Die russische Führung gibt sich mit Blick auf die ukrainische Gegenoffensive selbstbewusst. Doch zu Gegenangriffen ist die russische Armee derzeit nicht mehr in der Lage. Sie wirbt intensiv um neue Rekruten, denn eine zweite Teilmobilmachung will die Regierung noch vermeiden.

Im Krieg gegen die Ukraine gehen Russland die gut trainierten Truppen aus: Präsident Wladimir Putin besucht in einem Moskauer Militärkrankenhaus verwundete Soldaten. (Foto: EPA-EFE/Vladimir Astapkovich/Kremlin)
In der russischen Kleinstadt Schebekino lebten Anfang Juni noch 40.000 Menschen. Inzwischen sind es weniger als 3.000 Einwohner. Der Rest wurde von den Behörden evakuiert oder ist auf eigene Faust in die nahegelegene Stadt Belgorod geflohen. Die ukrainische Grenze liegt so nah, dass sie zu Fuß erreichbar ist, Charkiw ist in der Luftlinie 66 Kilometer entfernt. Doch während Charkiw seit über einem Jahr fast täglich beschossen wird, blieb Schebekino von direkten Kampfhandlungen lange unberührt. Auch wenn hin und wieder ukrainische Geschosse einschlugen, wiegten sich die Menschen in Sicherheit. Das ist nun vorbei: Seit Ende Mai gingen bisweilen mehrere Hundert Geschosse pro Tag auf den Ort nieder. Schebekino ist Kriegsgebiet.
Vertreter unabhängiger Medien haben kaum eine Chance, in die Stadt vorzudringen. Eine Journalistin des Nachrichtenportals „The Insider“ schaffte es, wurde festgenommen, stundenlang verhört, durfte dann aber die Polizeiwache wieder verlassen. Die Reporterin berichtete von aufgebrachten Staatsbediensteten – vermutlich in Zivil gekleidete Angehörige des russischen Inlandsgeheimdiensts FSB –, die sich darüber beschwerten, dass der Kreml die Lage in der Region unterschätze und notwendige Unterstützung ausbleibe. Auch Anwohner beschrieben die Grenze als fast ungeschützt, sodass es kein Wunder sei, dass auf ukrainischer Seiten kämpfende Einheiten vorrücken konnten.
Ende Mai berichtete das russische Verteidigungsministerium noch, dass eine Kolonne gepanzerter Fahrzeuge, die nahe der Grenze eine Attacke unternommen hatte, abgewehrt worden sei. Doch wenige Tage darauf überquerten erneut Verbände aus der Ukraine die Grenze. Für den Angriff übernahmen das den ukrainischen Streitkräften unterstehende, aus russischen Neonazis rekrutierte „Russische Freiwilligenkorps“ sowie die hauptsächlich aus russischen Deserteuren bestehende „Legion Freies Russland“ die Verantwortung.
Auf den Angriff auf russisches Gebiet folgte die ukrainische Gegenoffensive im Süden und Osten der Ukraine. Dass diese begonnen habe, gestand am Freitag vergangener Woche auch der russische Präsident Wladimir Putin ein. Allerdings hätten die ukrainischen Truppen „in keinem Bereich ihre Ziele erreicht“. Die ukrainischen Verluste seien außergewöhnlich hoch. Doch die unentwegten Versuche der russischen Regierung, den Eindruck zu erwecken, der Krieg verlaufe nach Plan, haben längst an Überzeugungskraft verloren. Seit Wochen dringen selbst in der Propaganda immer wieder andere Töne durch, fast als ob deren Konsumenten auf eine mögliche Aufgabe bisheriger russischer Kriegsziele eingestimmt werden sollen.
Für Verwirrung sorgte kürzlich eine Aussage der Chefredakteurin des Staatssenders RT (früher Russia Today), Margarita Simonjan, die sonst einen aggressiven Ton bevorzugt. Vor dem Hintergrund der Zerstörungen im Gebiet Belgorod sagte sie Anfang Juni in der Sendung eines der wichtigsten Scharfmacher im russischen Fernsehen, Wladimir Solowjow, es sei an der Zeit, die Kampfhandlungen zu beenden, den Krieg „einzufrieren“ und in den „umstrittenen Gebieten“ Referenden abzuhalten. Damit bezog sie sich auf einen Plan des indonesischen Verteidigungsministers Prabowo Subianto, der vorgeschlagen hatte, die beiden Armeen sollten sich von der Front zurückziehen, um unter Aufsicht der UN über die Zugehörigkeit der umkämpften ukrainischen Gebiete abstimmen zu lassen.
Fanatische Kriegsbefürworter empfanden Simonjans Aussage als defätistisch und entfachten einen regelrechten Shitstorm. Es ist durchaus denkbar, dass ihre Aussage ernst gemeint war. Die russische Führung steckt in der Bredouille. Die Armee ist nach den Offensiven der vergangenen Monate derzeit zu weiteren Angriffen nicht mehr fähig und muss jetzt ihre verbliebenen Reserven dafür nutzen, die ukrainische Gegenoffensive abzuwehren. Es wäre für Russland von Vorteil, sich eine Atempause zu verschaffen oder den Konflikt auf unbestimmte Zeit einzufrieren: Zum einen, um zu verhindern, dass es wie im vergangenen Herbst zu erheblichen Gebietsverlusten kommt, zum anderen aus politischem Kalkül. Je länger der Krieg andauert, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Unterstützung für die Ukraine in den westlichen Staaten anfängt zu bröckeln.
Durch die Teilmobilmachung im vergangenen September gelang es der russischen Armee zumindest, Verstärkung an die Front zu bringen und die Verluste auszugleichen. Doch die Aussicht, die zunächst von einer Berufsarmee ausgeführte sogenannte Spezialoperation in eine Art Neuauflage des „Großen Vaterländischen Kriegs“ umwandeln zu müssen, der von der breiten Bevölkerung nicht nur passiv mitgetragen wird, sondern von ihr verlangt, sich in großer Zahl für in diesem Fall diffuse Kriegsziele aufzuopfern, stellt die Regierung vor ernste Probleme.
Bereits die Teilmobilmachung im Herbst löste Unruhe aus. Hunderttausende flohen aus Russland, um nicht eingezogen werden zu können. Besonders in den ärmeren Teilrepubliken Russlands wurde in einigen Fällen mit Gewalt rekrutiert. Nach fünf Wochen war zwar das Plansoll erreicht und die aktive Phase der Teilmobilmachung beendet, doch das zugrundeliegende Dekret blieb in Kraft. Seither beschwichtigen Vertreter des Generalstabs und Putins Sprecher Dmitrij Peskow die Bevölkerung: Es werde keine weitere Mobilmachung geben.
Die Eingliederung von Hunderttausenden auf die Schnelle eingezogener Rekruten offenbarte auch Probleme in der Armee. Es fehlte an Ausrüstung und Schulungskapazitäten, und der dringende Bedarf an Soldaten führte dazu, dass viele Rekruten direkt an die Front geschickt und dort als Kanonenfutter regelrecht verheizt wurden. In den sozialen Medien kursierten zahlreiche Videobotschaften verzweifelter Frontsoldaten, die versuchten, auf ihre Lage aufmerksam zu machen. Immer wieder regt sich auch Unmut bei Angehörigen. Kürzlich initiierten Ehefrauen und Mütter von Soldaten aus Pskow eine Petition, in der sie eine neue Mobilisierungswelle forderten, damit ihre Angehörigen von der Front abgelöst werden könnten. Damit reagierten die Frauen auf Beschwerden einer Einheit aus Pskow, die von hohen Verlusten bei Schebekino und dem nahegelegenen Grajworon berichtet hatte.
Es wäre für Russland von Vorteil, sich eine Atempause zu verschaffen oder den Konflikt auf unbestimmte Zeit einzufrieren.
Nationalistische Scharfmacher verlangen immer lauter eine entschlossenere Mobilisierung der Gesellschaft für den Krieg. Jewgenij Prigoschin, der Anführer der Wagner-Söldnerarmee, forderte kürzlich erneut eine Generalmobilmachung. Mit Hunderttausenden neuer Soldaten würde es sogar möglich sein, Kiew einzunehmen, allerdings unter der Voraussetzung, dass die Rüstungsindustrie auf Hochtouren Waffen, Munition und andere Aus- rüstung für die Soldaten liefere, sagte er in einer Videobotschaft.
Prigoschin wirft dem russischen Verteidigungsministerium seit Monaten Versagen und Planlosigkeit vor und kritisierte, dass seinen Söldnertruppen zu wenig Munition geliefert worden sei – obwohl sich auch reguläre Armeeeinheiten mit solchen Defiziten herumschlagen müssen. Am Samstag befahl Verteidigungsminister Sergej Schoigu, alle für Russland kämpfenden Mitglieder von „Freiwilligenverbänden“ müssten bis zum 1. Juli Verträge mit dem Verteidigungsministerium unterschreiben. Das zielt insbesondere auf die Wagner-Truppe, deren Mitglieder damit zu regulären Soldaten werden würden. „Wagner wird keine Verträge mit Schoigu unterschreiben“, wies Prigoschin das Ansinnen auf „Telegram“ zurück.
Es wäre naiv zu glauben, dass die russische Regierung ihren gegenteiligen Versicherungen zum Trotz nicht jederzeit eine neue Mobilmachung verkünden könnte. Im April unterzeichnete Putin ein Gesetz, das es ermöglicht, Einberufungsbescheide künftig über das Internet zuzustellen. Doch derzeit bevorzugt die russische Führung noch andere Wege. Bis Jahresende sollen rund 400.000 Zeitsoldaten unter Vertrag genommen werden. Russland will offensichtlich auf lange Sicht sein militärisches Drohpotenzial erhalten und weiter ausbauen. Kurzfristig hilft das jedoch nicht dabei, auf Herausforderungen der ukrainischen Gegenoffensive zu reagieren.
Die Armee wirbt mit Geld um Rekruten. Nach Vertragsabschluss über mindestens ein Jahr wird eine einmalige Pauschale von umgerechnet 2.200 Euro aus dem Staatshaushalt in Aussicht gestellt. Dazu kommt noch eine Einmalzahlung aus kommunalen Budgets – das wohlhabende Sankt Petersburg zahlt beispielsweise zusätzlich 5.700 Euro, die Stadt Rjasan weniger als die Hälfte davon. Für den Fronteinsatz ist je nach Dienstrang ein monatlicher Sold zwischen 2.300 und 2.750 Euro vorgesehen. Nach Angaben des für Moskau zuständigen Militärkommissars finden sich in der Hauptstadt pro Tag etwa 150 Kandidaten ein. Der stellvertretende Vorsitzende des Sicherheitsrats, Dmitrij Medwedjew, sprach Mitte Mai von 117.000 seit Jahresbeginn angeworbenen Soldaten. Unabhängig verifizieren lässt sich das alles nicht.
Mit diesen für russische Verhältnisse erheblichen Summen zu werben, wird aber wohl nicht ausreichen, um den Bedarf an Soldaten zu stillen. Prigoschin hatte im vergangenen Winter Tausende Männer aus Gefängnissen rekrutiert, nun übernimmt das Verteidigungsministerium das selbst. Mitte Mai erleichterte Putin per Dekret erneut die Einbürgerung ausländischer Staatsangehöriger, die sich für einen Fronteinsatz verpflichten. Wenige Tage später meldete das Nachrichtenportal „Rjasanskije Wedomosti“, mehrere kubanische Staatsbürger hätten Armeeverträge unterzeichnet. Die Behörden arbeiten jedoch auch mit Tricks und Gewalt. So berichteten unabhängige Medien über den Fall eines 30 Jahre alten Mannes aus Tadschikistan, der direkt aus der Abschiebehaft bei Sankt Petersburg in eine Kaserne gebracht und genötigt wurde, ein Dokument zu unterzeichnen, dessen Inhalt er nicht verstand – es war die Verpflichtung zur Armee.
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