Ende der 1990er-Jahre wurden fast dreihunderttausend Frauen in Peru sterilisiert. Meist unter Druck, oft ohne Einwilligung und manchmal unter brutalem Zwang. Die meisten von ihnen sind indigener Herkunft.
Das Büro von „Menschenrechte ohne Grenzen“ liegt gleich oberhalb der Kirche von Santo Tomás. Der Aufkleber mit dem Logo der Nichtregierungsorganisation aus Cuzco prangt an der Tür, die nur angelehnt ist. Auf mein Klopfen öffnet Susi Sotalero die Tür zum geräumigen Büro.
„Seit März 2018 sind wir hier präsent, denn sowohl für die Frauen, die gegen ihren Willen sterilisiert wurden als auch für die Menschen, die gegen die durch den Bergbau verursachten Schäden protestieren, ist der Weg nach Cuzco zu weit“, fasst Sotalero ihr Engagement knapp zusammen. Die sympathische Frau mit der dunklen Brille und den pechschwarzen, zu einem Pferdeschwanz gebundenen Haaren hält vor allem den Kontakt zu den zwangssterilisierten Frauen, trifft sich mit jenen, die zwischen 1995 und 2000 im Rahmen eines vermeintlichen Geburtenkontrollprogramms unfruchtbar gemacht wurden. „Viele unter Druck, etliche unter Zwang, manche mit brutaler Gewalt“, so die Kommunikationsspezialistin, die den Frauen aus der Region von Santo Tomás eine Stimme geben will.
Chumbivilcas heißt der Verwaltungsdistrikt im Süden Perus, der sich sechs Stunden südöstlich von Cuzco befindet und wo sich über dreihundertdreißig Frauen organisiert haben, um gegen ihre Zwangssterilisation zu protestieren und Wiedergutmachung vom peruanischen Staat zu fordern.
Eine dieser Frauen ist Inés Condori. Die 57-jährige lebt am Rande des Stadtzentrums von Santo Tomás im Stadtteil „Los Lirios“. Sie ist Vorsitzende der Vereinigung jener Frauen, die in Chumbivilcas Opfer von Zwangssterilisationen wurden. Von den rund 330 weiblichen Opfern von Zwangssterilisationen werden lediglich 212 im offiziellen Register geführt – der Rest ist noch nicht anerkannt. Das liege nicht allein daran, dass die Frauen dazu eine Diagnose vom Arzt benötigen, sondern auch an der Langsamkeit der Behörden, ärgert sich Sotalero und weist den Weg an einer langgestreckten Mauer entlang. Wenig später stehen wir vor einem unscheinbaren Haus über dessen Eingangstür ein Plakat hängt, dass für die regionale Biermarke Quesqueña wirbt.
Susi Sotalero klopft mehrfach energisch an die Tür. Erst tut sich nichts, dann sind Schritte zu hören und schließlich öffnet sich die Tür einen Spalt weit. Eine kleingewachsene Frau, die sich gegen die Kälte eine Decke um die Hüfte geschlungen hat und deren Gesicht im Halbschatten eines Strohhuts verborgen ist, fragt etwas mürrisch, was wir denn wollen. „Niemand hat mich informiert, dass ich ein Interview geben soll“, erklärt Inés Candori, nachdem sie den Grund des Besuches erfahren hat.
Ohne informiert und gefragt zu werden, wurde Candori 1995 im Rahmen eines vom autoritär regierenden Präsidenten Alberto „Kenya“ Fujimori aufgelegten Geburtenkontrollprogramms sterilisiert. Lange sie geschwiegen, doch seit 2011 ist sie eine der Aktivistinnen der zwangssterilisierten Frauen Perus und hat bislang ein gutes Dutzend Interviews gegeben. „Von den Journalisten kam jedoch nie etwas zurück. Keine Fotos, keine Artikel“, merkt sie mürrisch an.
Erst ein flehender Blick von Susi Sotalero besänftigt sie. Mit einem sparsamen Lächeln öffnet sie die Tür, stellt dann drei Plastikstühle in den großen Raum und nimmt Platz. Der diente lange als Nachbarschaftsladen, ein kleiner Verkaufstresen steht eingefasst von Regalen, in denen einige wenige Artikel liegen, im vorderen Teil. Der hintere Teil ist hingegen frei und diente anfangs auch als Treffpunkt für die Frauen aus „Los Lirios“. Von denen teilt die eine oder andere das Schicksal von Inés Condori, trotzdem hat es lange gedauert, bis sich die Frauen ausgetauscht haben. „Wir hatten Angst. Damals herrschte in Peru Krieg. Es war nicht daran zu denken, unsere Rechte einzufordern“, meint Condori.
Zu der Zeit, die Condori meint, kämpften die beiden Guerillaorganisationen „Leuchtender Pfad“ und MRTA (Movimiento Revolucionario Túpac Amaru) gegen die peruanische Armee. Die Zivilbevölkerung geriet immer wieder zwischen die Fronten, doch für Inés Condori gab es im April 1995 keine Alternative zur Fahrt nach Cuzco. Unterleibsschmerzen plagten sie seit der Geburt ihres vierten Kindes, das sie sieben Monate zuvor daheim zur Welt gebracht hatte, und in Santo Tomás gab es weder Hospital noch Frauenarzt. Das Hospital in Cuzco war die nächstgelegene Option.
„Wir wollen eine umfassende Wiedergutmachung – und dazu gehört auch eine offizielle Entschuldigung der Verantwortlichen.“
„Im Krankenhaus angekommen, wurde ich in den zweiten Stock geschickt. Da gab es einen Saal, wo rund dreißig Frauen lagen, manche auf dem Boden, manche in Betten, und viele wimmerten vor sich hin – andere schrien vor Schmerz“, erinnert sich die schmale Frau. 34 Jahre war sie damals alt und ohne lange zu fragen, weshalb sie gekommen sei, gab ihr eine Krankenschwester eine Spritze und kündigte eine Untersuchung an. Wenig später sackte Inés Condori betäubt in sich zusammen. Ein paar Stunden später wachte sie wieder auf und als sie sich orientiert hatte, wo sie war, wurde sie schon barsch aufgefordert, ihre Kleidung zu wechseln und nach Hause zu gehen.
Diagnose, Folgeuntersuchung, Verhaltenstipps oder Schmerzmittel: Fehlanzeige. „Es sei nur ein kleiner Eingriff gewesen, ich könne ruhig aufrecht gehen, herrschte mich die Krankenschwester an“, erinnert sich Condori. Sie wusste kaum wie ihr geschah. Zum allerersten Mal sei sie in einem Krankenhaus gewesen, erinnert sich Condori. Ihre Hände zittern.
Dass sie entmündigt und einfach so ihres Rechts und der Möglichkeit auf Fortpflanzung beraubt worden ist, empört Condori bis heute. Doch zunächst hat es lange gedauert, bis sie sich überhaupt eingestehen konnte, was Ärzte und Krankenschwestern mit ihr gemacht haben. Zwar habe sie geahnt, was mit ihr geschehen ist, weil sie geblutet habe. Aber die letzte Sicherheit habe erst ein Frauenkongress im Jahr 2002 gebracht, wo andere Frauen berichteten, was ihnen passiert sei. „Da wurde mir klar, dass ich eine von Tausenden von zwangssterilisierten Frauen war“, sagt sie. Das Gros der insgesamt 272.028 zwischen 1995 und 2000 sterilisierten Frauen ist wie Condori indigener Herkunft gewesen, so eine Studie der „Defensoria Nacional“, einer Ombudsstelle für die Rechte der Bevölkerung.
Viele sprachen kein spanisch, sondern nur Quechua oder eine andere indigene Sprache. Alle wurden entweder unter Druck gesetzt, sich sterilisieren zu lassen, oder erst gar nicht gefragt und sogar brutal auf den OP-Tisch gebunden, so die peruanische Frauenorganisation Demus, die sich ebenfalls für die Rechte zwangssterilisierter Frauen engagiert.
Deren Anwalt Milton Campos vertritt auch die Rechte von Inés Condori, die zu den 2.074 Frauen gehört, deren Fälle dokumentiert sind, die im nationalen Register geführt werden und von denen 77 vor vier Jahren Klage gegen den peruanischen Staat erhoben haben. „Die Klage wurde allerdings mehrfach zu den Akten gelegt – zuletzt Ende 2017“, ergänzt Susi Sotalero.
Doch seit der leitende Staatsanwalt Luis Lanta die ermittelnde Staatsanwältin Marcelita Gutiérrez Ende April 2018 anwies, auch den von 1990 bis 2000 regierenden ehemaligen Präsidenten Alberto Fujimori in die Anklage mitaufzunehmen, herrscht wieder Hoffnung bei Frauen wie Inés Condori. Also hat sie wieder angefangen, Fälle zu dokumentieren, gemeinsam mit Susi Sotalero Interviews mit bisher nicht registrierten Frauen zu führen. Rund fünfzig weitere Frauen sind in den letzten paar Monaten zu den Treffen der Frauenorganisation gekommen. Die trifft sich einmal im Monate im Stadtzentrum in den Räumen einer Bauernorganisation, der Liga Agraría.
Für Condori ist die Geburtenkontrollpolitik der autoritär regierenden Fujimori-Administration, die auch von der amerikanischen Entwicklungshilfebehörde US-Aid und der Weltbank als Armutsbekämpfung mitfinanziert wurde, ein Spiegelbild des Umgangs mit der indigenen Bevölkerungsmehrheit: „Wir werden bis heute diskriminiert. Es ist kein Zufall, dass es kaum Frauen in den großen Städten gibt, die gegen ihren Willen sterilisiert wurden“, sagt Condori. Ein bitteres Lächeln huscht über ihre Lippen.
Doch sie weiß auch, dass ihr Engagement wichtig ist. Anfang März flog sie anlässlich des internationalen Frauentags nach Brüssel und erzählte ihre Geschichte. Solche Auftritte, aber auch das Engagement von „Amnesty International“ sowie die steigende Zahl von Frauen, die von ihren Erfahrungen berichten, erhöhen den Druck auf das Justizsystem, endlich aktiv zu werden. Und Frauen wie Condori wissen, was sie wollen. „Wir wollen eine umfassende Wiedergutmachung, und dazu gehört auch eine offizielle Entschuldigung der Verantwortlichen – vom Staat und von Fujimori“, sagt sie mit fester Stimme.
Bis dahin ist es noch ein weiter Weg, aber immerhin ist mittlerweile klar, dass der Ex-Diktator Fujimori sich verantworten muss. Doch wie die Sache juristisch ausgehen wird, steht in den Sternen. Deshalb sei auch der Interamerikanische Menschenrechtshof eine Option, gibt Condori wieder, was ihr Anwalt als letzte Möglichkeit skizziert hat. Dafür will sie weiterkämpfen und dabei kann sie sich auf die Unterstützung von Susi Sotalero verlassen.