Ein fetter Wälzer voller erzählerischer Leichtigkeit: In seinem neuen Roman „Die Projektoren“ zeigt sich Clemens Meyers als Meister einer aus dem Kino entlehnten Montagetechnik.
Ein Militärlastwagen lässt einen mit einer Holzkiste beladenen Mann mitten im kroatischen Gebirge vor einem verfallenen Bauernhaus aussteigen. Der Mann setzt sich auf die Kiste, schützt sich mit der Hand vor den Augen gegen die Sonnenstrahlen und schaut dem LKW und einer immer kleiner werdenden Staubwolke hinterher.
Es ist wie eine Szene aus einem Italo-Western von Sergio Leone. Und eine der besten Szenen in Clemens Meyers neuem Roman. Ein Mann, der Cowboy genannt wird, weil er ein kariertes Halstuch trägt, wächst in Belgrad auf und verliert seine Eltern bei einem deutschen Luftangriff. Er schließt sich den Partisanen von Josip Broz an, der als Tito Weltgeschichte schreiben wird. Nach dem Zweiten Weltkrieg spielt Cowboy eine kleine Rolle in Karl-May-Filmen. Später erlebt er die Balkankriege. Dies ist, stark gerafft, die Handlung von Meyers „Die Projektoren“, einem der besten deutschsprachigen Romane der vergangenen Jahre.
Meyer ist spätestens seit vergangenem Oktober im deutschsprachigen Raum einem breiteren Publikum bekannt. Damals flippte er nämlich während der Verleihung des Deutschen Buchpreises aus: Da hat ein Autor 35.000 Euro Schulden muss die Kosten seiner Ehescheidung bewältigen – und bekommt nicht einmal den gutdotierten Preis verliehen, um endlich aus den roten Zahlen zu kommen. Manche werden es, mit Schadenfreude vernommen haben, dass Meyer leer ausgegangen ist. Schließlich hat der Leipziger Schriftsteller sich selbst schon wenig bescheiden mit Alfred Döblin und Günter Grass auf eine Stufe gestellt. Das hat seine Sympathiewerte nicht gerade erhöht.
Meyer führt uns durch die politische Geschichte des 20. Jahrhunderts, das mit einem Krieg dort zu Ende kommt, wo es mit dem Anlass für den Ersten Weltkrieg begonnen hat – auf dem Balkan.
Dennoch ist es ein starkes Stück, dass man ihm den Buchpreis verweigert hat: „Eine Schande für die Literatur“, wie er selbst es nannte. Die Jury soll er beim Verlassen des Saales noch als „ihr elenden Wichser“ bezeichnet haben. Das passt zwar zur Empörungsökonomie der sozialen Medien, könnte aber darüber hinaus ein Stück Literaturgeschichte werden. So wie einst das provozierende Auftreten von Rainald Goetz. Der ist heute noch vielen vor allem dadurch bekannt, dass er sich 1983 während seines Auftritts beim Ingeborg-Bachmann-Lesewettbewerb mit einer Rasierklinge die Stirn aufschnitt und die Lesung blutüberströmt beendete. Auch er hatte damals keinen Preis gewonnen. In späteren Jahren hat er als Chronist der Techno-Ära die Auszeichnungen dann regelrecht eingesammelt.
Clemens Meyer gilt als einer der wichtigsten deutschen Autoren der Nachwendezeit. In seinem 2006 erschienenen Debütroman „Als wir träumten“ schildert er den Alltag einiger Jugendlicher im Leipziger Arbeiterviertel Reudnitz in den 1990er-Jahren. Das Buch hat autobiographische Züge, auch der Technoclub „Eastside“, der darin vorkommt, hat wirklich existiert. In diesem Buch nutzt Meyer bereits ausgiebig die Technik der Montage, vor allem für Zeitsprünge. Und wie der Titel schon andeutet, spielen Träume neben Erinnerungen eine herausragende Rolle. In dem 2013 erschienenen Buch „Im Stein“ taucht der Autor einmal mehr ins Leipziger Nachtleben ein, diesmal in das Milieu von Prostituierten und windigen Geschäftemachern. In dem vielstimmigen Porträt einer Halbwelt zeigt er das nötige Fingerspitzengefühl für sein Personal und haucht ihm Leben ein.
Sein neues Opus Magnum „Die Projektoren“ ist mit mehr als tausend Seiten etwa doppelt so dick wie die beiden genannten Romane. Insgesamt sieben Jahre soll er an dem Buch gesessen haben, was neben seiner Gesundheit auch seiner Psyche nicht zuträglich war, wie er öffentlich sagte. Wieder handelt es sich um einen Montageroman. Er beginnt in einer Irren-, Heil- und Pflegeanstalt im Leipziger Osten. Dann aber geht es an die Drehorte der Winnetou-Filme der 1960er-Jahre, ins kroatische Velebit-Gebirge und zu den Balkankriegen der 1990er-Jahre.
Meyer hat die einzelnen Handlungsstränge auf verschiedenen Zeitebenen geordnet, bis sich ein großes Ganzes bildet. Er scheint dabei bei William Faulkner in die Schule gegangen zu sein und braucht den Vergleich mit Döblin in der Tat nicht zu scheuen. Vor allem aber taucht der Westerngeschichtenerzähler Karl May als „Dr. May“ auf. Neben dem bereits erwähnten Cowboy, dem einstigen Meldegänger von Titos Partisanen, der die Dreharbeiten zu den Karl-May-Verfilmungen erlebt, tritt unter anderem noch eine Gruppe von Rechtsextremisten aus Dortmund auf.
Es ist ein wilder Ritt, oder auch eine Wildwasserfahrt in einem Canyon der kroatischen Küstengebirgslandschaft, auf die der Autor uns mitnimmt, aber auch genau das, was einen guten Roman ausmacht. Meyer versteht es, die Handlungsstränge zusammenzuhalten wie der Reiter die Zügel seines Pferdes, und auch der aufmerksame Leser verliert nicht den Faden, oder besser gesagt: die mehreren roten Fäden. Er führt uns durch die politische Geschichte des 20. Jahrhunderts, das mit einem Krieg dort zu Ende kommt, wo es mit dem Anlass für den Ersten Weltkrieg begonnen hat – auf dem Balkan.
Der „Old Shatterhand“-Darsteller Lex Barker habe den Vietnamkrieg stets verteidigt, wie man erfährt.
Beim Lesen hat man unweigerlich die alten Karl-May-Filme vor Augen, und zugleich Berichte von den Kriegen im einstigen Vielvölkerstaat Jugoslawien. Der Cowboy-Protagonist des Buches verdingt sich dessen Auflösung als Autor von Groschenromanen in Deutschland, während deutsche Neonazis in die Schützengräben der Balkankriege ziehen; wie auch manche alte Sozialisten aus der ehemaligen DDR. Die Geschichten in „Die Projektoren“ sind allerdings oft von Gewalt und Verrohung geprägt, nicht wie jene schönen und manchmal traurigen Leinwandmärchen von Winnetou und Old Shatterhand. Georg, neben Cowboy die zweite Hauptfigur, verlässt mit seinen Eltern in den 1980er-Jahren den deutschen Osten und schließt sich einer rechtsextremen Clique an, ehe er als Freischärler in den Kroatienkrieg zieht.
Das Kino und die Geschichten drumherum kann als einer der genannten roten Fäden gelten. So taucht immer wieder Winnetou auf. Mit ihm Lex Barker, der „den Krieg in Vietnam stets verteidigt“ habe, wie man erfährt, auch als er 1968 ein letztes Mal als Westernheld „Old Shatterhand“ in Deutschland war: „der Kommunismus musste doch aufgehalten werden“. In einer Szene des Romans wird beschrieben, wie Barker im Privatkino von Tito hockt und gemeinsam mit dem Autokraten den Film „Der Wildtöter“ anschaut, in dem der amerikanische Schauspieler die Hauptrolle spielt. Die Verbindung von Karl Mays Westernfantasien und der Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts trägt in Meyers Buch über die gesamten tausend Seiten hinweg, auch wenn die Handlung wild zwischen den Orten und Zeitebenen springt. Der Autor versteht es, einen Strom vielfältiger Erzählstimmen zu erzeugen, der mitreißt.
Bis in die Zeit des Irakkrieges und des Islamischen Staates reicht der Roman. Die Liebe darf dabei auch nicht fehlen, und zwar die des Cowboys zu Negasova, einer Serbin aus der Vojvodina. Es ist ein Roman, der voller Cliffhanger ist, die einen zum Weiterlesen zwingen, auch wenn einem der schwere Wälzer nach einigen Stunden Lektüre beinahe aus den Händen fällt. Und der mit verrückten Einfällen glänzt. Wie etwa mit dem zufälligen Aufeinandertreffen von Hitler und Tito bei einem Vortrag von Karl May mit dem Titel „Und Friede auf Erden“. Da wird einem bewusst, dass May und Meyer nicht nur das Sächsische gemeinsam haben, sondern die unbändige Fabulierlust und Erzählwut.
Auch wenn dem Autor die Prämie für den deutschen Buchpreis durch die Lappen gegangen ist: Ihm bleibt zu wünschen, dass sein großartiger Roman viele Leser findet.