Neue Regierungskoalition in Deutschland: Der Fortschritt, den sie meinen

Die Koalition aus SPD, Grünen und FDP will „mehr Fortschritt wagen“. Gesellschaftspolitisch mag das zutreffen, Erwerbslose und Lohnabhängige dürfen allerdings kaum auf eine Verbesserung ihrer wirtschaftlichen Lage hoffen.

Aufschlussreich ist auch, was nicht drin steht: Vertreter*innen der neuen deutschen Bundesregierung und der SPD bei der Vorstellung des Koalitionsvertrags am 24. November in Berlin. 
Von links nach rechts unter Nennung der Ämter, für die sie nominiert worden sind: Christian Lindner (FDP), Finanzminister; Olaf Scholz (SPD), Bundeskanzler; Annalena Baerbock (Die Grünen), Außenministerin; Robert Habeck (Die Grünen), Wirtschafts- und Klimaschutzministerium, Vizekanzler. Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken haben sich bislang den SPD-Vorsitz geteilt, Walter-Borjans macht nun Jüngeren Platz. (Foto: EPA-EFE/Clemens Bilan)

Olaf Scholz (SPD) wählte große Worte. „Uns eint der Glaube an den Fortschritt und daran, dass Politik etwas Gutes bewirken kann“, sagte der designierte deutsche Bundeskanzler salbungsvoll bei der Präsentation des Koalitionsvertrags von SPD, Grünen und FDP im Berliner Westhafen am Mittwoch vergangener Woche. Von einem „Dokument des Mutes und der Zuversicht“ sprach der Grünen-Co-Vorsitzende Robert Habeck. Auch der FDP-Vorsitzende Christian Lindner zeigte sich begeistert: „Wir haben außerordentlich ambitionierte Vorhaben.“

Die Koalitionäre geben sich Mühe, große Zufriedenheit auszustrahlen. Doch allzu hohe Erwartungen an die künftige Regierung wären fehl am Platz. Die wohl am ehesten als ignorant zu bezeichnende Haltung zur Covid-19-Pandemie, die den parlamentarischen Auftakt der neuen Koalition kennzeichnet, lässt nichts Gutes erahnen. Und sie weckt Erinnerungen an die desaströse Regierungszeit von Gerhard Schröder (SPD).

„Aufbruch und Erneuerung“ versprach nämlich auch die 1998 angetretene Koalition von Sozialdemokraten und Grünen. „Ein neuer Aufbruch für Europa. Eine neue Dynamik für Deutschland. Ein neuer Zusammenhalt für unser Land“, war der Koalitionsvertrag der scheidenden Regierung aus Unionsparteien und SPD 2018 betitelt.

Nun also heißt es: „Mehr Fortschritt wagen“. Das trifft für die gesellschaftspolitischen Vorhaben zu. Um nur einige zu erwähnen: Das deutsche Staatsangehörigkeitsrecht zu modernisieren, ist längst überfällig. Das gilt auch für die Streichung des Paragraphen 219a, also des faktischen Verbots, über das Angebot von Abtreibungen zu informieren, und für die Abschaffung des Blutspendeverbots für Männer, die Sex mit Männern haben (zur Situation in Luxemburg siehe unseren Artikel in dieser Ausgabe der woxx).

Dass ein Kind, das in eine lesbische Ehe geboren wird, nach dem Willen der Koalitionäre automatisch zwei rechtliche Mütter haben wird, ist ebenso ein Fortschritt wie die Ersetzung des bisher geltenden Transsexuellengesetzes durch ein Selbstbestimmungsgesetz. Cannabis zu legalisieren, war ebenfalls überfällig. Weniger fortschrittlich hingegen ist die „Rückführungsoffensive“, deren Ziel es ist, Menschen ohne Bleiberecht wieder außer Landes zu bringen.

Gesellschaftspolitisch progressiv, klimapolitisch vollmundig, sozial fragwürdig – so lässt sich zusammenfassen, was SPD, Grüne und die liberale FDP vereinbart haben. Herausgekommen ist ein Vertrag, der keinem wehtun will und vieles in Aussicht stellt. Der Text bestehe „zu 90 Prozent aus Phrasengeblubber, das direkt aus einem Management-Seminar für Marketingfachleute stammen könnte“, schreibt Wolfgang Michal in der deutschen Wochenzeitung „Freitag“ und registriert eine „sonderbare Gier, jede popelige Detailregelung im Koalitionsvertrag mit der Aura der Modernisierung zu umgeben“.

Gesellschaftspolitisch progressiv, klimapolitisch vollmundig, sozial fragwürdig – so lässt sich zusammenfassen, was SPD, Grüne und FDP vereinbart haben.

Auf 177 Seiten wollen SPD, Grüne und FDP stolze 239 Mal etwas „stärken“, zum Beispiel den „gesellschaftlichen Zusammenhalt“, die Demokratie, die gesetzliche Rente, die Tarifbindung, die Digitalkompetenz, den Schiffsbau, die Abfallvermeidung, den Ausbau hebammengeleiteter Kreißsäle oder auch den „Games-Standort Deutschland“. Hinzu kommt vieles, was die drei Parteien fördern (91 Mal), weiterentwickeln (52), beschleunigen (37), vereinfachen (23) oder modernisieren (22) wollen. Etliches wollen sie allerdings auch nur prüfen (59), beispielsweise ob es unterbunden werden kann, Lebensmittel zu einem Preis unter den Produktionskosten zu verkaufen – was also wohl nicht geschehen wird, denn Prüfaufträge zeigen an, dass sich die Koalitionspartner bei etwas nicht einig sind.

Ebenso eher unter Politprosa verbuchen lassen sich Willensbekundungen, die nicht mit konkreten Umsetzungsvorschlägen verbunden sind. Ob sie verwirklicht werden, hängt entscheidend davon ab, wer in der Regierung für sie die Verantwortung trägt. Ein Beispiel ist die Verkehrspolitik. „Wir wollen die 2020er Jahre zu einem Aufbruch in der Mobilitätspolitik nutzen und eine nachhaltige, effiziente, barrierefreie, intelligente, innovative und für alle bezahlbare Mobilität ermöglichen“, ist zu lesen. Erheblich mehr wolle man „in die Schiene als in die Straße investieren“.

Das klingt gut. Aber wird es substanzielle Veränderungen in der Verkehrspolitik geben? Eher nicht, denn wider Erwarten geht das zuständige Ressort nicht an die Grünen, sondern an die FDP. Bereits vor Amtsantritt hat der designierte Minister für Verkehr und Digitales, Volker Wissing, keinen Zweifel daran gelassen, dass er sich als Anwalt der Autofahrer versteht. Der noch amtierende Verkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) zeigte sich im Gespräch mit der „Deutschen Presseagentur“ daher auch zufrieden: „Schön, dass die Ampel meine Arbeit der letzten Jahre fortsetzt.“

Der Koalitionsvertrag ist kein rechtsverbindliches Dokument, sondern nur eine Absichtserklärung. SPD und Grüne vereinbarten 1998 in ihrem ersten Koalitionsvertrag, „einem Auseinanderdriften der Gesellschaft in Arm und Reich durch eine gerechte und solidarische Verteilung von Leistungen und Lasten entgegenwirken“ zu wollen. Tatsächlich ist die soziale Ungleichheit in den rot-grünen Regierungsjahren stark gewachsen.

Zur Wiedervorlage hat es die Absicht geschafft, Mehrfachstaatsangehörigkeiten zu erlauben. Das hatten SPD und Grüne bereits 1998 vereinbart, scheiterten damit jedoch an einer fehlenden Bundesratsmehrheit. Ob SPD, Grüne und FDP erfolgreicher sein werden, ist offen. Das gilt übrigens für alle Gesetzesvorhaben, die der Zustimmung des Bundesrates bedürfen. Denn dort kann die neue Koalition auf so wenige Stimmen bauen wie noch nie eine bundesdeutsche Regierung zuvor. Mit Hamburg und Rheinland-Pfalz gibt es nur zwei Landesregierungen, in denen nicht eine andere Partei blockieren kann. Das ergibt 7 von 69 Stimmen. Falls die Linkspartei überzeugt werden kann, kämen noch 14 Stimmen hinzu. Auch das würde noch nicht reichen.

Die fehlende Bundesratsmehrheit relativiert die Bedeutung dessen, dass der FDP zuliebe im Koalitionsvertrag nichts übrig geblieben ist von den Wahlversprechen von SPD und Grünen, die Inhaber großer Vermögen stärker zur Kasse zu bitten. Mittels der Wiedereinführung der seit 1997 ausgesetzten Vermögenssteuer, eines höheren Spitzensatzes bei der Einkommensteuer sowie einer Reform der Erbschaftsteuer hatte man das im Wahlkampf zu erreichen versprochen. Bitter ist, dass es SPD und Grünen offenbar an Motivation gefehlt hat, gegen die FDP wenigstens eine Verbesserung der Lebensverhältnisse für jenen Teil der Gesellschaft durchzusetzen, der auf staatliche Unterstützung angewiesen ist. Statt auf eine Erhöhung des Regelsatzes beim „Arbeitslosengeld II“, umgangssprachlich „Hartz IV“ genannt, können sich Empfänger von Leistungen der früher als „Sozialhilfe“ bezeichneten Grundsicherung darauf freuen, dass Hartz IV demnächst „Bürgergeld“ heißen wird.

Die Koalition aus SPD, Grünen und FDP ist die Wunschkonstellation von Scholz, auch wenn oder gerade weil sich mit einer Regierungsbeteiligung der FDP zentrale Elemente des SPD-Wahlprogramms nicht vereinbaren lassen. Denn das trägt dank des Einflusses von Norbert Walter-Borjans, Saskia Esken und Kevin Kühnert eine eher linke Handschrift, die nicht zu Scholz passt. Das Programm war ihm zwar im Wahlkampf nützlich, beim Regieren jedoch scheint es ihm hinderlich. Das gilt nicht nur für die Vermögensteuer, sondern auch für etliche weniger symbolträchtige Maßnahmen, die die Kluft zwischen Armen und Reichen verringern würden. Nur zwei Beispiele: „Die steuerliche Abzugsfähigkeit von Manager*innengehältern werden wir begrenzen, und zwar auf das 15-fache des Durchschnittseinkommens der Beschäftigten in dem Betrieb, in dem die Manager*in beschäftigt ist“, ist im SPD-Wahlprogramm zu lesen. Und auch das: „Leiharbeiter*innen werden ab dem ersten Tag den gleichen Lohn erhalten wie Festangestellte.“ Beides hat es nicht in den Koalitionsvertrag geschafft.

Gäbe es zumindest rechnerisch eine Mehrheit links von Rot-Grün-Gelb, wäre es Scholz schwerer gefallen zu erklären, warum eine von ihm geführte Regierung auf alles verzichten sollte, was Kapitalinteressen zuwiderlaufen könnte. Die Schwäche der Linkspartei hat es ihm erspart, in solche Rechtfertigungsnöte zu geraten.

Es bedarf nicht des Wahlprogramms der Linkspartei als Referenz, sondern es reicht der Blick auf jenes der SPD, um zu erkennen, wie kümmerlich der Koalitionsvertrag dort ausfällt, wo abhängig Beschäftigte auf eine Verbesserung ihrer Situation hätten hoffen können. Daran ändert auch die längst überfällige Erhöhung des allgemeinen gesetzlichen Mindestlohns auf zwölf Euro pro Stunde nicht viel – zumal es die Ankündigung der SPD, die Spielräume der Mindestlohnkommission für künftige Erhöhungen auszuweiten, ebenfalls nicht in den Koalitionsvertrag geschafft hat.

Interessant ist also nicht nur, was in dem Vertrag steht, sondern fast noch interessanter ist das, was nicht drinsteht.

Pascal Beucker ist Redakteur im Inlandsressort der in Berlin erscheinenden Tageszeitung „taz“.

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