Musik: Der musikalische Underground lebt

Auf der Weltmusikmesse Womex im galizischen A Coruña traf Willi Klopottek einen Vorkämpfer des alternativen Musikvertriebs: Nikel Pallat. Im März erschien dessen Autobiografie „Das schillernde Leben des Nikel Pallat“ bei Hannibal. Im Interview mit der woxx spricht der ehemalige Manager von „Ton Steine Scherben“ über die Underground-Szene.

woxx: Weltweit existieren nur noch drei riesige, multinationale Musikkonzerne und ihre Unterlabels, die den absolut größten Teil der Musik veröffentlichen. Was bedeutet das für den Musikmarkt?

Nikel Pallat: Gründungsmitglied des alternativen Musikvertriebs Indigo. (COPYRIGHT: Simone Dubberke)

Nikel Pallat: Die drei großen Firmen kontrollieren über 75 Prozent des globalen Musikmarktes und haben das Interesse, ihre Aktionäre zufriedenzustellen. Das heißt, dass sie um Marktanteile kämpfen, möglichst viel verkaufen und möglichst viel in den Medien gesendet werden wollen. Dafür stellen sie ein Programm zusammen, das Mainstream beinhaltet, also normalen Pop, sei es Schlager oder Rock. Um ihre marktbeherrschende Stellung zu erhalten oder auszubauen, veröffentlichen sie Musikformen, die sich an bereits erprobten, erfolgreichen Stilen orientieren und die sich damit immer nur selbst neu bestätigen, indem bereits Vorhandenes bestenfalls mal anders zusammengeschraubt wird, ohne irgendetwas Neues zu wagen.

Gibt es Ausnahmen?

Wenn die großen Firmen feststellen, dass im Untergrund Künstler*innen für Furore sorgen und beispielsweise große Hallen füllen, versuchen sie manchmal da einzusteigen. Adele ist ein Beispiel. In Europa war sie unbekannt und ist von uns, Indigo, gefördert worden. Ich habe sie in Hamburg erlebt, als sie vor gerade mal 50 Leuten gespielt hat. Nach drei erfolgreichen Platten, die von uns vertrieben wurden, landete sie schließlich bei einem Majorlabel. Um eine Platte zu pushen, wird den Künstler*innen dann allerdings oft von den Majors ein Produzent vor die Nase gesetzt, der die Ecken und Kanten beseitigt, die Musik nachstriegelt oder weichspült, um im Radio öfter gespielt zu werden und um mehr zu verkaufen. Das ist im Independent-Bereich anders. Hier beraten die Produzent*innen, wenn unerfahrene Musiker*innen ihr Debüt aufnehmen, aber es bleibt die Musik der Künstler*innen.

Was veröffentlichen die Labels in Ihrem Vertrieb im Gegensatz zu den Majors?

Was den inländischen Markt angeht, vermarkten die Großen zum Beispiel keine Punkplatten. Verkaufszahlen von 1.000 oder 2.000 interessieren die nicht. Bei uns spielt deutscher Punk jedoch eine wichtige Rolle. Es gibt einige Labels wie Rookie Records, die holen Gruppen zu sich, die völlig unbekannt sind, aber etwas zu sagen haben. Viele von denen machen dann auch Karriere. Es gibt auch eine ganze Reihe von Gruppen und Künstler*innen, die etabliert sind, die aber dennoch zu wenig Platten verkaufen können, um für die großen Firmen interessant zu sein, zum Beispiel die erfolgreiche Hamburger Band Kettcar oder Thees Uhlmann, die ihre Alben beim Indie-Label „Grand Hotel van Cleef“ veröffentlichen und die wir von Indigo dann in die Läden bringen.

„Bei den Privatradios kommt die Musik, die wir vertreiben, fast gar nicht vor.“

Welche Rolle spielen Radiostationen bei der Verbreitung von Musik?

Die Musik, die die privaten Sender spielen, ist für sie ein Vehikel, um Werbezeit zu generieren. Darüber finanzieren sie sich ja. Eine Musik- redakteurin, ein Musikredakteur bei solchen Stationen hat immer die Schere im Kopf, ob das, was sie oder er spielt, viele Hörer*innen auf dem Sender hält. Folglich dominieren dann Schlager, Hits und hier und da mal ein Oldie. Wenn das Musikprogramm zu sehr aus dem Rahmen fällt, schalten viele Hörer*innen ab und die Werbekund*innen verabschieden sich. Das würde die Existenz des Senders gefährden. Die öffentlich-rechtlichen Radiostationen in Deutschland finanzieren sich teilweise durch Werbung, aber weil sie auch durch die Rundfunkgebühren getragen werden, sind sie unabhängiger und spielen auch Musik, die nicht Mainstream ist. Hervorzuheben ist der Deutschlandfunk, der einiges aus dem Independent-Bereich im Programm hat. Bei den Privatradios kommt die Musik, die wir vertreiben, fast gar nicht vor. Es sind dann die kleinen Stationen wie Universitätsradios oder Onlineradios, die unsere Musik spielen. Die haben zwar eine geringe Reichweite, aber dafür eine feste Fangemeinde.

Welche Bedeutung hat für Sie der Vertrieb von Alben im digitalen Format?

Wir haben bei Indigo auch eine digitale Abteilung, die für einige unserer inländischen Labels den digitalen Vertrieb machen. Bei internationalen Veröffentlichungen, die wir übernehmen, sind die Alben üblicherweise bereits vorher in ihren Herkunftsländern digital aufgestellt worden. Wir bei Indigo verstehen uns als körperlicher Vertrieb. Was den Umsatz angeht, liegt der digitale Anteil bei uns unter 10 Prozent. Ich schätze, dass der Anteil der digitalen Sparte im Vergleich zur physikalischen bei den Major-Labels mittlerweile über 70 Prozent liegt. Wir als Indigo sind da untypisch. Immerhin ist der Rückgang bei den Verkaufszahlen von CDs gestoppt, wenn auch auf einem niedrigen Niveau. Der Vinyl-Markt hat über die letzten Jahre gut zugelegt. Er wird aber wohl die Verluste aus dem geschrumpften CD-Markt nicht kompensieren können. Es zeichnet sich jedenfalls nicht ab, dass die Verkaufszahlen auf dem Vinyl-Markt schnell rückläufig sein werden. Ich glaube, das wird sich stabilisieren.

Welche Möglichkeiten haben Käufer*innen heute, CDs oder Vinyl zu kaufen?

Während der Corona-Pandemie hat sich der Markt stark gewandelt. Der Marktanteil von Amazon ist auf dem alten Niveau geblieben. Was sich nach unten verschoben hat, ist der Marktanteil von Ketten wie Media-Markt, Saturn und Drogeriemarkt Müller, die in vielen Städten vertreten sind. Wenn man online bestellen und Amazon vermeiden will, dann ist JPC.de eine exzellente Alternative. JPC gibt sich sehr viel Mühe, die Platten darzustellen, ist preislich durchaus konkurrenzfähig und hat zudem eine ganz andere Moral gegenüber seinen Beschäftigten als Amazon. Außerdem gibt es eine andere große Firma, die aus der Hip-Hop-Ecke kam und sich mittlerweile viel breiter aufstellt und überwiegend Vinyl verkauft, nämlich die Firma HHV. Die sitzen in Berlin, geben sich auch viel Mühe und haben eine recht junge Käuferschaft. Nicht vergessen darf man die kleineren Plattenläden, die vor allem seit der Pandemie häufig ihre Platten auch online anbieten.

„Ob in den nächsten Jahren noch körperliche Musik oder nur noch digitale Musik überleben wird, ist nicht vorherzusagen. Man darf aber nicht verzagen.“

Haben physikalische Tonträger eine Zukunft?

Heute ist es relativ leicht möglich, seine Musik im Internet zu veröffentlichen. Wenn man aber häufig Gigs spielt, ist es ganz nützlich, eine CD oder eine Vinylscheibe anbieten zu können. Das ist wie eine Visitenkarte, die zeigt, dass du mehr kannst, als nur ein paar Stücke online zu stellen. Mit Radioeinsätzen und ein paar guten Besprechungen in den Medien kann man seine Verkaufszahlen steigern und hat möglicherweise auch die Chance, im Handel wahrgenommen zu werden. Eine digitale Veröffentlichung kann für junge Künstler*innen ein guter Einstieg sein, um dann im fortgeschrittenen Stadium eine CD oder ein Vinylalbum herauszubringen. Ob in den nächsten Jahren noch körperliche Musik oder nur noch digitale Musik überleben wird, ist nicht vorherzusagen. Man darf aber nicht verzagen. Wenn du Konzerte machst und deine Fans mit dir wachsen, wirst du deine Musik in irgendeiner Form verkaufen können.

Führt die alltägliche Überfrachtung mit Mainstream-Musik dazu, dass die alternativen, kreativen Musikschaffenden langsam aussterben?

Absolut nicht. Wenn man sich die Konzertszene vor allem auch in den großen Städten anschaut, stellt man fest, dass es da eine große Konkurrenz unter den Clubs gibt. Die versuchen jeden Abend mit einem völlig verrückten Programm, das Publikum in ihre Läden zu bringen. Da ist ganz viel Bewegung drin und keinesfalls ein Stillstand. Selbst wenn viele Clubs und Konzertveranstalter*innen zunächst auf Nummer sicher gehen und eine Reihe von etablierten Acts buchen, nehmen sie doch oft auch ein paar neue mit hinzu, die sie toll finden und denen sie eine Chance geben wollen.

Wie sieht die Zukunft für den alternativen Vertrieb Indigo aus?

Ich mache mir da keine Sorgen. Ganz viele Leute wissen es zu schätzen, dass wir in den Underground gehen und den Kontakt zu vielen jungen Künstler*innen pflegen, ihnen eine Chance geben. Wir bekommen auch ganz viele Anfragen aus dem Ausland, ob wir nicht interessiert wären, ihre Platten auf den deutschen Markt zu bringen. Überhaupt: Der Musikgeschmack bildet sich ja zum Teil ganz früh auf dem Schulhof, wo es immer auch die, die aus der Rolle fallen, gibt, die gegen den Strom schwimmen und sich für anderes und Ausgefallenes interessieren und damit Mitschüler*innen anstecken. Im Internet finden solche Leute auch das, was in den Mainstream-Medien nicht vorkommt, vielleicht auch Musik aus Spanien, etwas, was in Südamerika gerade angesagt ist, oder auch Musik aus Persien und nicht immer nur den angloamerikanischen Kram, der sich immer wieder nur wiederholt.

Vertriebe im Musikgeschäft sind die, die die Platten von den Plattenfirmen in die Läden, Onlineshops und auch in die digitalen Onlineportale bringen. Seit Jahrzehnten ist einer der wichtigsten Independent-Vertriebe in Deutschland die Firma Indigo aus Hamburg, die ein breites Spektrum an Musik von Künstler*innen unterschiedlichster Stile – auf oft kleinen, spezialisierten Labels herausgebracht – verbreitet. Damit eröffnet sie vielen Musikliebhaber*innen die Möglichkeit, Musik zu entdecken und zu kaufen, die sonst wahrscheinlich nie die Ohren der Hörer*innen erreichen würde. Schon die Vorgängerfirma von Indigo, EfA, hatte den Grunge aus Seattle, unter anderem mit dem Debütalbum von Nirvana in Deutschland populär gemacht. Ohne den Nachfolger Indigo wären die Einstürzenden Neubauten wohl ein Geheimtipp geblieben und Adeles Weltkarriere begann zumindest in Europa damit, dass Indigo sie entdeckte, förderte und drei erfolgreiche Alben von ihr in die Geschäfte brachte. Bis heute sorgt Indigo dafür, dass das Münchener Trikont-Label mit seinen Veröffentlichungen von Underground-Liedermacher*innen bis Weltmusik die Käufer*innen erreicht. Bei Indigo findet man zahlreiche Jazzplatten, die nicht das Jazz-Klischee bedienen und deshalb im Radio fast nie zu hören sind. Fettes Brot war Jahre lang bei Indigo und wer heute aktuelle deutsche Punkscheiben kauft, wird sie häufig nur deshalb bekommen, weil der agile Betrieb, der sich nicht an Genregrenzen hält, sie von den unabhängigen, kleinen Labels in die Läden bringt.

(COPYRIGHT: Hannibal Verlag)

Nikel Pallat ist Gründungsmitglied und bis heute einer von drei Gesellschaftern von Indigo, einer Firma, die heute 40 Mitarbeiter*innen beschäftigt. Aus der Taufe gehoben wurde Indigo 1993. Seine ersten Erfahrungen im Vertriebsbereich sammelte Pallat, der zunächst als Steuerinspektor gearbeitet hatte, als er Anfang der 1970er-Jahre als Mitglied und Manager der legendären „Ton Steine Scherben“, die als linke „Agit-Rock-Band“ („Macht kaputt, was euch kaputt macht“) gegründet wurde, auch die Aufgabe übernahm, von West-Berlin aus durch die ganze Bundesrepublik zu fahren, um die Platten der Gruppe in die Geschäfte zu bringen. Bei „Ton Steine Scherben“ (TSS) sang er unter anderem den wütenden „Paul Panzers Blues“ und wurde in der antikapitalistischen Szene 1971 berühmt – und außerhalb dieser berüchtigt – durch seine provokante, gegen die Kommerzialisierung der Kultur gerichtete Axt-Attacke auf einen Tisch während einer Live-Talk-Show im Westdeutschen Fernsehen (WDR). Bis 1980 war Pallat verantwortlich für die Verbreitung der auf dem Eigenlabel David Volksmund veröffentlichten Platten von „Ton Steine Scherben“. Wenige Jahre später startete der früh verstorbene TSS-Frontmann Rio Reiser – nicht ganz freiwillig – eine Solokarriere auf einem Major-Label. Pallat blieb der Aufgabe treu, alternative Vertriebswege für alternative Musik zu eröffnen, zunächst mit der Firma Schneeball, dann mit Efa (Energie für alle) und schließlich, seit 30 Jahren schon, mit Indigo, der Firma, die auch heute noch sämtliche Alben von „Ton Steine Scherben“ verfügbar macht. Der Schwerpunkt von Indigo ist die Verbreitung von CDs und Vinyl. In seiner im März erschienenen Autobiografie schreibt Pallat: „Ein Album zu Hause physisch stehen zu haben, ist für mich auch ein Statement und ein Zeichen der Wertschätzung gegenüber dem Medium Musik und dem Musiker.“* Er ergänzt: „Auf Spotify hört man sich auch meistens nur ein Stück an und selten ein komplettes Album am Stück. Digitale Musik zu hören, ist halt nur ein Durchlauferlebnis.“

*(Nikel Pallat mit Christof Dörr, „Das schillernde Leben des Nikel Pallat“, Hannibal Verlag, 2023, S. 229).

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