Stewart O’Nans neuer Roman: Im Niemandsland

Der amerikanische Autor Stewart 
O’Nan variiert immer wieder erfolgreich die Partitur, die er am besten beherrscht: Er beschreibt die Vereinigten Staaten jenseits der Metropolen, inszeniert Coming-of-Age-Geschichten mit oftmals tragischem Ausgang. Sein neuester, mehrstimmiger Roman „Ocean State“ überzeugt leider nur zum Teil.

Hat ähnliche Geschichten bereits viel packender erzählt: Stewart O’Nan mit seinem neuen Roman „Ocean State“. (Foto: Philippe Matsas)

Im Pressetext zu „Ocean State“ schreibt der Rowohlt-Verlag, dies sei ein Buch „über die schrecklichen Dinge, zu denen uns die Liebe treibt“. Um welche schrecklichen Dinge es sich handelt, verrät Stewart O’Nan, der Autor des genannten Buches, gleich zu Beginn. Die Jugendliche Angel hat zusammen mit ihrem Freund Myles eine gleichaltrige Mitschülerin ermordet. Das Opfer Beatriz „Birdy“ Alves hatte sich in Myles verliebt, beide begannen eine Affäre. Als der Seitensprung öffentlich wird – jemand leakt Fotos des Paares in den sozialen Medien – steigert sich Angel immer stärker in ihre Eifersucht hinein, bis aus den Versuchen, ihren Freund zurückzugewinnen, schließlich ein Rachefeldzug gegen die vermeintliche Konkurrentin wird. Ihre Wut richtet sich nicht gegen den Jungen, der sie hintergangen hat, sondern gegen das Mädchen, mit dem er sie betrog. Früher hätte man es eine Beziehungstat genannt, eigentlich ist es ein Femizid.

Das „was“, „wer“ und „wie“ sind also rasch geklärt, bleibt nur noch die Frage nach dem „warum“. Da O’Nan den Ausgang gleich vorwegnimmt, ist es nicht sein Anliegen, Spannung aufzubauen, sondern stattdessen das eigentlich Unvorstellbare nachvollziehbar zu machen. Dazu bedient er sich der Technik der Polyphonie, das heißt, er schildert die Handlung aus wechselnden Perspektiven. In den einzelnen Kapiteln lässt er Angels kleine Schwester zu Wort kommen, ebenso wie die Mutter oder das spätere Opfer.

O’Nan ist ein ungemein versierter Autor, der sein Handwerk perfekt beherrscht, das zeigt sich bereits im ersten Satz des Buches: „Als ich im achten Schuljahr war, half meine Schwester dabei, ein anderes Mädchen zu töten.“ Bemerkenswert ist hier die Wahl des Verbs „helfen“. In Wirklichkeit wurde Birdy Alves zuerst brutal misshandelt, dann in ein Fass gepackt und im Wasser versenkt. Es ist Angels Schwester Marie, die dieses Wort wählt; deren Versuch, jene von der Schuld freizusprechen. O’Nan gelingt es fast nebenbei, die ganze Komplexität seiner Geschichte in wenigen Worten zu umreißen. Umso enttäuschender ist es, dass er am Ende hinter diese Virtuosität zurückfällt.

Im Gegensatz zu den Verfas-
ser*innen des Pressetextes weiß Marie, dass die Tat nichts mit Liebe zu tun hat. „Sie (Angel) sei verliebt gewesen, sagt meine Mutter, als wäre das eine Entschuldigung.“ Marie ist die einzige Ich-Erzählerin des Romans und die Figur, deren Stimme am klarsten zu vernehmen ist. Dabei ist sie eigentlich ein stilles, in sich gekehrtes Mädchen, das zu seiner verwegenen, hübschen großen Schwester aufblickt, und ihre eigenen Sorgen mit Essattacken betäubt. In ihrer dysfunktionalen Familie ist sie vor allem darauf bedacht zu funktionieren. Sie passt sich an, kümmert sich um das behinderte Nachbarsmädchen, leistet der alkoholkranken Großmutter Gesellschaft. Ihr Blick ist der einer Außenstehenden, vielleicht sogar einer Außenseiterin, die es gewohnt ist, dass das wirkliche Leben anderswo stattfindet. In Angels Zimmer zum Beispiel, indem sie heimlich herumstöbert, weil sie selbst keine Geheimnisse hat, die es zu verbergen gäbe.

Während Marie hauptsächlich ihre Umwelt wahrnimmt, sind alle anderen sehr mit sich selbst beschäftigt. Die Mutter hat ebenfalls ein Alkoholproblem, sie arbeitet als Altenpflegerin und hat wenig Zeit für ihre beiden Töchter, und wenn sie doch mal zu Hause ist, dann widmet sie sich lieber ständig wechselnden Männerbekanntschaften, immer auf der Suche nach der Bestätigung, die ihr im Alltag fehlt. Die Mädchen sind oft sich selbst überlassen und entgleiten ihr langsam aber sicher. Der leibliche Vater ist nett, aber vorwiegend abwesend.

Anfangs gelingt es O’Nan erstaunlich gut, die Bodenlosigkeit der ersten Liebe zu beschreiben, die gleichermaßen euphorisierend und beängstigend ist. Wer es einmal erlebt hat, wird die Angst wiedererkennen, sich selbst zu verlieren, wenn die Liebe endet. Es ist diese existenzielle Bedrohung, die Angel antreibt, aber auch ihre Mutter und sogar Birdy. Die Frauen sind gleichermaßen stark und schwach: Sie kämpfen erbittert um ihr vermeintliches Lebensglück, aber lassen sich vom „rechten Weg“ abbringen, sobald ein Mann in dieses Leben tritt. Was umso unverständlicher ist, als die männlichen Figuren sehr blass bleiben.

Myles, der immerhin den Kataklysmus, die alles zerstörende Kata-
strophe auslöst, wird als gut aussehend beschrieben, wirkt aber sonst weder besonders anziehend noch liebenswert. Warum gleich zwei Mädchen bereit sind, ihre Existenz für ihn aufs Spiel zu setzen, bleibt rätselhaft, wie so vieles im zweiten Teil des Romans. Unverständlich ist auch der Gleichmut, mit der die Familie, besonders die Mutter, auf die Tat reagiert, so als seien dies Dinge, die eben passieren, wenn man einen Teenager zu Hause hat. Irgendwann hat man das Gefühl, im Schnellvorlauf durch die Geschichte zu brausen.

Wie seine Figur Marie hat O’Nan einen klaren Blick für die Nebenschauplätze, das Nebensächliche und Alltägliche, verliert jedoch seine sprachlichen Mittel, wenn er sich dem eigentlichen Höhepunkt seiner Geschichte widmen soll.

O’Nans Romane haben fast immer auch eine soziale Komponente: Seine Protagonist*innen starten aus einer denkbar ungünstigen Ausgangsposition ins Leben, sie arbeiten in schlecht bezahlten Jobs, verharren in lieblosen Beziehungen und treffen dann die falschen Entscheidungen. Manchmal, weil das Leben ihnen keine andere Wahl lässt, manchmal aber einfach nur, weil alle im Überlebenskampf zu sehr mit sich selbst beschäftigt sind und es niemanden gibt, der im entscheidenden Moment eine Hand reichen könnte.

Es wäre daher spannend gewesen, die Thematik der emotionalen und auch sozialen Abhängigkeit zwischen den Geschlechtern weiter auszuloten. Den Frauen in „Ocean State“ gelingt es nicht, ein Selbstverständnis zu entwickeln, das unabhängig von den Männern in ihrem Leben Bestand hätte. Die Mutter der Mädchen lässt sich mit einem älteren Mann ein, der ihr finanzielle Sicherheit garantiert, unterhält gleichzeitig aber noch ein Verhältnis mit einem anderen, der sie und die Mädchen misshandelte, mit dem sie jedoch besseren Sex erlebte.

Da Myles aus einer wohlhabenden Familie stammt, fällt seine Strafe am Ende deutlich milder aus als jene Angels. Marie verzichtet am Ende bewusst auf eine Beziehung, in einer Form der Abhängigkeit verharrt sie trotzdem, lebt im Haus ihrer Großmutter, mit Blick auf den Friedhof. Die Nachbarskinder machen an Halloween vorsichtshalber einen Bogen um ihr Haus.

Nach dem vielversprechenden Anfang findet O’Nan weder Fokus noch Haltung zu seiner Geschichte, am Ende ist nicht mal klar, was er eigentlich erzählen wollte und vor allem warum. Der Verdacht liegt nahe, dass er seiner Geschichte nicht mehr Herr wurde, und sie ihm entglitt, so wie die Geschehnisse den Protagonist*innen vermeintlich entgleiten. Die mehrstimmige Erzählweise führt nicht dazu, dass man tiefer in die Geschichte eintaucht, stattdessen dünnt die Handlung immer stärker aus. Was als durchaus überzeugende Charakterstudie beginnt, zerfällt voll und ganz sobald der Mord geschieht, so als käme zu viel Plot dem Autor in die Quere. Wie seine Figur Marie hat O’Nan einen klaren Blick für die Nebenschauplätze, das Nebensächliche und Alltägliche, verliert jedoch seine sprachlichen Mittel, wenn er sich dem eigentlichen Höhepunkt widmen soll.

Womöglich ist O’Nans „Ocean State“ auch nur deshalb so enttäuschend, weil der Autor ähnliche Geschichten bereits so viel packender erzählt hat. Der 61-jährige Autor, der eigentlich ausgebildeter Flugzeug-
ingenieur ist und erst auf Umwegen zur Schriftstellerei kam, hat mittlerweile 19 Romane verfasst, von denen einige zweifellos zu Klassikern der zeitgenössischen Literatur zählen. So zum Beispiel sein 2008 erschienener Roman „Songs for the Missing“, in dem es ebenfalls um das Verschwinden und die Ermordung einer Jugendlichen geht und darum, wie ihre Familie, vor allem ihre kleine Schwester, mit dieser Grenzerfahrung umgeht. Dieses Buch ist so eindringlich, dass „Ocean State“ dagegen nur wie ein zweiter Aufguss wirken kann. Fans des Autors werden noch zahlreiche andere Motive wiedererkennen, deren sich O’Nan schon mehrmals bedient hat. Birdy Alves verschwindet an Halloween, so wie die Freunde im 2003 erschienen „Night Country“, die an ebendiesem Abend tödlich verunglücken und später zurückkehren, um die Hinterbliebenen heimzusuchen.

Am Ende beschreibt O’Nan zugleich zu viel und zu wenig. Die Geschichte eines mordenden Pärchens, das ebenso leidenschaftlich wie kaltblütig ist, wurde schon oft erzählt und der Autor weiß ihr keine neuen Facetten abzugewinnen. Vielleicht hat es niemand treffender beschrieben als Bruce Springsteen im Song „Nebraska“ vom gleichnamigen Album, und vielleicht ist es auch kein Zufall, dass beide Werke Ortsbeschreibungen im Titel tragen. „I can‘t say that I‘m sorry for the things that we done / At least for a little while, sir, me and her we had us some fun.“ Was Springsteen in wenigen Strophen gelang, daran scheitert O’Nans Roman.

Stewart O’Nan: 
Ocean State. 
Aus dem Englischen übersetzt von Thomas Gunkel.
Rowohlt Verlag, 
256 Seiten.

Cet article vous a plu ?
Nous offrons gratuitement nos articles avec leur regard résolument écologique, féministe et progressiste sur le monde. Sans pub ni offre premium ou paywall. Nous avons en effet la conviction que l’accès à l’information doit rester libre. Afin de pouvoir garantir qu’à l’avenir nos articles seront accessibles à quiconque s’y intéresse, nous avons besoin de votre soutien – à travers un abonnement ou un don : woxx.lu/support.

Hat Ihnen dieser Artikel gefallen?
Wir stellen unsere Artikel mit unserem einzigartigen, ökologischen, feministischen, gesellschaftskritischen und linkem Blick auf die Welt allen kostenlos zur Verfügung – ohne Werbung, ohne „Plus“-, „Premium“-Angebot oder eine Paywall. Denn wir sind der Meinung, dass der Zugang zu Informationen frei sein sollte. Um das auch in Zukunft gewährleisten zu können, benötigen wir Ihre Unterstützung; mit einem Abonnement oder einer Spende: woxx.lu/support.
Tagged .Speichere in deinen Favoriten diesen permalink.

Kommentare sind geschlossen.