Die vermehrten Gewalttaten rechtsextremer Jugendlicher in Deutschland wecken Erinnerungen an die Nazi-Gewalt der 1990er-Jahre. Mit den sozialen Medien ist ein neuer beschleunigender Faktor in der Radikalisierung und für eine rechtsextreme Jugendkultur hinzugekommen.

Rechtsextreme Propaganda, gemischt mit subkulturellen Codes: Auftritt einer Rechtsrock-Gruppe bei einer rechtsextremen Demonstration am 22. März in Berlin. (Foto: EPA-EFE/CLEMENS BILAN)
Der deutsche Rechtsextremismus schien sich in den vergangenen Jahren auf den Kampf in den Parlamenten eingeschworen zu haben: Erklärtes Ziel war die Unterstützung der „Alternative für Deutschland“ (AfD). Deren Erfolg ging mit einem neuen rechten Selbstbewusstsein in Debatten über Gender, Klimawandel, Krieg und Frieden einher. Neonazistische Demonstrationen verloren an Bedeutung. Dass eine spezifisch neonazistische Subkultur damit an Attraktivität verloren habe, erweist sich als gefährliche Fehleinschätzung: Seit vergangenem Jahr brandet eine neue Welle junger, gewalttätiger Neonazi-Gruppen auf, die nicht nur stilistisch auf den Spuren der Baseballschlägerjahre in den 1990er-Jahren wandeln. Im Zwielicht sozialer Medien radikalisieren sich Kinder und Jugendliche, planen und begehen schwerste Gewalttaten.
Exemplarisch für dieses neue Phänomen im Rechtsextremismus steht eine Gruppe, die sich „Letzte Verteidigungswelle“ nannte. Recherchen des deutschen Magazins „Stern“ und des Rundfunksenders RTL zeichneten das Bild einer primär online vernetzten Gruppe von Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Deren Anführer, der 21jährige Justin S., soll Kugelbomben in Tschechien beschafft haben, um einen Anschlag auf eine Asylunterkunft in Senftenberg (Brandenburg) zu verüben. In Altdöbern (Brandenburg) brannte mutmaßlich ein 15-jähriger Angehöriger der Gruppe, Elias P., ein Kulturhaus nieder und brüstete sich im Chat mit einem Bekennervideo. In Schmölln (Thüringen) attackierte der 18-jährige Yannik M. eine Asylunterkunft mit Silvesterraketen und verkündete online stolz: „So, ihr Juden. Ich bin Yannik … rechter Skinhead. Heil Hitler!“
Im Mai 2025 veranlasste der Generalbundesanwalt eine länderübergreifende Polizeiaktion gegen die Gruppierung, bei der fünf Verdächtige im Alter zwischen 14 und 18 Jahren festgenommen wurden. Insgesamt wurden acht Haftbefehle erlassen. Die Vorwürfe wiegen schwer: Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung oder Unterstützung einer solchen. Ihr Ziel, so die Bundesanwaltschaft, sei es, „durch Gewalttaten vornehmlich gegen Migranten und politische Gegner einen Zusammenbruch des demokratischen Systems“ herbeizuführen. Einzelnen werden zudem versuchter Mord und besonders schwere Brandstiftung vorgeworfen.
Diese Taten entspringen einer Dynamik, in der sich die Beteiligten gegenseitig in ihrem Hass und ihrer Gewaltbereitschaft zu übertreffen suchen, angetrieben vom Wunsch nach Anerkennung innerhalb der Gruppe und dem Wunsch, die nach rechtsextremen Kriterien bestimmten Feinde zu vernichten. Die „Letzte Verteidigungswelle“ ist dabei nur das bekannteste Beispiel. Gruppierungen wie die „Deutsche Jugend voran“ um den kürzlich in Berlin verurteilten Julian M., „Der Störtrupp“ oder die sächsische „Elbland-Revolte“ weisen ähnliche Muster auf: Primär auf „Whatsapp“, „Instagram“ und „Tiktok“ wird dazu aufgerufen, Veranstaltungen zum „Christopher Street Day“ zu stören, Demonstrationen zu besuchen und Linke und Queere zu jagen. Die resultierende enthemmte Gewalt richtete sich in den vergangenen Monaten nicht nur gegen Migrant*innen, Queere und politische Gegner*innen, sondern auch gegen Kontrahenten bei privaten Konflikten oder hinzukommende Polizeikräfte.
Die Jugendlichkeit der Täter, ihre Herkunft aus teils prekären Verhältnissen und die Affinität zu Partys, Rausch und subkulturellen Codes mögen bisweilen die politische Dimension ihres Handelns überlagern – mindert aber nicht dessen Gefährlichkeit. Die Bereitschaft, schwerste Straftaten zu begehen, kann jederzeit in unkontrollierte Gewaltexzesse umschlagen oder, wie der Anschlag in Halle 2019 demonstrierte, in die Tat eines fanatisierten Einzelnen münden.
Nachdem die extreme Rechte sich jahrelang auf die AfD und ihre Versuche konzentriert hat, rechts- extremes Gedankengut salonfähig zu machen, tritt nun eine Generation hervor, die mit provokanter Offenheit NS-Symbolik verwendet und vulgäre Queerfeindlichkeit propagiert.
Soziale Medien sind die primären Rekrutierungs- und Aktionsräume dieser neuen Neonazi-Generation. Joe Düker vom „Center für Monitoring, Analyse und Strategie“ (Cemas), das rechte Netzwerke untersucht, erklärt der woxx, dass Rechtsextreme auf Instagram und Tiktok mit martialischem Bild- und Videomaterial um junge Menschen werben. Klassische rechtsextreme Feindbilder spielten ebenfalls eine Rolle. Gleichzeitig werden Gruppenwanderungen oder Kampfsporttraining beworben, was ein „enges Gemeinschaftsgefühl vermittelt“. Die Ästhetik ist jugendaffin: sogenannte „Fashwave“-Optik (eine Subkultur der Alt-Right-Bewegung in den USA, die auch bei jungen Islamisten beliebt ist; Anm. d. Red.) mischt sich mit Codes des Nationalsozialismus, Memes und dem auf Tiktok trendenden Bomberjacken-und-Springerstiefel-Look.
Düker beschreibt, wie dann der Weg von der öffentlichen Bühne in die interne Kommunikation verläuft: „Mit Einladungslinks per Privatnachricht oder in den Profilbeschreibungen werden interessierte Jugendliche von den öffentlichen Profilen und Inhalten zu geschlossenen Chatgruppen auf Messaging-Diensten wie Whatsapp weitergeleitet.“ Diese geschlossenen Gruppen entwickelten sich schnell zu Echokammern, in denen eine rasante Radikalisierung stattfinde. Hier werden Aktionen geplant und Erfolge gefeiert. Die Ideologie ist ein kruder Mix aus „Großer Austausch“-Verschwörungserzählungen, „White Genocide“-Behauptungen, Homophobie und NS-Bezugnahme. Die eigene Rolle wird als die von Verteidigern der weißen Rasse heroisiert.
Diese verstärkten Anwerbungsbemühungen auf Plattformen wie Instagram oder Tiktok sind nach Dükers Ansicht unter anderem eine Konsequenz von verringerter Moderation. Noch vor wenigen Jahren hätten Rechtsextreme auf Dienste wie Telegram ausweichen müssen. „Plattformbetreibende wie Meta oder Tiktok sind in der Verantwortung, die Verbreitung von rechtsextremen Inhalten und Rekrutierung gewaltbereiter, neonazistischer Gruppierungen einzudämmen“, so Düker.
Zwar weckt der derzeitige Anstieg rechter Jugendgewalt Erinnerungen an die 1990er-Jahre: die rohe Gewalt, der Kameradschaftsgedanke, der subkulturelle Anstrich. Doch soziale Medien haben die Dynamiken verändert: Die Agitation hat dadurch immens an Geschwindigkeit und Reichweite gewonnen; die Radikalisierungsprozesse sind im Vergleich diffuser, schneller und stärker auf unmittelbares Erleben und Online-Bestätigung ausgerichtet. Nachdem die extreme Rechte sich jahrelang auf die AfD und ihre Versuche konzentriert hat, rechtsextremes Gedankengut salonfähig zu machen, tritt nun eine Generation hervor, die mit provokanter Offenheit NS-Symbolik verwendet und vulgäre Queerfeindlichkeit propagiert.
Diese jungen Rechtsextremen könnten durch ihre Tabubrüche auch etabliertere rechte Kreise wie die AfD vor sich hertreiben und dazu beitragen, Positionen zu etablieren, die selbst in der AfD bisher meist nur verklausuliert geäußert wurden. Indem sie sich online und offline mit extremistischen Äußerungen überbieten, könnten sie so die Grenzen des Sag- und Machbaren in der gesamten Rechten verschieben. Auf die bestehenden engen Verflechtungen zwischen jungen Neonazis und der AfD weist auch die Rechtsextremismusexpertin Heike Kleffner hin. Insbesondere bei AfD-Wahlveranstaltungen 2024 seien diese ganz offensiv nach außen getragen worden, etwa Anfang Februar 2024 im brandenburgischen Templin, sagt Kleffner der woxx. „Dort haben junge Neonazis erst ein Gruppenfoto mit dem AfD-Politiker Hannes Gnauck bei einer Wahlkampfveranstaltung gemacht, bevor dann Gegendemonstrant*innen durch den Ort gejagt und angegriffen wurden.“ Die flächendeckende parlamentarische Präsenz der AfD habe den Täter*innen die ideologische Legitimierung verschafft und ihnen das Gefühl gegeben, „Vollstrecker eines vermeintlichen Volkswillens“ zu sein, so die Expertin.
Die neue Qualität der Bedrohung durch diese online-getriebenen jungen Neonazis zeigen nicht nur die Ermittlungen des Generalbundesanwalts, der die „Letzte Verteidigungswelle“ als terroristische Gefahr ernst nimmt. Insbesondere die schnelle Entstehung und rechtsextreme Radikalisierung solcher Zusammenschlüsse stellt auch Sicherheitsbehörden vor immense Herausforderungen. Der Berliner Verfassungsschutz hat mehrere neue Gruppierungen als gesichert rechtsextremistisch eingestuft und die neue Beobachtungskategorie „gewaltorientierte rechtsextremistische Netzkulturen“ geschaffen; das ist ein erster Schritt. Doch die schnelle, dezentrale und oft anonyme Online-Kommunikation macht ein Vorgehen schwierig.
Die Plattformbetreiber sind gefordert, wirksame Gegenstrategien zu entwickeln – oder müssen politisch dazu gezwungen werden. Insbesondere die Prävention und Deradikalisierung bei diesen oft sehr jungen, teils wenig gefestigten, aber hochradikalisierten Personen erfordert neue Ansätze und Ressourcen. Es gilt, auch pädagogisch Wege zu finden, um einer Generation von Rechtsextremisten zu begegnen, die im digitalen Kinderzimmer zu potenziellen Gewalttätern heranreift und deren Rassismus, Antisemitismus und Queerfeindlichkeit im Internet global entfesselt wird. Andernfalls droht nicht nur die Wiederholung der fatalsten Fehler der 1990er-Jahre, sondern deren Überbietung mit unkalkulierbaren Folgen aufgrund der digital beschleunigten Eskalation.