NS-Funktionär auf der Flucht: „I was a very happy Nazi”

„Die Rattenlinie“ – so wurde die Fluchtroute ehemaliger Nationalsozialisten genannt, die sich nach 1945 über den Vatikan in Richtung Südamerika absetzten. Auch der NS-Gouverneur Otto Wächter machte sich auf diesen Weg. Philippe Sands begibt sich in seinem neuen Buch auf dessen Spuren. Ihm gelingt nicht nur das Porträt eines flüchtigen Verbrechers, sondern auch eine Abhandlung über Vergangenheitsbewältigung.

Der Autor, Universitätsprofessor und Menschenrechtsanwalt Philippe Sands rekonstruiert das Leben, die Flucht und den rätselhaften Tod des 
NS-Gouverneurs Otto Wächter, der maßgeblich mitverantwortlich für die Ermordung eines Großteils von Sands’ Familie war. (Foto: Antonio Zazueta Olmos)

Philippe Sands Buch beginnt mit dem Ende: Im Juli 1949 stirbt der Österreicher Otto Wächter in Rom, ohne seine Familie und unter falschem Namen, an einer Infektion, deren Ursprung sich nicht recht aufklären lässt. Damit endet ein vierjähriges Versteckspiel, die Hoffnung auf ein neues Leben in Südamerika zerschlägt sich.

Von diesem Punkt aus macht Sands sich auf Spurensuche. Wer war Otto Wächter? Weshalb musste er untertauchen und wie ist ihm dies gelungen? Zum Stoff seiner nicht-fiktiven Erzählung hat der Autor einen persönlichen Bezug: Während der nationalsozialistischen Herrschaft über weite Teile Europas war Wächter zunächst Gouverneur von Krakau und später von ganz Galizien, und als solcher auch verantwortlich für die Stadt Lemberg, in der Sands Familie angesiedelt war. Deren Mitglieder wurden als Juden verfolgt und fast vollständig ausgelöscht.

Der 1960 geborene Sands ist Anwalt und Professor für Internationales Recht und Direktor des „Centre on International Courts and Tribunals“ am University College London. Der engagierte Menschenrechtler formulierte unter anderem die Anklage gegen den chilenischen Diktator Pinochet. Seine eigene Familiengeschichte behandelte er bereits in seinem mehrfach preisgekrönten Buch „Rückkehr nach Lemberg”, das 2018 auf Deutsch erschienen ist.

Die Recherche für Sands‘ aktuelles Buch wurde nicht zuletzt durch Wächters jüngsten Sohn Horst ermöglicht. 1939 geboren, kann er sich zwar kaum an seinen Vater erinnern, verfügt aber über ausführliches Archivmaterial, das er Sands zur Verfügung stellt. Während Sands anhand der umfangreichen Archive versucht, den Sohn von der Schuld des Vaters zu überzeugen, sieht Horst Wächter in der gemeinsamen Recherche vor allem eine Chance, seinen Vater zu rehabilitieren. Dieses Ringen um Deutung zieht sich als roter Faden durch den Text, der nicht chronologisch erzählt wird, sondern in einem Wechselspiel aus historischen Rückblenden und der Aufarbeitung im Hier und Jetzt.

Der Untertitel des Buches lautet „Ein Nazi auf der Flucht”, auf dem Coverfoto sind jedoch zwei Personen abgebildet: Wächter und seine Frau Charlotte, die ihm während ihrer Ehe, seiner Flucht und sogar über den Tod hinaus zumindest symbolisch die Treue hielt. Es sind vor allem Charlottes ausführliche Tagebucheinträge, die Briefe, die sie aufbewahrte sowie spätere Tonbandaufnahmen, welche sie für ihre Kinder anfertigte, auf denen „Die Rattenlinie” fußt.

Otto Gustav Wächter wird am 8. Juli 1901 in Wien geboren. Sein Vater ist ein überzeugter Monarchist und Offizier. Er studiert Jura und gehört 1923 zu den ersten Anhängern der „Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei“. Sands charakterisiert ihn als „antimarxistisch, antisemitisch und ehrgeizig”. Beim Skifahren lernt Otto Charlotte Bleckmann kennen, die aus einer wohlhabenden Stahlproduzentenfamilie stammt. Die damals noch unpolitische junge Frau findet Gefallen an dem Mann, den sie in ihren Aufzeichnungen als „feine und vornehme Erscheinung” beschreibt. 1931 tritt sie ebenfalls in die Partei ein. Während Charlotte einen Heiratsantrag erwartet, hält sich Otto alle Optionen offen, fasst sich erst ein Herz, als Charlotte ein Kind von ihm erwartet. Über den Tag ihrer Vermählung schreibt Charlotte: „Ich konnte das Ende kaum erwarten. Eine Fliege saß mir am Arm & juckte.”

1934 beteiligt sich Otto am gescheiterten Putsch gegen den österreichischen Kanzler Dollfuss und muss untertauchen. Es ist seine erste Flucht. Charlotte bleibt mit den Kindern alleine zurück, während Otto in Deutschland Karriere bei der „SS“ macht. 1938, nach dem Anschluss, kehrt er nach Österreich zurück. Otto und Charlotte werden zu einem „glamourösen Paar”. Sie beziehen eine Villa, die ihren jüdischen Eigentümern enteignet worden ist und reißen sich jüdischen Kunstbesitz unter den Nagel. Otto ist mit Säuberungsaktionen beauftragt, wozu auch die Entlassung einiger Professoren zählt, bei denen er einst studiert hat. Sie werden später deportiert und umgebracht.

Horst Wächter bleibt trotz erdrückender Beweise bei der Überzeugung, sein Vater sei nur deshalb Teil eines „verbrecherischen Systems” gewesen, um dieses von innen zu verändern.

1939 kommt Otto nach Krakau und baut dort das Ghetto auf, in dem die jüdische Bevölkerung interniert werden soll, was sein Vorgänger bisher versäumt hatte. „Ich musste heute wieder 50 Polen erschießen lassen”, notiert er. 75 Jahre später versucht der Sohn Horst den Satz umzudeuten, so als habe sein Vater den Befehl widerwillig ausgeführt. Otto äußert sich in seinen Briefen und Notizen nur selten und sehr spärlich zu den „Judenaktionen”. Anders als Charlotte, die keinen Hehl aus ihrem Antisemitismus macht: „Wenn nur diese Juden nicht immer dahinter stehen würden, die alles verpesten.” Sands lässt die Auszüge aus Ottos Korrespondenz unkommentiert, sie sprechen allerdings für sich: „Juden werden in steigender Masse ausgesiedelt und das Mehl für den Tennisplatz ist schwer zu kriegen.” Im Frühjahr 1943 ist der Dis-
trikt Galizien laut Otto „judenfrei”.

Sands gibt sehr detaillierte Einblick in das Leben der Wächters, er weckt jedoch niemals Sympathien für das Paar. Als Ottos Vater den Sohn bittet, ein jüdisches Kind zu retten, lehnt dieser ab mit dem Argument: „Gesetz ist Gesetz”. Im Privatleben hingegen ist Otto weniger prinzipientreu: Er unterhält gleichzeitig mehrere Affären. Charlotte schwärmt derweil für Ottos Vorgesetzten Hans Frank. „Seine Luft eingeatmet. (…) Ich bin so verliebt (…).” Während in Polen Juden deportiert und umgebracht werden, finden die Wächters noch genügend Zeit, ein ausuferndes Privatleben zu führen.

Die Machthaber sind mit Ottos Arbeit zufrieden: „Ich muss sagen, Parteigenosse Wächter: das habt ihr fein gemacht”, lobt Generalgouverneur Frank. Was die jüdische Bevölkerung angeht, so fügt er hinzu: „Es soll doch in dieser Stadt einmal Tausende und Abertausende von diesen Plattfußindianern gegeben haben – es war keiner mehr zu sehen. Ihr werdet doch am Ende mit denen nicht böse umgegangen sein?” Das Protokoll verzeichnet daraufhin „Große Heiterkeit” im Saal.

Hier sei erwähnt, dass Sands’ Bekanntschaft mit Horst Wächter vor allem durch die Vermittlung von Franks Sohn Niklas zustande kam, der zu seinem Vater ein ganz anderes Verhältnis hat und diesen aufs Schärfste verurteilt, so in seinem Buch „Der Vater – eine Abrechnung“. Über beide Söhne drehte Sands 2015 für die BBC den Dokumentarfilm „What Our Fathers Did”, in dem zwei ganz unterschiedliche Arten der Vergangenheitsbewältigung aufeinanderprallen.

Als die Rote Armee näher rückt, verlassen die Wächters Lemberg. Otto plant seinen erneuten Gang in den Untergrund. Charlotte fürchtet zwar Vergeltung, geht aber sehr offensiv mit ihrer Vergangenheit um. Als sie auf die amerikanischen Alliierten trifft, gibt sie unumwunden zu: „I was a very happy Nazi.” Die Amerikaner sind verblüfft, da sie bisher niemand angetroffen haben, der sich offen zu seiner Gesinnung bekennen wollte. „Ich wurde wie ein (…) seltsames Wesen bestaunt.” Charlotte bleibt überzeugte Nationalsozialistin bis zum Tod.

Akribisch rekonstruiert Sands Ottos Flucht, die diesen zunächst für mehrere Jahre in die Berge führt und dann nach Rom in den Vatikan. Obwohl sich Charlotte mittlerweile um sechs Kinder kümmern muss, bleibt sie mit ihrem Mann über kodierte Briefe und geheime Treffen in Verbindung und macht sein Untertauchen erst möglich, weil sie ihn mit Kleidung und Lebensmitteln versorgt.

Im letzten Teil des Buches wird aus dem historischen Memoir dann beinahe ein klassischer Spionagethriller, ein Stilbruch in der Erzählweise, der angesichts des Themas doch ein wenig befremdlich wirkt. Die mysteriösen Umstände vom Ottos Tod lassen den Sohn vermuten, dass sein Vater möglicherweise vergiftet wurde. Sands stellt weitreichende Nachforschungen an und deckt auf, wie sich im Rom der Nachkriegszeit amerikanische und sowjetische Spione, darunter auch Doppelagenten, gegenseitig bespitzelten und abzuwerben versuchten.

Philippe Sand zieht schließlich gar seinen Bekannten David Cornwell, alias John le Carré, zu Rate, um das Rätsel, das vor ihm liegt, aufzuklären. Er beleuchtet auch die zweifelhafte Rolle des Vatikans und besonders des Bischofs Alois Hudal, der als amerikanischer Agent fungiert und unter anderem dem berüchtigten SS-Lagerarzt von Auschwitz, Josef Mengele, zur Flucht verhilft. Während Otto Wächter versucht, unentdeckt zu bleiben, ist seine Anwesenheit in Rom längst bekannt. Die Amerikaner werben ganz bewusst ehemalige Nazis an, um sie für ihre Zwecke einzusetzen, wobei Otto an der Zusammenarbeit mit dem ehemaligen Feind kein Interesse zeigt. Aber ist dies Grund genug ihn umzubringen?

Obwohl Sands Recherchen verblüffende historische Verwicklungen zutage fördern, ändern die Fakten, die er aufdeckt, wenig an der Haltung jener, die er damit konfrontiert. Immer wieder trifft er bei seinen Recherchen auf Menschen, die die Zeit des Nationalsozialismus weiterhin verherrlichen oder zumindest verharmlosen. Am Ende ist das Rätsel um Otto Wächters Tod gelöst, Sands beantwortet jedoch nicht die Frage, wie die Aufarbeitung dieser Zeit gelingen kann. Horst Wächter bleibt trotz erdrückender Beweise bei der Überzeugung, sein Vater sei nur deshalb Teil eines „verbrecherischen Systems” gewesen, um dieses von innen zu verändern. Seiner Mutter war er sogar so treu ergeben, dass er sich ihretwegen scheiden ließ und erst zu seiner Frau zurückkehrte, nachdem Charlotte gestorben war.

Seine Zusammenarbeit mit Sands führt für Horst nicht nur zum Bruch mit seinen Geschwistern, für die selbst dieses Maß an Aufarbeitung zu viel ist, sondern auch mit seiner Tochter Magdalena. Magdalena, deren Pate der jüdische Künstler Hundertwasser war, und die inzwischen zum Islam konvertiert ist, bringt für die apologetische Haltung ihres Vaters wenig Verständnis auf. „Mein Großvater war ein Massenmörder” postet sie auf ihrem Social-Media-Account. Von allen 23 Enkelkindern des Ehepaares Wächter ist sie die Einzige, die sich Sands gegenüber bereit erklärte, offen über ihre Großeltern und deren Vergangenheit zu reden.

Philippe Sands: Die Rattenlinie – ein Nazi auf der Flucht. Ins Deutsche übersetzt von Thomas Bertram. S. Fischer Verlag, 544 Seiten.

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