Gefahren für die zapatistischen Gemeinden die mexikanische Armee und die paramilitärischen Gruppen. Letztere vermehrten sich in beeindruckender Weise, da sie die schmutzige Arbeit der Armee verrichteten und dies auch weiterhin tun. Sie ermorden soziale Anführer*innen und terrorisieren die Gemeinden. Während es Gespräche zwischen der EZLN (Ejército Zapatista de Liberación Nacional, dt. „Zapatistische Armee der Nationalen Befreiung“; Anm. d. Red.) und Vertretern der Bundesregierung gab, griffen paramilitärische Gruppen, die von der Regierung des Bundesstaates finanziert und von Armee und Polizei ausgebildet wurden, gleichzeitig die Gemeinden an. Die Situation ist heute viel schlimmer als vor dreißig Jahren, denn die organisierte Kriminalität hat in Chiapas stark zugenommen, vor allem an der Südgrenze des Bundesstaats, wo sie den Handel mit allem, was verboten ist, kontrolliert: Waffen, Migration und Drogen. Das „Jalisco-Kartell – Neue Generation“ streitet sich mit dem Sinaloa-Kartell um Territorien, Routen, Märkte und Waren. Seit der Krieg zwischen ihnen ausgebrochen ist, stehen sowohl die Zapatisten als auch die Zivilbevölkerung im Kreuzfeuer, ohne dass die Landes- oder Bundesregierung versucht, das Gebiet zu befrieden. Die Zapatist*innen werden aber nicht zu den Waffen greifen, auch nicht gegen die Narcos. Sie haben sich lediglich zurückgezogen (siehe auch „Erzwungene Zäsur“ in woxx 1762; Anm. d. Red.).
Ist diese Entwicklung vergleichbar mit anderen peripheren mexikanischen Bundesstaaten?
Die Gewalt, die in Chiapas vor fast drei Jahren ausbrach, herrschte bereits in anderen Bundesstaaten wie Tamaulipas, Michoacán, Guerrero, Jalisco, Colima, Guanajuato. Der Krieg zwischen den Kartellen in Chiapas ist in der Tat neu und hat lange gebraucht, um sich durchzusetzen. Meine persönliche Hypothese ist, dass die kriminellen Organisationen in den Zehntausenden von Flüchtlingen eine Goldmine sahen, als 2019 die Mega-Karawanen von Migrant*innen entstanden (siehe „Flucht als Revolte“ woxx-online; Anm. d. Red.). An der Entführung und Erpressung von Migrant*innen sind auch Polizei, Militär, korrupte Mitglieder des Nationalen Migrationsinstituts und Drogenhändler beteiligt. Die Kartelle verdienen derzeit mehr Geld mit Migrant*innen als mit dem Drogenhandel. Es war die Massenmigration aus Mittelamerika, die die Kriminellen an die Südgrenze brachte. Die nördliche Grenze zu den USA ist seit vielen Jahren unter ihrer Kontrolle.
„Die Kartelle verdienen derzeit mehr Geld mit Migrant*innen als mit dem Drogenhandel.“
Ist das Zentrum rund um Mexiko-Stadt, abseits der Grenzen, für Oppositionelle, soziale Bewegungen und einfache Menschen sicherer?
Die Sicherheit dieser Menschen wird immer schlechter, je weiter man sich vom Zentrum von Mexiko-Stadt entfernt. Die Ballungsräume des ehemaligen Bundesdistrikts, der heute Mexiko-Stadt heißt, sind sehr gefährlich, weil es dort viel organisierte oder unorganisierte Kriminalität gibt. Wenn man sein Haus verlässt, weiß man nicht, ob man überfallen, vergewaltigt oder entführt wird, oder noch schlimmer, ob das organisierte Verbrechen einen im Rahmen eines so genannten „levantón“ entführt, was nichts anderes als eine Zwangsrekrutierung ist. Frauen werden von Menschenhändlern verschleppt, die den Schleppernetzen der sexuellen Ausbeutung zuarbeiten. Da das organisierte Verbrechen große Teile des Landes kontrolliert, wird jeder Aktivist oder Politiker – gleich welcher Partei –, der sich dessen Interessen widersetzt, bedroht, angegriffen, ermordet oder verschwindet gewaltsam. Dies erklärt die große Zahl von Journalistinnen, Menschenrechtsaktivisten, Umweltschützerinnen, Bauernführern und Gewerkschafterinnen, die ermordet wurden. Kandidat*innen der rechten Opposition werden hauptsächlich von der organisierten Kriminalität ermordet, vor allem vor Wahlen, die auf Auftragskiller oder korrupte Polizisten zurückgreifen kann.
Können die Kartelle in den von der Regierung kontrollierten Gebieten von Chiapas ungehindert operieren?
Alles deutet darauf hin, dass die Kartelle in Chiapas ungehindert und ungestraft agieren können, obwohl eine Regierung der sogenannten Vierten Transformation, also der als links geltenden Partei Morena und ihrer Verbündeten, amtiert. In vielen Regionen, in denen Morena regiert, sind jedoch nicht die Linken an der Macht, sondern die alten Machthaber, die alten Kaziken, die alten Großgrundbesitzer, die bereits lange herrschenden Familien, die einfach ihr Outfit und ihren Namen gewechselt haben, als es ihnen passte, und sich jetzt als Morena präsentieren.
Wie reagieren die Zapatist*innen auf diese Entwicklung?
Die Zapatistas haben der Propaganda der politischen Parteien nie geglaubt. Sie wissen, wer in der Regierung ist, und selbst wenn die Besitzer des Großkapitals oder des Landes die politische Partei wechseln, bleiben ihre Interessen, bleibt ihre Ausbeutungsmaschinerie intakt. Die Struktur des wilden Kapitalismus bleibt die gleiche. Die Reaktion der Zapatist*innen ist nach wie vor die gleiche, nämlich die Ablehnung der schlechten Regierung. Es kommt auf die Taten an, auf konkrete Aktionen, nicht auf die Rhetorik.
Und wie wirkt sich diese neue Situation auf die Solidarität aus?
Die Solidarität ist immer noch da, aber nicht mehr so groß wie 1994. Es gibt neue Kriege, natürliche, ökologische und humanitäre Katastrophen, die die Aktivist*innen beschäftigen. Im Falle Mexikos haben sich viele Menschen aus verschiedenen Gründen auf die Seite des Präsidenten Andrés Manuel López Obrador von der Partei Morena geschlagen und die Zapatistas vergessen.
Ist die Solidarität und das Bewusstsein in Mexiko-Stadt trotzdem noch so präsent wie im Jahr 1994?
Leider nicht. Viele Menschen glauben blind an die neue Regierung, vor allem weil es eine umfangreiche soziale Unterstützung gibt, die es vorher in Mexiko nicht gab. Die Zapatist*innen glauben nicht an die neue Regierung, denn in ihren Augen ist sie autoritär, klientelistisch, lügenhaft und hat keine grundlegenden strukturellen Veränderungen vorgenommen, um Mexiko egalitärer und demokratischer zu machen. Im Gegenteil, die Megaprojekte der Regierung beeinträchtigen die indigene Bevölkerung, nicht nur wegen der Enteignung von Land, sondern auch wegen der ökologischen Schäden. Erschwerend kommt hinzu, dass der Präsident das Land militarisiert hat. Die Zapatisten glauben der Regierung von López Obrador nicht, weil er seine Versprechen der Gerechtigkeit und der Beendigung der Straflosigkeit für Militär und Polizei nicht erfüllt hat; im Gegenteil, er hat Politiker und Geschäftsleute in seine Regierung aufgenommen, die unbelehrbare Diebe, Unterdrücker und Mörder sind. Trotz seiner Fehler und der Skandale im Umfeld von López Obrador erfreut er sich nach wie vor großer Beliebtheit, und das ist mehr ein Akt des Glaubens als des Bewusstseins. Die Zapatistas wurden immerhin in Ruhe gelassen.
Stehen die Zapatistas immer noch für eine emanzipatorische Befreiung von unten?
Die Zapatistas kämpfen immer noch gegen Ungerechtigkeit. Sie wollen nicht die Macht, sondern die Demokratisierung. Sie kämpfen weiterhin gegen Rassismus, Klassismus und Ausbeutung. Sie haben ein System der Selbstverwaltung entwickelt, das die Anhäufung von Geld oder Macht in wenigen Händen unmöglich macht. Es hat sie viel Arbeit gekostet, aber sie haben es geschafft. Die Zapatistische Armee der Nationalen Befreiung hat die Befehlsgewalt längst an ihre zivilen Strukturen abgetreten. Innerhalb der Zapatistischen Armee, der bewaffneten Miliz, gibt es zwar eine militärische Hierarchie, mit der sie den bewaffneten Aufstand betrieben haben, aber auch sie haben nicht die militärische Mentalität einer Berufsarmee. Es sind Bauern, die zu den Waffen gegriffen haben, die aber jeden Tag das Land bearbeiten und sich um ihre Tiere kümmern. Die Zapatisten streben nicht nach Macht, und das unterscheidet sie von allen anderen Guerrillas. Sie haben ein politisches System entwickelt, in dem Entscheidungen kollektiv und im Konsens getroffen werden. Sie konzentrieren die Macht nicht, sondern verteilen sie gemeinschaftlich. Das Verhältnis der zapatistischen Gemeinden zur Macht ist einzigartig, denn sie verwalten sie auf gemeinschaftliche, horizontale, transparente, rotierende und streng rechenschaftspflichtige Weise.
Marta Durán de Huerta ist Journalistin und Universitätsdozentin in Mexiko-Stadt. Seit mehr als 30 Jahren beobachtet sie die Entwicklung im mexikanischen Bundesstaat Chiapas und ist ebenso lang aktiv im Unterstützungsnetzwerk für die Zapatist*innen, deren Aufstand 1994 begann. Im selben Jahr führte Durán lange Interviews mit einem ihrer Sprecher, Subcomandante Marcos, die 2001 als Buch „Yo Marcos – Gespräche über die zapatistische Bewegung“ auf Deutsch erschienen sind.