Nicaragua: Die Revolution inhaftiert ihre Kinder

In Nicaragua hat Präsident Daniel Ortega den Staat in ein Instrument der Diktatur verwandelt und ihm die Gesellschaft unterworfen. Ein Massenexodus und die schlechte wirtschaftliche Situation machen dem Regime zu schaffen.

Das Fundament seiner Herrschaft bröckelt: Nicaraguas Präsident 
Daniel Ortega während der Feierlichkeiten zum 43. Jahrestag 
der sandinistischen Revolution am 19. Juli 2022 in Managua. (Foto: EPA-EFE/Jorge Torres)

Kämpferisch zog die kleine Gruppe nicaraguanischer Frauen durch die Straßen. „Freiheit, Freiheit für die Kämpferinnen in Gefangenschaft“ skandierten sie lautstark Ende November. Am Internationalen Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen wollten die Demonstrantinnen auf die Missstände bei Frauenrechten in Nicaragua und auf 22 als politisch Gefangene geltende Frauen aufmerksam machen. Doch weder die Inhaftierten noch ihre Gefängniswärter konnten die Demonstration sehen oder hören. Denn die Demonstrantinnen zogen durch die Straßen von San José, der Hauptstadt des südlichen Nachbarlands Costa Rica.

Die Repression hat in Nicaragua ein solches Ausmaß erreicht, dass eine derartige Kundgebung dort mittlerweile undenkbar ist. Präsident Daniel Ortega hat seit dem Wahlsieg von 2006 und der Amtsübernahme Anfang 2007 mit seiner Partei „Frente Sandinista de Liberación Nacional“ (FSLN) langsam, aber stetig Staat und Gesellschaft in Nicaragua autoritär umgeformt. Seit der blutigen Niederschlagung der Massenproteste 2018 mit mindestens 328 Toten, die sich an Regierungsplänen für eine Rentenreform entzündeten und gegen Ortegas autoritären Führungsstil gerichtet waren, agiert das Regime unverhohlen diktatorisch.

Auf traurige Art und Weise gleichen sich seither die Nachrichten, die aus Nicaragua die Welt erreichen. So sind im November 100 weitere Nichtregierungsorganisationen verboten worden. Die Gesamtzahl der zumeist wegen „umstürzlerischer Aktivitäten“ oder „Landesverrat“ verbotenen Organisationen beläuft sich mittlerweile auf über 3.000. Immer wieder werden Oppositionelle verhaftet, Menschenrechtsorganisationen sprechen von 220 politischen Gefangenen, darunter Journalisten, Politikerinnen und ehemalige Weggefährten Ortegas. Ende November traf es den Soziologen Oscar René Vargas. Um seine schwer erkrankte Schwester zu besuchen, war er aus seinem Exil in Costa Rica in die nicaraguanische Hauptstadt Managua gereist. Zehn Minuten soll sich der 76-jährige bei seiner Schwester aufgehalten haben, ehe er verhaftet und verschleppt wurde.

1979 hatte die linke FSLN nach Jahren des Guerillakriegs die Somoza-Dynastie gestürzt, deren Angehörige seit 1934 den Präsidenten stellten, zuletzt den Diktator Anastasio Somoza Debayle, und machte Nicaragua zum Hoffnungsträger von Linken in aller Welt. Vargas beriet die von Daniel Ortega geführte revolutionäre Regierung bis zu ihrer Abwahl 1990. Nun zählt er zu den ehemaligen Kampfgefährt*innen Ortegas, die wegen Kritik an dessen autoritärer, kleptokratischer und wirtschaftsliberaler Politik in Nicaragua in Haft sitzen.

Nach internationalem Druck gaben die Behörden des Landes bekannt, dass Vargas wegen „Verschwörung zur Untergrabung der nationalen Integrität“ im berüchtigten Foltergefängnis El Chipote sitzt. Im Februar verstarb dort Hugo Torres Jiménez, der „Comandante Uno“ aus der Kampfzeit der FSLN. Von den El-Chipote-Insassen spricht Präsident Ortega öffentlich als „Schlampensöhnen des Yankee-Imperialismus“.

Wann genau die Transformation Nicaraguas in eine Diktatur ihren Abschluss gefunden hat, ist schwer zu bestimmen, doch die politische Kontrolle ist mittlerweile total. Am 6. November ließ das Regime Kommunalwahlen abhalten, bei denen der Interamerikanischen Kommission für Menschenrechte zufolge „die notwendigen Mindestbedingungen“ für freie Wahlen nicht gewahrt wurden. Bei ihnen verlor die Opposition die letzten neun der 153 Gemeinden des Lands, die sie bis dahin noch gehalten hatte, an die FSLN, die praktisch zur Staatspartei geworden ist: Die Wahlbehörden sprachen ihr einen Stimmenanteil von 74 Prozent zu.

Während öffentliche oder organisierte Opposition in Nicaragua nicht mehr möglich ist, steigt die Zahl der Auswandernden erheblich an. Seit 2018 haben rund eine halbe Million der circa 6,8 Millionen Einwohner das Land verlassen. Schätzungen gehen davon aus, dass es derzeit rund 1.000 Menschen täglich sind, von denen es die meisten nach Costa Rica zieht. Das südliche Nachbarland ist eines der wohlhabendsten Länder Lateinamerikas und hat liberale Einwanderungs- und Asylgesetze. Die Hauptstadt San José hat sich in den vergangenen Jahren zum Zentrum der nicaraguanischen Exilopposition entwickelt. Als billige Arbeitskräfte auf Baustellen, Plantagen und in Haushalten waren die nördlichen Nachbarn in der Vergangenheit in Costa Rica gefragt. Nach verschiedenen Schätzungen sind weniger als zehn Prozent der costa-ricanischen Bevölkerung nicaraguanischen Ursprungs, aber tatsächlich dürfte der Anteil wegen der vielen Nicaraguaner*innen ohne Aufenthaltstitel deutlich höher liegen.

Immer wieder werden Oppositionelle verhaftet, Menschenrechts-
organisationen sprechen von 220 politischen Gefangenen, darunter Journalisten, Politikerinnen und ehemalige Weggefährten Ortegas.

Costa Rica befindet sich allerdings seit Jahren in einer schweren Wirtschaftskrise, die durch die Covid-19-Pandenie verschärft wurde. Selbst Billiglöhner*innen finden kaum noch Arbeit. Deshalb nehmen immer mehr Menschen den langen und beschwerlichen Landweg in Richtung USA auf sich. Nach Angaben des „Bureau of Customs and Border Protection“ wurden zwischen Januar und September rund 126.300 Nicaraguaner*innen wegen irregulärer Migration an der US-Grenze verhaftet, fast doppelt so viele wie 2021. Sie stellen mit sechs Prozent immer noch eine recht kleine Gruppe unter den Migranten dar, noch vor wenigen Jahren machten Nicaraguaner*innen sich jedoch so gut wie gar nicht bis zur Grenze zwischen den USA und Mexiko auf den Weg.

Das Fundament des Regimes bröckelt immer deutlicher, gleich mit welch harter Hand es regiert. Trotz überdurchschnittlichen Wirtschaftswachstums und einer bedeutsamen Reduktion der Armutsquote zu Beginn von Ortegas erneuter Präsidentschaft ist Nicaragua nach wie vor das zweitärmste Land des amerikanischen Kontinents. Nach den Massenprotesten befand sich die Wirtschaft im freien Fall. Der „Zentralamerikanische Währungsrat“ (CMCA) hat nun bekanntgegeben, dass die Inflationsrate im November über zwölf Prozent lag, das ist der höchste Wert in Mittelamerika.

Die wirtschaftliche Bedeutung der Überweisungen von Nicaraguaner-
*innen im Ausland nimmt stetig zu. Sie übersteigen 2022 mit knapp drei Milliarden US-Dollar die Höhe des Staatshaushalts von 2021. Der US-amerikanische Think Tank „Inter-American Dialogue“ schätzt, dass mehr als die Hälfte der 1,6 Millionen nicaraguanischen Haushalte dieses Jahr Überweisungen von Familienmitgliedern aus dem Ausland erhält. Das unabhängige linke Blog „Havana Times“ zitiert einen in die USA geflohenen Nicaraguaner: „Ich sehe, dass das Regime Migration und Auswanderung als Einkommensquelle nutzt.“ Die Überweisungen helfen dem Regime, indem sie den Binnenkonsum stabilisieren und Steuergelder in die Staatskasse und somit den Repressionsapparat spülen.

Der Soziologe Vargas hatte wenige Tage vor seiner Verhaftung eine Analyse des Landesberichts des Internationalen Währungsfonds für Nicaragua veröffentlicht. Die Regierung habe Entlassungen und Lohnkürzungen im öffentlichen Dienst, Steuererhöhungen und Senkungen der Sozialausgaben angekündigt. Das bedeute „höhere Arbeitslosigkeit, mehr Auswanderung, Kaufkraftverluste, Mangelernährung, Hunger und mehr Unzufriedenheit“, so Vargas, also „den Keim einer erneuten Massenerhebung und/oder den Beginn eines Prozesses der selbst herbeigeführten Implosion“.

Ob es dazu kommt, dürfte auch von internationaler Unterstützung abhängen. Die EU und die USA haben nach 2018 Sanktionen gegen das Land verhängt und sie im Oktober verschärft. Für die lateinamerikanische Rechte ist Nicaragua ohnehin ein Paradebeispiel einer „kommunistischen Diktatur“. Unter der großen Mehrheit der linken Parteien in Lateinamerika, insbesondere solcher mit Regierungsmacht, galt es, trotz aller Differenzen stets in Solidarität gegen den gemeinsamen Feind USA zueinanderzustehen. Doch die Loyalität ist keineswegs mehr unverbrüchlich. Während eines Staatsbesuchs in Mexiko erneuerte Chiles linker Präsident Gabriel Boric Ende November seine bereits in der Vergangenheit an Nicaragua geübte Kritik. Bei Menschenrechtsverletzungen in Lateinamerika oder den „politischen Gefangenen in Nicaragua“ dürfe man „nicht wegschauen“.

Anfang Dezember veröffentlichte die renommierte linke mexikanische Tageszeitung „La Jornada“ einen bemerkenswerten Kommentar des uruguayischen Schriftstellers und Journalisten Raúl Zibechi über das Verhältnis der lateinamerikanischen Linken zu Nicaragua. „Die Obsession für die Macht, sich an die Kontrolle des Staates zu klammern, Repression gegen die Dissidenz und ein Fehlen der Selbstkritik“ verbinde die derzeitigen linken Regierungen mit dem Stalinismus. Wo das Nicaragua des Ortega-Regimes steht, wurde zuletzt auch bei den Abstimmungen der Generalversammlung der Vereinten Nationen deutlich. Es war – neben Russland, Belarus, Nordkorea und Syrien – eines der fünf Länder, die gegen eine Verurteilung der russischen Invasion der Ukraine stimmten.

René Thannhäuser ist Soziologe und arbeitet als freier Journalist.

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