Streitbarer Außenseiter
: Kurt Hiller, der Logokrat


Schon im deutschen Kaiserreich war er ein mutiger Vorkämpfer gegen die Diskriminierung der Homosexuellen: Der Linkssozialist und Radikalpazifist Kurt Hiller. Nun erinnert eine wissenschaftliche Biographie an den in Vergessenheit geratenen Publizisten.

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Eckte mit seiner radikalen Fortschrittlichkeit auch im „neuen“ Deutschland weiter an: der Intellektuelle Kurt Hiller. (Foto: Internet)

„Es gleich zu sagen: ein besonderer Freund der Schriftengattung Selbstbiographie bin ich nicht.“ Mit diesem Satz eröffnete Kurt Hiller 1969 den ersten Teil seiner zweibändigen Autobiographie. Dass er sich trotz aller Vorbehalte dennoch entschloss, seine Lebensgeschichte aufzuschreiben, war dem Willen geschuldet, „hier endlich Deutschland zu unterbreiten: meine Erlebnisse in Hitler’s Hafthöllen“.

Auf die Aufmerksamkeit der breiten Öffentlichkeit in Deutschland konnte Hiller damals nicht mehr hoffen. Das war ein halbes Jahrhundert zuvor anders: Da war der linkssozialistische Autor einflussreich und populär. Die von ihm 1912 herausgegebene Anthologie „Kondor“ gilt als erste Sammlung expressionistischer Lyrik. Infolge des Ersten Weltkrieges entwickelte sich Hiller zum gesellschaftspolitischen Autor. In der Weimarer Republik gehörte er als parteiunabhängiger, linker Sozialist zu den Initiatoren radikalpazifistischer, antimilitaristischer Gruppierungen und schrieb regelmäßig in der von Kurt Tucholsky und Carl von Ossietzky herausgegebenen „Weltbühne“. Nun ruft eine im Herbst im Wallstein Verlag erschienene Studie des Historikers Daniel Münzner den lange vergessenen Kurt Hiller in die Erinnerung zurück.

Gegen den „Unzucht“-Paragraphen

Hiller wurde 1885 in Berlin geboren. Er studierte zunächst Medizin, wechselte dann zur Jurisprudenz und promovierte 1908 mit einer rechtsphilosophischen Abhandlung, in der er für das „Recht über sich selbst“, über den eigenen Körper und die eigene Sexualität plädierte. Er wurde Mitglied und ehrenamtlicher Rechtsbeistand des von dem Arzt und Sexualforscher Magnus Hirschfeld gegründeten Wissenschaftlich-humanitären Komitees (WhK), das sich durch öffentliche Aufklärungsarbeit für die Streichung des § 175 einsetzte, der Homosexualität im Kaiserreich als „widernatürliche Unzucht“ unter Strafe stellte.

Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 geriet Kurt Hiller für einige Monate in Gestapohaft. Als er 1934 entlassen wurde, gelang ihm kurze Zeit später die Flucht nach Prag und 1939 weiter nach London, wo er als Informant für den britischen Inlandsgeheimdienst MI5 tätig wurde. Aus dem englischen Exil kehrte Hiller erst 1955 zurück. Er schrieb noch für kleinere linke Zeitschriften, u.a. für die „konkret“, in der später auch Ulrike Meinhof Chefredakteurin war. Auch jetzt engagierte er sich weiter für die Streichung des § 175, den die BRD in der Fassung des nationalsozialistischen Regimes in ihre Strafrechtsordnung übernommen hatte.

Daniel Münzner erzählt chronologisch, liefert jedoch keine typische Biographie, denn ihn interessiert vor allem – so der Untertitel seines Buches  – „der Intellektuelle als Außenseiter“. Intellektuellengeschichten haben eine gewisse Konjunktur in der jüngeren deutschen Geschichtswissenschaft. Während in den 1960er Jahren vornehmlich das antidemokratische Denken rechtskonservativer, völkisch-antisemitischer Gruppierungen analysiert wurde, gab vor einigen Jahren Riccardo Bavajs Studie „Von links gegen Weimar“ die neue Stoßrichtung vor. Demnach sollte nun auch die Kritik von kommunistischen und linkssozialistischen Intellektuellen an den Defiziten der Weimarer Republik als „eine notwendige Prämisse für das Scheitern des Parlamentarismus“ und die Machtübernahme der Nationalsozialisten angesehen werden.

Einerseits weist Münzner diesen Vorwurf in seiner Pauschalität zurück, andererseits gilt auch ihm Antidemokratismus als „politischer Extremismus“, den er keinesfalls rechtfertigen möchte. Seine These lautet: Kurt Hillers Demokratiekritik speist sich aus spezifischen Diskriminierungserfahrungen. Hillers politisches Denken soll daher als Reaktion auf anti-intellektuelle, antisemitische und homophobe Anfeindungen verstanden werden.

Entsprechend der genannten Diskriminierungserfahrungen ist jedes der vier Kapitel, die sich auf die von Hiller durchleben historischen Epochen, Kaiserreich, Weimarer Republik, Exil und frühe Bundesrepublik beziehen, dreifach untergliedert. Doch dieser Ansatz ist problematisch. Indem Münzner das politische Denken seines Protagonisten zu einer bloßen Reaktion auf Diskriminierungserfahrungen verkürzt, nimmt er ihn als Intellektuellen nicht ernst.

Gegen Irrationalismus

Hiller verstand sich als geistiger Mensch, als „Logokrat“, er musste nicht persönlich betroffen sein, um irrationales Denken und menschenverachtende Umtriebe zu bekämpfen. Dass Hiller in seiner Biographie seinem Jüdischsein keine besondere Bedeutung zumisst, wertet Münzner als Verdrängung eines emotionalen Themas. Damit wird ihm sein Judesein einmal mehr von außen aufgedrängt.

In der Weimarer Republik wurde Hiller als Linksintellektueller angegriffen, dabei bedienten sich seine Gegner, um ihrer Verachtung besonderen Nachdruck zu verleihen, auch antisemitischer und homophober Zuschreibungen. Angesichts der scharfen und ressentimentgeladenen publizistischen Auseinandersetzungen unterstellt Münzner seinem Protagonisten einen Leidensdruck, den dieser nicht empfand. Er muss selbst zugeben: „Hiller beklagte sich nie, in gewisser Weise liebte er den Streit und kultivierte die expressionistische Ausdrucksweise als sein persönliches Markenzeichen bis in die 1960er Jahre.“

Ressentiments des Biographen

Dass sich Hiller nicht eindeutig zum Opfer stilisieren lässt, verzeiht ihm Münzner nicht. Er beschreibt ihn schon bald als „Teilnehmer eines verbalen Bürgerkriegs“, unterstellt ihm „sprachlichen Terror“ und erklärt ihn schließlich zum „Opfer und Täter sprachlicher und kultureller Gewaltakte“. Die Aufhebung der Differenz von physischer Gewalt und rhetorischer Zuspitzung erlaubt Münzner über den von Hiller tatsächlich erlebten Terror, seine in den Konzentrationslagern erlittenen Misshandlungen rasch hinwegzugehen. Stattdessen kolportiert der Autor Spekulationen, wonach Hiller seine Entlassung aus dem KZ 
der „Intervention homosexueller Bekannter mit Kontakten zu hochrangigen Nationalsozialisten“ verdankte.

Mehr als einmal reproduziert Münzner jene Diskriminierungen, aus deren Erfahrung er Hillers politische Haltung zu erklären sucht. Neben dem homophoben Ressentiment von den schwulen Seilschaften durchziehen den gesamten Text anti-intellektuelle Vorbehalte, etwa wenn er Hiller unterstellt, seine Auseinandersetzungen seien häufig nicht durch politische, sondern durch „habituelle Differenzen“ begründet gewesen. Unter der despektierlichen Überschrift „Der ‚Nazi-Jäger’“ wirft Münzner Hiller vor, seinen Beitrag zur Aufarbeitung der Vergangenheit vor allem darin gesehen zu haben, „Kollaborateure und ideologische Vorbereiter der Nationalsozialisten zu denunzieren“. Auch hierbei handelt es sich nicht um eine einmalige verbale Entgleisung. Noch an anderer Stelle schimpft er, Hiller habe sich „in seinen Denunziationen“ auf publizistische Mitläufer, „statt auf die Massenmörder“ konzentriert.

Immerhin lässt der Nachwuchsakademiker trotz seines diffamatorischen Furors den Protagonisten seiner Dissertation noch oft genug selbst zu Wort kommen, um die Neugier auf diesen streitbaren Intellektuellen zu wecken.

Kurt Hiller passt in keine gängige „Identitätskategorie“: Er schwärmte für junge, durchtrainierte Männer, ohne deshalb dem maskulinistischen Ideal der SA zu huldigen. Er erklärte offen seine Gleichgültigkeit gegenüber Frauen, doch die Feministin Helene Stöcker war ihm eine hochgeschätzte „Kameradin im Kampf“ für eine fortschrittliche Sexualpolitik und einen radikalen Antimilitarismus. Hiller galt als elitär, weil er Mittelmäßigkeit und Geistfeindschaft anprangerte. Er trat für die Aufklärung, nicht für die Verherrlichung des Volkes ein.

Aufgrund von Verleumdungen seitens stalinistischer Genossen gegenüber jenen, die sich von der Parteipolitik abwandten, wurde Hiller schließlich zum strengen Antikommunisten. Mit derselben Vehemenz kritisierte er die katholischen „Ermächtigungsmeier“, die durch ihre Zustimmung zum sogenannten „Ermächtigungsgesetz“ den Nationalsozialisten erst zur absoluten Macht verhalfen und später im Nachkriegsdeutschland weiter Karriere machten.

Homosexuellenpolitik 
in der BRD

Dass Hillers politische Haltung nicht erst im wiedervereinigten Deutschland, sondern schon unmittelbar nach Kriegsende bei einer jüngeren Generation auf Unverständnis stieß, belegt ein zeitgleich mit Münzners Studie ebenfalls im Wallstein Verlag in der Reihe Hirschfeld-Lectures erschienenes schmales Bändchen zur „Homosexuellenpolitik in der jungen Bundesrepublik“.

Raimund Wolfert, Mitarbeiter der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft in Berlin, dokumentiert darin auf der Basis von Briefen, die von der Kurt-Hiller-Gesellschaft archiviert werden, den gescheiterten Versuch einer Wiederbelebung des Wissenschaftlich-humanitären Komitees in Frankfurt/Main in den ersten Nachkriegsjahren. Der junge Sexualwissenschaftler Hans Giese hoffte, der seinerzeit noch im Exil lebende Hiller würde seine Neugründung des WhK unterstützen. Doch bald wurde deutlich, dass Giese die Tradition, auf die er sich berufen wollte, nicht kannte und ihm Hillers radikale Fortschrittlichkeit vollkommen fremd war. Auch ohne von der NSDAP-Mitgliedschaft Gieses und anderer jüngerer Aktivisten zu wissen, lehnte Hiller die „Gründeriche“ schon bald als „Dilettanten“ ab. Auf Gieses existentialistische Heidegger-Begeisterung reagierte er mit beißendem Spott, mit den Anbiederungsversuchen des neuen WhK an den restaurativen Zeitgeist wolle er nichts zu tun haben.

Ebenso wie Kurt Hiller die opportunistischen Mitläufer NS-Deutschlands als „Nachbartypen“ der Nazis kritisierte, lehnte er die opportunistische „Betätterättätigung“ der Nachgeborenen ab, die nur das Mögliche forderten, statt für das Richtige einzutreten. Als sich Giese für einen Reformvorschlag des § 175 aussprach, der hinter den von Hiller bereits 1927 ausgearbeiteten „Gegenentwurf zur Reform des Sexualstrafrechts“ zurückfiel, brach der Kontakt zwischen den beiden ab. Dass Giese 1950 Homosexualität als „Funktionsstörung“ bezeichnete und damit als Krankheit verleumdete, bestätigte Hiller in seiner Einschätzung, dass mit der Frankfurter „Schädlings-Clique“ nicht an die aufklärerische Arbeit des alten Berliner WhK angeknüpft werden konnte.

Raimund Wolfert positioniert sich in seiner Darstellung des Konflikts keinesfalls unkritisch auf Seiten Hillers. Mit Hermann Weber lässt er einen Aktivisten des alten WhK zu Wort kommen, der sich zwar auch von Gieses politischen Umtrieben distanzierte, andere, gesellige Organisationsversuche, die Hiller als bloße „Amüsiererei“ ablehnte, aufgrund ihrer sozialen und identitätsstiftenden Wirkung im restaurativen Nachkriegsdeutschland aber durchaus anerkannte. Doch anders als Münzner hat Wolfert ein Bewusstsein dafür, was es für einen Emigranten wie Hiller bedeutete, in ein Land zurückzukehren, in dem die „Nachbartypen“ der Nazis wieder in Amt und Würden waren und bis zur ersten Liberalisierung des „Schandparagraphen 175“ im September 1969 noch über 50.000 Homosexuelle nach NS-Strafrecht verurteilt wurden.

Daniel Münzner: 
Kurt Hiller. Der Intellektuelle als Außenseiter. 
Wallstein Verlag, 414 Seiten.
Raimund Wolfert: 
Homosexuellenpolitik in der jungen Bundesrepublik. Kurt Hiller, Hans Giese und das Frankfurter Wissenschaftlich-humanitäre Komitee. 
Wallstein Verlag, 72 Seiten.

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