Niederlande: Vorreiter der Regression


Was zum europäischen Schicksalsjahr werden könnte, beginnt in den Niederlanden. Mitte März könnte Geert Wilders’ „Partij voor de Vrijheid“ dort bei den Parlamentswahlen vollenden, was mit dem vor 15 Jahren ermordeten Pim Fortuyn einst seinen Anfang genommen hat.

Jedem sein Populismus: Selçuk Öztürk (links) und Tunahan Kuzu (rechts) von der niederländischen DENK-Partei stehen der Partei AKP des türkischen Präsidenten Erdoğan nahe. (Foto: EPA/Bart Maat)

Als sich der Publizist Pim Fortuyn 2002 anschickte, die niederländische Politik aufzumischen, war man im Rest Europas verwundert bis schockiert: Scheinbar aus dem Nichts erschien da ein schwuler Dandy und avancierte mit markigen Sprüchen gegen Multikulti und Islamisierung vor den Parlamentswahlen zum aussichtsreichsten Kandidaten.

Die Wahlen jedoch sollte Fortuyn nicht mehr erleben: Er wurde von einem militanten Tierschützer ermordet. Fortuyn war der erste Vertreter einer neuen Welle rechter Politiker, denen nicht mehr der Geruch von Springerstiefeln und Wehrmachtsgedenken anhing. Damit wurden sie für den elektoralen Mainstream kompatibel. Weshalb all dies ausgerechnet in den Niederlanden geschehen war, dem vermeintlichen Sinnbild von Toleranz und Multikulturalität, darauf konnte man sich in Europa keinen Reim machen.

Anderthalb Jahrzehnte später stehen dem Land am 15. März erneut Parlamentswahlen bevor. Und wiederum haben Rechtspopulisten Chancen auf einen Wahlerfolg: Geert Wilders, der umstrittene Chef der „Partij voor de Vrijheid“ (PVV), hatte laut einigen Umfragen gegenüber seinen Konkurrenten für eine Weile sogar die Nase vorn. Mittlerweile ist die Partei jedoch in der Wählergunst wieder etwas abgerutscht.

Nach der Ermordung Fortuyns schwangen sich Wilders und seine damals neugegründete PVV 2006 zu politischen Nachlassverwaltern des exzentrischen Politikers auf. 2017 könnte die Partei Fortuyns Ambitionen auf einen Wahlsieg einlösen – dann wären die Niederlande das erste Land Westeuropas, in dem eine rechtspopulistische Partei bei einer Wahl die meisten Stimmen erhält. Zehn Tage vor der Wahl liegt sie nun hauchdünn (24 der 150 Parlaments- Sitze) hinter der marktliberalen „Volkspartij voor Vrijheid en Democratie“ (VVD, 25 Sitze) von Premier Mark Rutte.

Der Höhenflug der Partei begann im Herbst 2015. Nicht zufällig ist dies die Zeit, in der auch in Deutschland die Stimmung in Sachen Flüchtlingsaufnahme umschlug. Die überschwängliche Periode der „Willkommenskultur“ hatte man in den Niederlanden ohnehin ausfallen lassen. Stattdessen verlief die hiesige Diskussion von Beginn an äußerst hitzig. An zahlreichen Orten kam es zu teils gewalttätigen Protesten gegen Flüchtlingsheime, begleitet von Wilders‘ Twitter-Parole „Grenzen Dicht!“ und seinem Appell „Leistet Widerstand!“ – friedlich, wohlgemerkt.

All dies geschah ungeachtet der Tatsache, dass sich das politische Establishment scheinbar eher konsolidiert. Das scheidende Kabinett unter Mark Rutte, das aus dessen VVD und der sozialdemokratischen PvdA besteht, ist das erste seit 20 Jahren, das eine volle Legislaturperiode überdauert hat. Auch die wirtschaftlichen Kern-Daten sind positiv: das jährliche Wachstum liegt seit 2015 konstant bei knapp zwei Prozent, die Arbeitslosigkeit sinkt (aktuell unter sechs Prozent), der Haushalt verzeichnet ein Plus, und das Konsumentenvertrauen ist so hoch wie seit fast zehn Jahren nicht mehr.

All dies waren auch die zentralen Themen bei den letzten Wahlen 2012, die geprägt waren von Eurokrise und Schuldendiskurs. Die brennenden Fragen der ersten Milleniums-Jahre – Immigration, Integration, Islam – waren auffällig abwesend. Fälschlicherweise glaubten damals viele an eine Entzauberung der Rechtspopulisten. Aus heutiger Sicht mutet diese Einschätzung geradezu naiv an.

Im Jahr 2012 hatte die PVV nicht an die dominierenden Debatten anzudocken vermocht. Der heutige Diskurs dagegen spielt ihr in die Karten. So sehr, dass es ihr bislang nicht einmal zum Nachteil gereicht, dass ihr Wahlprogramm „auf eine Din A4-Seite passt“, wie man stolz vermeldet. „Die Niederlande wieder unser“, so lautet der Titel. Die Agenda umfasst Punkte wie „Null Asylsuchende dazu und keine Immigranten mehr aus islamischen Ländern“, oder „Die Niederlande wieder unabhängig. Also raus aus der EU“. Der Koran soll verboten, Moscheen und islamische Schulen geschlossen werden.

Die überschwängliche Periode der „Willkommenskultur“ hatte man in den Niederlanden ohnehin ausfallen lassen.

Dies ist jedoch nur die eine Seite. Seit ihrer Gründung setzt die PVV neben dem knallharten Kurs bei Zuwanderung und Sicherheit zugleich auf ein mitfühlendes, soziales Profil. 2017 will man die Rentenalter-Erhöhung ebenso rückgängig machen wie die Einschnitte der aktuellen Regierung im Pflege- und Altenbereich, zudem will man die Mieten senken und die obligatorische Eigenbeteiligung an der Krankenversicherung abschaffen.

Diese Programmatik dokumentiert auch Wilders‘ Abkehr vom neoliberalen Kurs seiner früheren Partei VVD. 2004 hatte er diese nach einem Konflikt über die mögliche EU-Mitgliedschaft der Türkei verlassen. Nie war die PVV der bloße Anti-Islam-Verein, der nur ein Thema kennt und als der sie international häufig wahrgenommen wird. Wenn PVV-Wähler über die Gründe ihrer Stimmvergabe sprechen, kommen die Aspekte Identität, Zuwanderung und Soziales in der Regel gleichwertig zur Sprache.

Ob die Partei tatsächlich die Wahlen gewinnen kann, hängt vor allem von der Frage ab, wie häufig die Sympathie für die PVV auch bis in die Wahlkabine reicht. Das Phänomen, im letzten Moment umzudenken und lieber eine traditionelle Partei zu wählen, hat die PVV schon mehrfach den Anschluss an die Umfragen gekostet. Durchaus möglich ist indes, dass die internationale populistische Welle die Diskrepanz zwischen Umfragen und Urne diesmal überwinden hilft.

Dann wäre die Frage, wie die PVV von der Wahlsiegerin zur Regierungspartei werden kann, und ob das überhaupt möglich ist. Parteichef und Spitzenkandidat Geert Wilders lässt keinen Zweifel daran, dass er Premierminister werden will. Bereits Ende 2016 hatte er in einem Interview mit der Boulevardzeitung „Telegraaf“ ankündigt, dass er „klar Schiff machen“ will: „Damit wir wieder Herr im eigenen Land werden und dem Tsunami an Ausländern, die hier nicht hingehören, ein Ende bereiten.“

Doch just wegen solcher Inhalte haben alle relevanten Parteien bereits lange vor den Wahlen eine Koalition mit der PVV ausgeschlossen – zuletzt auch der anfangs zögerliche Premierminister Rutte, der auf der VVD-Liste erneut ganz oben steht. Sein Abwarten war dem rechten VVD-Flügel geschuldet, der durchaus inhaltliche Nähe zur PVV aufweist, diese allerdings rhetorisch anders verpackt. Andererseits hat Rutte das jähe Ende seiner vorigen Amtsperiode von 2012 noch in Erinnerung: damals stürzte seine Minderheits-Regierung, als Wilders ihr die Unterstützung entzog.

Eine Regierung ohne die Rechtspopulisten ist also wahrscheinlich, wobei sie wohl mindestens einer Koalition aus drei Parteien bedarf. Was wiederum an der Zerklüftung der Parteienlandschaft in den Niederlanden liegt, begünstigt durch die Stimmhürde von lediglich 0,67 Prozent zum Eintritt ins Parlament. Die aktuelle „Tweede Kamer“ besteht aus 18 Fraktionen, darunter elf Parteien, aber auch Ein- und Zwei-Personen-Fraktionen.

Letztere entstanden durchweg aus Abspaltungen, was ebenso von der Krise der etablierten Politik zeugt wie die zahlreichen Neugründungen der jüngeren Zeit. Diese beklagen oft eine Kluft zwischen „den Bürgern“ und „Den Haag“, wo die Regierung sitzt. Besonders deutlich wird dies beim „Forum voor Democratie (FvD) und „Geen Peil“, die direkt aus dem Referendum über den – abgelehnten – EU-Ukraine-Vertrag 2016 hervorgegangen sind. Auch Jan Roos, der Spitzenkandidat der neuen rechten Partei „Voor Nederland“ (VNL) hatte zu den Initiatoren des Referendums gehört.

Aus ganz anderen Gründen verspricht das Abschneiden der neuen Partei „DENK“ interessant zu werden. Sie wurde 2015 von Selçuk Öztürk und Tunahan Kuzu gegründet, nachdem sie im Jahr zuvor aus der sozialdemokratischen Fraktion geflogen waren. Die beiden Politiker hatten einen kritischen Kurs gegenüber konservativen türkischen Organisationen wie „Milli Görus“ und der staatlichen Religionsbehörde „Diyanet“ abgelehnt.

Für internationale Medien ist DENK ein durchaus attraktives Projekt, dem man gerne die Bezeichnung „Migrantenpartei“ anhängt. Das explizite Bekenntnis zu Emanzipation und Diversität in Abgrenzung von „Rechtsruck und Verhärtung der Gesellschaft“ lässt die selbsterklärte „politische Bewegung“ für manche als Gegenpol zur PVV erscheinen. Doch die beiden Schlüsselfiguren Öztürk und Kuzu fallen durch ihre Nähe zur türkischen Regierungspartei AKP auf.

Von Kuzu gibt es auch Video-Aufnahmen, wie er 2015 auf einer Demonstration in Rotterdam spicht, bei der Symbole der faschistischen „Graue Wölfe“ zu sehen sind. Der linke niederländische Publizist Mehmet Kirmaci wirft den DENK-Gründern vor, „bei jeder Kritik an Ankara die höchstmöglichen Verteidigungsmauern hochzuziehen”.

Deutlich ist indes: Ein Erfolg von DENK dürfte die Ethnisierung des Wahlverhaltens forcieren und Nachahmer in anderen Ländern Europas finden. Womit die Niederlande einmal mehr zum Vorreiter würden.

Tobias Müller berichtet für die woxx vor allem aus Belgien und den Niederlanden.

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