Sasha Filipenkos in diesem Jahr auf Deutsch erschienener Roman „Der ehemalige Sohn” um einen belarussischen Jugendlichen, der zehn Jahre im Koma liegt und in einem unveränderten Land aufwacht, ist berührend und voll schwarzen Humors.
Das Buch beginnt wie ein klassischer Coming-of-Age-Roman: Der 17-jährige Franzisk, Spitzname Zisk, bedient sich einer List, um statt Cello zu üben, lieber mit den Freunden im Hof Fußball zu spielen. Doch seine Großmutter, bei der er aufwächst, lässt sich nicht übers Ohr hauen, sie hat den Schwindel längst durchschaut.
Und bald erkennen auch die Leser*innen, dass es in dem Roman „Der ehemalige Sohn” des belarussischen Schriftstellers Sasha Filipenko nicht in erster Linie um die Wachstumsschmerzen eines Teenagers geht, sondern vor allem darum, wie ein Land versucht, sich aus der Umklammerung eines unbenannten Diktators zu befreien. In den humorigen Anfang des Texts mischen sich ernste Töne.
Zisk gerät in der U-Bahn in eine Massenpanik und wird so schwer verletzt, dass er ins Koma fällt. Niemand glaubt daran, dass er jemals wieder aufwachen wird, nur die Großmutter hat ein unerschütterliches Vertrauen in den Lebenswillen ihres Enkels: „Eine Erkältung ist ja auch nicht nach einem Tag vorbei.”
Zehn Jahre lang besucht sie ihn jeden Tag im Krankenhaus, richtet sich in seinem Zimmer häuslich ein, erzählt ihm unlustige Witze, schleppt Freunde an, die den alten Kameraden schon lange abgeschrieben haben, installiert sogar einen Fernseher, um Zisk über die politische Entwicklung auf dem Laufenden zu halten. Eine Entwicklung, die eigentlich keine ist, da das Land ebenso regungslos daliegt wie der Protagonist.
Filipenko beschreibt die Absurdität der Situation, das Wechselspiel zwischen Großmutters starrsinniger Liebe und Fürsorge, der die nicht weniger starrsinnige, daher umso zerstörerische Machtgier des Regimes gegenübergestellt wird. Während Elvira Alexandrowna ihren Enkel zurück ins Leben holen möchte, prügelt die Staatsgewalt das gemarterte Volk wortwörtlich in den Tod.
Die Lektüre ist keine leichte Kost, aber dem Autor gelingt es, einen Eindruck von der ausweglosen Situation der Menschen in Belarus zu vermitteln.
Das Buch des 1984 in Minsk geborenen Sasha Filipenko, der in Russ- land und der Schweiz lebt, ist das Gegenteil von Regungslosigkeit oder Stillstand: Hier werden alle vermeintlichen Regeln des Schreibens wild durcheinander gewirbelt. Scheinbar nebensächliche Episoden, die sich am Krankenbett abspielen, werden lange und ausführlich geschildert, entscheidende Wendungen dafür lediglich in Nebensätzen erwähnt. Die dramatischen und intensiven Schilderungen der Massenpanik („Der Schlüssel wurde ihm vom Hals gerissen, lange Frauenhaare krochen ihm in die Augen, die Nase, den Mund”) wechseln sich ab mit seitenlangen, mäandernden Monologen. Dabei wechselt der Autor noch nicht einmal den Tonfall, sondern lässt alle auftretenden Figuren in gleicher Weise dozieren, von Zisks Ex-Freundin bis hin zum dumm-dreisten Chefarzt der Klinik.
Außer an der Großmutter und an Franzisk lässt Filipenko an kaum einer seiner Figuren ein gutes Haar. „In der Regel hatten bereits am Ende des ersten Studienjahres die meisten jungen Weißkittel jegliches Interesse an ihrem zukünftigen Beruf verloren”, schreibt er über die zynische und demotivierte Ärzteschaft. Besonders die Frauen kommen nicht gut weg. Zisks frühere Freundin Nastja ist lediglich an „Klimbim” interessiert und möchte einen Mann finden, der ihr Schmuck, ein Auto und eine Wohnung kauft. Sogar Zisks Mutter wirkt, als würde sie sich ihres Sohnes am liebsten so schnell wie möglich entledigen, besonders nachdem sie den Chefarzt geehelicht und mit ihm einen „neuen Sohn” gezeugt hat. Menschen werden zu Karikaturen, wenn ihnen jegliche Entwicklungsmöglichkeiten fehlen.
Das 2014 auf Russisch erschienene und nun ins Deutsche übertragene Buch ist gleichermaßen schwarzhumorig und auch berührend, aber kein klassisch konstruierter Roman, sondern eher eine eigenwillige Collage aus ganz unterschiedlichen Stilen und Tonfällen, manchmal ernst und dann wieder voller absurder Fabulierlust, mit zahlreichen Verweisen auf tatsächliche historische Begebenheiten der belarussischen Geschichte. Dort ist der Roman nur unter der Theke erhältlich; wie zum Beweis, dass Filipenkos Geschichte um einen Jugendlichen, der ins Koma fällt und nach zehn Jahren in einem unveränderten Land aufwacht, den Nerv der Zeit trifft.
Die Lektüre ist keine leichte Kost, aber dem Autor gelingt es, einen Eindruck von der ausweglosen Situation der Menschen in Belarus zu vermitteln. „Ich hab’s so satt, vor allem Angst zu haben”, lässt er seinen Protagonisten sagen. Besonders eindringlich schildert er, wie die Unterdrückung letztendlich die Solidarität innerhalb des Volkes und sogar der Familien zerstört, wenn niemand seinem Nächsten trauen kann und es weder Hoffnung noch Perspektiven gibt.
So wie Franzisk nach einem Jahrzehnt unerwartet wieder aufwacht, benötigt auch das osteuropäische Land einen Ruck, um sich aus seinem Tiefschlaf zu befreien – und viele Menschen wie die Großmutter, die ganz fest daran glauben, dass eine Zukunft in Freiheit möglich ist.