Queeres Verlangen im Holocaust: Die fehlenden Erzählungen

Die Historikerin Anna Hájková legt mit „Menschen ohne Geschichte sind Staub“ ein Buch über das queere Lieben und Begehren im Holocaust vor. Ein präzises und feinfühliges Werk.

Anna Hájková ist Historikerin der jüdischen Holocaustgeschichte. (FOTO: Václav Jirásek)

Der Holocaust gilt als beispielloses Menschheitsverbrechen, welches das Leben von Millionen Menschen forderte. Fast zwei Drittel der europäischen Juden und Jüdinnen wurden durch das nationalsozialistische Regime auf barbarische Weise getötet; ihr oft vergeblicher Überlebenskampf fand unter widrigsten Umständen in Ghettos oder Vernichtungslagern statt. Die Singularität dieses Völkermords macht das Gedenken noch und gerade heute zu einer absoluten Notwendigkeit.

Doch wie der Opfergruppen gedenken, die stigmatisiert und deren persönliche Berichte oft nicht mit aufgenommen wurden in die Dokumentensammlungen, nämlich den queeren Juden und Jüdinnen, die während des Holocausts verfolgt, inhaftiert und deportiert wurden? Welchen homophoben Attacken waren diese Menschen inner- und außerhalb der Konzentrationslager überhaupt ausgesetzt? Welchen Platz hatte das gleichgeschlechtliche Verlangen in dem von Gewalt und Ausbeutung bestimmten Lageralltag? Durch welche schwulen- und lesbenfeindlichen Erzählungen wurden schließlich betroffene Zeitzeug*innen zum Schweigen gebracht und wie wirkt sich die damalige Tabuisierung gleichgeschlechtlicher Beziehungen auf die Erinnerungskultur bis heute aus? Diesen Fragen geht die tschechische Historikerin Anna Hájková in ihrem Buch „Menschen ohne Geschichte sind Staub. Queeres Verlangen im Holocaust“ nach. Ihr Werk stützt sich auf die bisherige Forschung zu Homophobie und Sexualität im 20. Jahrhundert. Es ist insofern als ein neuer Vorstoß in das Themengebiet „Queerness im Holocaust“ zu verstehen, als dass Hájková versucht, die Geschichte der Verfolgten zu schreiben, die im Dritten Reich auf verschiedene Weisen in Kontakt kamen mit queerem Verlangen und/oder queer waren. Dabei liegt es – leider – in der Natur des Sujets, dass die Quellenlage mager ist.

Eine bleibende Leerstelle

Im ersten Kapitel von „Menschen ohne Geschichte sind Staub“ macht Hájková explizit aufmerksam auf die „Archivlücke der queeren Erfahrung“, die aus der allgemeinen Homophobie der damaligen Gesellschaft resultiert: „Die Stigmatisierung des queeren Verlangens führte dazu, dass so gut wie keine Holocaustüberlebenden mit diesen Erfahrungen – und diejenigen, die sich als lesbisch oder schwul verstanden – ihre Lebensgeschichte erzählten. Wenn sie es taten, verschwiegen sie ihre eigene Queerness.“

Anhand eines konkreten Beispiels macht die Forscherin deutlich, wie queere Lebensentwürfe und Erfahrungen in der Dokumentation von Institutionen, die sich der Erinnerung und Aufarbeitung der NS-Zeit verschrieben haben, systematisch ausgeklammert wurden. So geht sie auf einzelne Interviews ein, die in den 1990er-Jahren von Mitarbeiter*innen des weltweit größten Archivs der „Holocaust Oral History“, nämlich des „University of South California’s Shoah Foundation Visual History Archive“ (VHA), durchgeführt wurden. Nur ein Bruchteil der 52.000 Menschen, die in dieser Zeit interviewt wurden, spricht freimütig die eigene Queerness an, viele der Interviews enthalten homophobe Äußerungen, Verweise auf sexualisierte Gewalt unter Männern oder aber versteckte Hinweise auf die queere Identität des*der Interviewten. Durch die von heteronormativen Vorstellungen durchsetzte Gesprächslenkung des*der Interviewers*in blieben diese Anspielungen aber ohne Folge, die sexuelle Orientierung und damit verbundene Lebenserfahrung des*der Betroffenen wurde nicht auf offene Weise in den Dialog integriert – das Wissen, das dadurch hätte gewonnen werden können, bleibt damit für immer verloren.

Von Gewalt geprägte Beziehungen

In ihrem Werk zeichnet Hájková ein ambivalentes wie vielschichtiges Bild queerer Erfahrung im Holocaust. So geht sie darauf ein, dass es im Holocaust einen starken Zusammenhang zwischen Sex und Macht gab, sich die wenigsten in einem intimen Verhältnis stehenden Menschen auf Augenhöhe begegneten: „Viele, wohl die meisten, romantischen und sexuellen Beziehungen im Holocaust – zwischen Retter_innen und geretteten Juden, Häftlingen in Konzentrationslagern und Ghettos – waren definiert durch Abhängigkeiten bis hin zu Ausbeutung.“

Der Zugang zu Sexualität wurde zu einem Instrument der Machtdemonstration, die hierarchisierten Beziehungen waren durchdrungen von Gewalt – die homosexuellen waren davor nicht gefeit, zumal in den Konzentrationslagern oft eine Geschlechtertrennung stattfand und die sexuelle Aktivität sich demnach auf Masturbation oder sexuelle Handlungen mit Angehörigen des eigenen Geschlechts beschränkte. Die Wissenschaftlerin plädiert vor diesem Hintergrund dafür, bei der Erforschung von Sexualität während der NS-Zeit weniger vom Konzept Identität auszugehen als von „Akten und Praktiken“ zu sprechen: „Die Aufgabe hier ist, zu historisieren, nämlich zu erkennen, dass die Bedeutung von Sexualität und somit die Entstehung einer sexuellen Identität von Zeit, Klasse, Ort und anderen Faktoren abhängt.“

Hájková geht auch darauf ein, dass die Homophobie unter Häftlingen eine extreme Form des sogenannten „Othering“ war. Othering bedeutet, dass man eine Person oder Menschengruppe auf abwertende Weise in Rede und Tat als fremdartig kennzeichnet und sich so von ihr distanziert. Lesbische Frauen wurden in dem Kontext oft als abstoßend, monströs, übersexualisiert oder als „Mannsweiber“ perspektiviert. Der Typus „Lesbe“ bot so eine Erklärung für die grausame, unerbittliche Realität in den KZ, „es war eine Personalisierung von all dem, was falsch war an den Lagern“. Dies erklärt auch die vielen queerfeindlichen Bemerkungen in den Schilderungen der Überlebenden, die Eingang in Holocaustarchive fanden.

Symptomatisches Schweigen

Im zweiten Kapitel von „Menschen ohne Geschichte sind Staub“ stellt Hájková fünf Biografien jüdischer Jugendlicher in den Mittelpunkt, die queer waren, in Berührung kamen mit queerem Verlangen, queere Äußerungen tätigten oder auch sexualisierte Gewalt innerhalb einer queeren Beziehung erlebten – all dies zur Zeit des Holocausts. Dabei bringt die Historikerin den Begriff des sexuellen Tauschhandels und, damit zusammenhängend, den der „queeren Kinship“ ins Spiel: „Was bedeutete Kinship nun in der Häftlingsgesellschaft während des Holocaust? Sie bestand aus selbst gewählten oder erschafften [sic] Gruppen von Menschen, die emotionale Unterstützung, intimes Wissen und gemeinsame Ressourcen teilten. Für einige Menschen bedeutete sie gemeinsame sexuelle Aktivität, für andere gemeinsam erlebte sexuelle Gewalt oder selbst gewählten sexuellen Tauschhandel, um sich gegenseitig zu unterstützen.“

Hájková erzählt zum Beispiel das Leben der lesbischen Holocaustüberlebenden Margot Heumann nach, die sich in Theresienstadt in die gleichaltrige Edith (Dita) Neumann verliebte; beide überlebten als scheinbar unzertrennliche Freundinnen mehrere Lager und hielten auch danach bis an ihr Lebensende Kontakt, auch wenn sie nicht mehr über die romantische Züge tragende Nähe sprachen, die sich während ihrer Jugendzeit zwischen ihnen etabliert hatte. Heumann ging eine Ehe ein und wurde Mutter von zwei Kindern; erst als Neumann im Sterben lag, gestand ihr ihre Freundin, dass sie sie ihr ganzes Leben geliebt hatte. In den beiden „Oral History Interviews“, die Heumann nach dem Krieg gab, wurde der Aspekt der queeren Liebe konsequent ausgespart – einzig im Gespräch mit Hájková selbst, so schreibt die tschechische Forscherin, konnte Heumann offen über ihre Homosexualität und die komplexe Beziehung zu Neumann sprechen: „Warum brauchte es mich, dass Margot Heumann ihre ganze Geschichte erzählen konnte? […] Das Unsichtbarsein von Margots Queerness war symptomatisch für fast alle Oral History Interviews mit Holocaustüberlebenden.“

Gekonnt arbeitet Hájková anhand dieser und anderer Lebensgeschichten heraus, wie dick die Decke des Schweigens ist, die über queere Erfahrungen im Holocaust gelegt wurde; sie durch ihr Schreiben zu lüften und den Menschen so ihre Stimme zurückzugeben, gelingt Hájková dank ihrer nuancierten Herangehensweise und wissenschaftlichen Integrität. So haben Geschichten, die von queerer Gewalt und ambivalenten Menschen erzählen, ebenso einen Platz in ihrem Buch wie jene, die beispielhaft verdeutlichen, wie gleichgeschlechtliche Verbundenheit und Liebe auch in äußerst schwierigen Lagen und trotz gesellschaftlicher Ächtung gedeihen können. Mit ihrer Forschung zur queeren Geschichte des Holocausts, deren Extrakt „Menschen ohne Geschichte sind Staub“ darstellt, trägt die Historikerin letztlich dazu bei, dass die Schicksale und das Leiden queerer Jüdinnen und Juden innerhalb der Shoahgeschichte in ihrer Spezifität anerkannt und weitererzählt werden.

Anna Hájková: „Menschen ohne Geschichte sind Staub. Queeres Verlangen im Holocaust“, Wallstein Verlag, Göttingen 2024, 126 Seiten, 18 Euro

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