Südamerika und der Fußball: Den Himmel berühren

Der unkritische Kult um den jüngst verstorbenen Ausnahmefußballer Pelé und die Fußball-WM haben gezeigt, welche Bedeutung der Fußball in Ländern wie Argentinien und Brasilien hat. Die Begeisterung speist sich nicht zuletzt aus zahlreichen Mythen, wie der französische Autor Olivier Guez in seinem nun erschienenen Buch „Lob des Dribbelns“ beschreibt.

Sein Körper, nicht jedoch seine Symbolkraft wird hier zu Grabe getragen: Prozession mit dem auf einem Feuerwehrauto aufgebarten Leichnam von Pelé am 3. Januar in der brasilianischen Hafenstadt Santos. (Foto: EPA-EFE/Antonio Lacerda)

Der König ist tot. Sein einbalsamierter Leichnam liegt aufgebahrt auf dem Spielfeld unter einem Zeltdach im Stadion seines ehemaligen Vereins FC Santos. Zigtausende Menschen haben sich in eine kilometerlange Warteschlange eingereiht, um von Pelé Abschied zu nehmen. „O Rei“, der König, wie sie ihn nicht nur in Brasilien nennen, ist am 29. Dezember im Alter von 82 Jahren an den Folgen einer Krebserkrankung gestorben.

In Brasilien herrscht drei Tage lang Staatstrauer. Danach führt eine Prozession – der Leichnam ist auf das Dach eines Feuerwehrautos gebettet – durch die Hafenstadt Santos. Kadetten der Militärpolizeiakademie in Gala-Uniform tragen unter dem Geläut von Kirchenglocken den Sarg in das Friedhofshochhaus „Memorial Necrópole Ecumênica“. Dort wird Pelé im Kreis seiner Familie beigesetzt. Der Trauerzug kommt durch das Viertel, wo Pelés Mutter lebt. Dass ihr Sohn gestorben ist, weiß sie nicht. Die Hundertjährige ist geistig verwirrt.

„Er wird ewig bleiben“, sagt Santos-Trainer Odair Hellmann. „Es liegt an uns allen, sein Vermächtnis und seine Geschichte weiterzuführen und sie neuen Generationen zu vermitteln.“ Luiz Inácio Lula da Silva, der am 1. Januar als neuer brasilianischer Staatspräsident vereidigt worden ist und mit dem Helikopter in die Hafenstadt eingeflogen wird, sagt: „Es gibt niemanden, der mit Pelé vergleichbar ist. Ich hoffe, dass er im Himmel wieder Fußball spielt.“

Edson Arantes do Nascimento, der als kleiner Junge zum Lebensunterhalt seiner Familie beitrug, indem er Nüsse verkaufte und Schuhe putzte, beherrschte als Spieler Ball und Gegner in einer nie dagewesenen Art und Weise. Er war sowohl mit dem rechten wie auch mit dem linken Fuß stark und ebenso in der Luft. Seine Einzigartigkeit bestand in der Perfektion aus technischer Genialität und körperlicher Athletik. Er wurde dreimal Weltmeister und schoss weit mehr als tausend Tore. Seine absolute Krönung war die Ernennung zum Weltfußballer des 20. Jahrhunderts.

Pelé steht nicht zuletzt auch für das goldene Zeitalter des brasilianischen Fußballs, das mit der Weltmeisterschaft 1958 in Schweden begann, als sein Stern aufging und er im Alter von 17 Jahren seinen ersten von drei WM-Titeln holte. Bis dahin war die Fußballkunst von Brasiliens Ballzauberern ein nicht eingelöstes Versprechen gewesen. Davon erzählt der französische Schriftsteller und Journalist Olivier Guez, der sich mit Büchern wie „Das Verschwinden des Josef Mengele“ und als Drehbuchautor des Films „Der Staat gegen Fritz Bauer“ einen Namen gemacht hat.

In seinem nun auf Deutsch erschienenen Buch „Lob des Dribbelns“ outet sich der aus Straßburg stammende 48-Jährige als leidenschaftlicher Fußballfan und beschreibt den Mythos des südamerikanischen Fußballs. Im französischen Original ist das Buch in zwei Teilen erschienen, als „Eloge de l’esquive“ (2014) und als „Une passion absurde et devorante“ (2021).

Die ersten hundert Seiten des Buches sind Brasilien gewidmet. Auch hier wird gleich nach der Einleitung eine Beerdigung geschildert: jene des großen Dribbelkünstlers Garrincha. Er wurde nur 49 Jahre alt und starb 1983 an einer Leberzirrhose. Wie später der Argentinier Diego Armando Maradona war er ein dionysischer Antiheld des modernen Fußball. „Im Gegensatz zu seinem zivilisierten Zeitgenossen Pelé, der eine hochprofessionelle Karriere hinlegte“, so Guez, habe Garrincha einen „primitiven Gott“ verkörpert. „Wenn wir 75 Millionen Garrinchas hätten, was für ein Land wären wir dann, stärker als Russland, mächtiger als die Vereinigten Staaten“, schrieb der Schriftsteller und Journalist Nelson Rodrigues, über ihn.

Olivier Guez hat sich mit Büchern wie „Das Verschwinden des Josef Mengele“ und als Drehbuchautor des Films „Der Staat gegen Fritz Bauer“ einen Namen gemacht.

Als Chronist der brasilianischen Gesellschaft lehrt Rodrigues vieles über die Bedeutung des Massensports für die Identität der Brasilianer. Im Zuge der Verabschiedung einer demokratischen Verfassung 1946 herrschte nach Jahren der Diktatur Optimismus im Land, der sich auch in der Ausrichtung der Weltmeisterschaft 1950 und im Bau des Maracanã-Stadions in Rio de Janeiro manifestierte.

Sportlich wird jene WM für Brasilien zum Trauma. Die 1:2-Niederlage im entscheidenden Spiel gegen Uruguay vor 200.000 Zuschauern wurde als nationale Tragödie erlebt. Der Journalist Juca Kfouri schrieb von einer „Katastrophe, einem kollektiven Drama, einer nationalen Katharsis“. Nelson Rodrigues verglich die Tragweite der Niederlage gar mit dem Abwurf der Atombombe auf Hiroshima. In seiner „Chronik der Straßenköter“ acht Jahre nach dem Debakel – kurz vor der Eröffnung der WM in Schweden – schrieb er, dass Brasilien noch immer darunter leide und durch die Enttäuschung der Glaube an sich selbst genommen worden sei.

Doch 1958 gewinnt Brasilien das Finale in Stockholm gegen die das Turnier ausrichtende Nation mit 5:2 – und der bis dato unbekannte Pelé erobert die Herzen der Fans. Nachdem er am 19. November 1969 im Maracanã sein tausendstes Tor geschossen hat, beschreibt Rodrigues es in seiner Kolumne wie folgt: „Im Ex-Maracanã trat eine ohrenbetäubende Stille ein, der die ganze Stadt lauschte. Im Augenblick des Schusses wurde Pelés Oberschenkel plastisch, elastisch, kraftstrotzend wie das hintere Bein eines Pferdes. Und als Pelé das Tor aus den Angeln hob, erhob sich das Stadion in die Lüfte.“ Das Maracanã war mittlerweile nach dem drei Jahre zuvor verstorbenen Bruder von Rodrigues benannt worden, nach Mário Filho, dem wohl stilprägendsten Sportreporter Brasiliens. „Kaum zu glauben, dass mein Vater das alles so genau gesehen hat“, sagte mir einmal Rodrigues‘ Sohn „Nelsinho“, als wir nach dem Besuch eines von seinem Vater geschriebenen Theaterstücks in São Paulo über Gott und die Welt redeten.

Während „Nelsinho“ als Gegner des 1964 an die Macht gekommenen Militärregimes im Gefängnis gelandet und gefoltert worden ist, hat Pelé angesichts der Diktatur geschwiegen. Er habe sich nie für Politik interessiert sagte er. Die Machthaber sonnten sich im Glanz der drei WM-Erfolge der Seleção. Mit dem damaligen Diktator Emilio Medici traf sich Pelé 1969 zum Fototermin. Sein Teamkollege Paulo César sagte: „Nur eine Äußerung von Pelé gegen die Diktatur hätte viel bewirkt.“

Fabio Rodrigues Pozzebom/ABr/Wikimedia Commons

Guez spart den in Brasilien nach wie vor verbreiteten Rassismus nicht aus. In den 1920er-Jahren mussten sich dunkelhäutige Spieler wie Carlos Alberto von Fluminense aus Angst vor rassistischen Beleidigungen die Gesichter mit Reispuder einreiben. Selbst der erste Star Brasiliens, Arthur Friedenreich (1892-1969) durfte zunächst nicht in der brasilianischen Nationalmannschaft spielen und glättete sich sein gekräuseltes Haar vor Spielbeginn. Guez weist außerdem darauf hin, dass der dritte WM-Sieg 1970 in Mexiko von den Militärs instrumentalisiert wurde. Auch heute ist das kanariengelbe Trikot der Nationalmannschaft ein Symbol von Rechten wie jenen Bolsonaro-Anhängern, die vergangenen Sonntag den Kongress, den Regierungssitz und den obersten Gerichtshof in Brasília gestürmt haben. Aktuelle Nationalspieler und Ex-Profis warben offen für den rechtsextremen Präsidenten. Nur wenige stellten sich dem entgegen, wie Juninho, ehemaliger Spieler von Vasco da Gama und Olympique Lyon. Letzterer steht in der Tradition von Sócrates, der einst bei Corinthians São Paulo die „Democracia Corinthiana“ begründete, ein demokratisches Modell und sich zusammen mit seinem Mitspieler Wladimir aktiv gegen die Diktatur engagierte.

Guez beschreibt in seinem Buch auch die Figur des „malandro“, eines Nachfahren von Sklaven, der sich durchs Leben schlägt, ohne Verbrecher zu sein, der aber gelegentlich krumme Dinger dreht und sich Tricks ausdenkt. Der Malandro und der Dribbler beherrschen die Kunst des Ausweichens, ähnlich wie ein Capoeira-Tänzer. Sie führen ihre Gegner in die Irre, beim Fußball wie im richtigen Leben. Und im „Dribbeln spiegelt das Wesen Brasiliens“.

Der Malandro findet in Argentinien seine Entsprechung in „el pibe“, einem „durchtriebenen, individualistischen Burschen mit einem unberechenbaren, kreolischen Spielstil und einem Faible für das Dribbling, das die Argentinier ‚gambeta‘ nennen“. Guez bezeichnet Fußball gar als die „Religion der Argentinier“.

Sein Teamkollege Paulo César sagte: „Nur eine Äußerung von Pelé gegen die Diktatur hätte viel bewirkt.“

Kaum eine Metropole hat mit etwa 20 Proficlubs eine größere Dichte an bedeutenden Vereinen wie Gran Buenos Aires. „Mit ihren abblätternden Farben, den morschen Holzsitzen und ihrer modernistischen Betonarmierung erzählen die Stadien von Buenos Aires vom Fußball vergangener Zeiten“, schreibt der Autor. In den Barrios der Immigranten entstand der Nährboden für die großen Clubs. Sie übten große Anziehungskraft auf sagenumwobene Figuren wie Imre Hirschl aus, einem jüdischen Ungarn, der die dribbelnden „pibes“ zu Gemeinschaftsgeist und Doppelpässen animierte und das Fundament für eine der besten Mannschaften in der Geschichte des Fußballs legte: „La Máquina“, wie das Team von River Plate der 1940er-Jahre genannt wurde.

Von der Generation um Omar Sivori, die man wegen ihres flegelhaften Auftretens die „Engel mit den schmutzigen Gesichtern“ nannte, über die Abwehrrabauken von Estudiantes de la Plata um Carlos Bilardo mit ihrem ultradefensiven Spiel führt der Weg des argentinischen Fußballs zu Trainer César Luis Menotti mit seiner Idee vom „linken Fußball“, der die „Albiceleste“ (die Himmelblau-Weißen) in der Heim-WM 1978 während der schlimmsten Militärdiktatur zum ersten Weltmeistertitel führte. Schließlich Maradona, dem Argentinien den zweiten Titel verdankte. Maradona, der „fehlbare Gott“, ein „Held à la Rimbaud“, wie Guez schreibt.

Es hat schließlich weitere 36 Jahre gedauert, bis erneut ein argentinisches Genie des Fußball namens Lionel Messi mit einer großartigen Mannschaft im wohl besten WM-Endspiel aller Zeiten den dritten Titel holte. Die mythenreiche Bedeutung dieses Sports und die mit ihm verbundene Leidenschaft spiegelte sich in den Freudentränen der Spieler und ihres Trainers Lionel Scaloni wider, der den Fußball seines Landes um ein glorreiches Kapitel reicher machte. „Die ärmsten Argentinier identifizieren sich übermäßig mit den Fußballern, weil sie erstmals im Leben eine Chance haben, zu gewinnen“, wie Guez hierzu schreibt: „Und wenn die Nationalelf ein internationales Turnier bestreitet, findet die entzweite Gesellschaft zusammen und feiert.“ So liefert der Fußball zugleich den Kit, um soziale Wiedersprüche zuzukleistern.

Olivier Guez: Lob des Dribbelns. Aufbau Verlag, 170 Seiten.

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