Suizidprävention: Über Suizidalität sprechen lernen

von | 23.10.2025

Mitte Oktober startet eine neue Fortbildungsreihe in Luxemburg, Ihr Ziel? Möglichst viele Personen darin anzuleiten, wie sie Menschen in suizidalen Krisen begegnen können. Eine Reportage über eine Fortbildung, die Leben verändern will.

Die Ligue Santé Mentale schult in einer neuen Fortbildungsreihe Menschen darin, Anzeichen suizidaler Krisen zu erkennen. (Foto: Hannah Busing/Unsplash)

Mittwochmorgen, 8:30 Uhr: Das Foyer des modernen Bürogebäudes gegenüber dem Schwimmbad in Bonneweg ist noch leer. Ein Blick auf das Schild neben dem Fahrstuhl verrät, dass die „Ligue Santé Mentale“, kurz Ligue, in diesem Haus drei Etagen belegt. Die Abteilung Weiterbildung ist im zweiten Stock. Auf dem Weg dorthin gesellt sich ein junger Mann zur Suche dazu. Eric* arbeitet als Psychologe in Luxemburg und irrt, zum Glück, genauso durch das Gebäude – zusammen fühlt man sich gleich weniger verloren. Im zweiten Stock der entscheidende Hinweis: „Alle Fortbildungen finden eigentlich im Erdgeschoss statt.“

8:50 Uhr: der Raum füllt sich. Die Menschen, die heute hier zusammenkommen treffen sich zum ersten Teil einer neuen Fortbildungsreihe zur Suizidprävention in Luxemburg. Die Idee ist inspiriert durch die Arbeit von Geps, kurz für „Groupement d’études et de prévention du suicide“, die älteste suizidologische Fachgesellschaft Frankreichs. Seit 1969 setzt sie sich dafür ein, auf politischer und gesellschaftlicher Ebene Suizidprävention voranzubringen. Die Ligue hat die Inhalte für das luxemburgische Publikum angepasst und wird neben der allgemeinen Einführung zum Thema, die heute stattfindet, in den kommenden Wochen und Monaten auch spezialisierte Weiterbildungen zur Krisenintervention für professionell Tätige organisieren. Kurz vor neun sind der Fortbilder Jacques Nickels, selbstständiger Psychologischer Psychotherapeut, und Emilie Senez, Psychologin bei der Ligue, da. Sie ordnen die Tische zu einem U, und projizieren die ersten Folien auf den Bildschirm. Es kann losgehen.

Eine gemischte Gruppe

Oder nicht: „Ich weiß nicht, wieso es jetzt nicht funktioniert – gerade ging es noch“, sagt Emilie Senez ein wenig ratlos. Jede*r der schon mal an einer tagesfüllenden Fortbildung teilgenommen hat, kennt das. Mindestens ein technisches Problem steht eigentlich immer auf der Tagesordnung. Nach wenigen Minuten schafft es die Gruppe mit vereinten Kräften, das in Powerpoint integrierte Video zum Laufen zu bringen. „Volons ensemble“ lautet die Überschrift: zusammen fliegen. Eine Minute lang beobachten wir, wie ein Schwarm Stare aus tausenden Individuen ein Gebilde formt, das in ständiger Bewegung ist und wie ein einziger Organismus wirkt. „Jedes Leben zählt“, sagt Jacques Nickels, „Was wir hier sehen, ist eine Art kollektive Resilienz. Die Gruppe schützt jeden einzelnen Vogel, zusammen bilden sie einen Schutzwall gegen Gefahren. Das ist bei Menschen nicht anders.“ Emilie Senez fügt hinzu: „Die Verbindung ist die Basis für alles, darum geht es auch bei der Suizidprävention. Menschen in suizidalen Krisen haben sich zurückgezogen und empfinden kein Zugehörigkeitsgefühl mehr.“

Unsere Gruppe ist auf den ersten Blick ziemlich gemischt. Drei Mitarbeiterinnen der Ligue sind darunter; Gwen, eine junge Sozialarbeiterin, die ihr Studium in Belgien gerade beendet hat, in Luxemburg lebt und gerade auf Arbeitssuche ist; Eric, der junge Psychologe vom Anfang, der überlegt, ob er später nicht auch die Zusatzausbildung zum Psychotherapeuten machen will; und dann ist da noch Susanne, die mit jungen Geflüchteten arbeitet und sie durch Integrationskurse auf ihre berufliche Laufbahn vorbereitet. Allen gemein ist, dass sie beruflich, privat oder in ihrem Ehrenamt Menschen begegnen, die darüber nachdenken, sich das Leben zu nehmen. Sie alle sind mit einer Frage angereist: Wie kann ich diesen Menschen helfen?

Vor dem Helfen müssen wir jedoch einen Schritt zurückgehen: Wie erkennt man überhaupt, wenn sich jemand in einer Krise befindet? Emilie Senez schreibt die von den Teilnehmenden eingeworfenen Begriffe auf ein weißes Flipchart Blatt, während Jacques Nickels zu jedem ein paar Kommentare hinzufügt – über den Tag spielen die beiden sich immer wieder die Bälle zu. Das Board füllt sich schnell: „Nachlassende Körperhygiene“, „Schlafstörungen“, „erhöhte Risikobereitschaft“, „Frohe Stimmung nach längerer Niedergeschlagenheit“, „Soziale Isolation“, „Verbale Äußerungen“. „Jede*r trägt sein eigenes Leid“, fasst Nickels zusammen. Das eine typische Symptom gebe es nicht: „Schlüsselelement ist die Veränderung an sich. Sie kann sogar positiv sein, aber immer wenn eine plötzliche Veränderung auftaucht, die für die Person untypisch ist, ist Vorsicht geboten.“

12:30 Uhr: Zeit für eine Pause. Gwen öffnet ihren Laptop und beginnt gleich mit ihrer Suche nach offenen Stellen. Ein Dutzend Bewerbungen hat sie schon geschrieben. Allerdings muss sie noch etwas erledigen, bevor sie in ihrem Beruf in Luxemburg arbeiten kann. „Ich muss noch eine Prüfung ablegen, damit mein Abschluss aus Belgien auch hier anerkannt wird“, erzählt sie. „Und dann redet man von den Benelux Staaten“, witzelt Eric.

Fakten und Mythen

Im Umgang mit Menschen in suizidalen Krisen geht es darum eine Verbindung herzustellen. (Foto: Shane Rounce/Unsplash)

13 Uhr: Es geht weiter. Mit verschiedenen Modellen wird erklärt, was psychische Gesundheit ist und wie es zu einer Krise kommen kann. Viele Aspekte spielen eine Rolle, darunter Risikofaktoren, wie psychische Erkrankungen, persönliche Vorerfahrungen und Vulnerabilität, aber auch äußere Umstände und Ereignisse. Es wird schnell klar, dass die Sache nicht so einfach zu fassen ist. Genauso wenig wie das typische Symptom gibt es einen typischen Auslöser. Bei einer suizidalen Krise kommt immer aus unterschiedlichen Richtungen etwas zusammen, das das System ins Wanken bringt – in der Psychologie und der Medizin nennt man das: multifaktoriell. Krisenereignisse, wie Trennung, Verlust und Traumata, sind auch wichtige Faktoren. Susanne berichtet von ihrer Arbeit mit Geflüchteten. „Die jungen Menschen haben so viel durchlebt“, erzählt sie. „Unvorstellbar, wirklich.“ Sie sind ein Grund, weshalb sie heute hier ist.

Generell geht man davon aus, dass zwischen 18 und 40 Prozent der Bevölkerung zumindest einmal in ihrem Leben eine Phase mit Suizidgedanken erleben. Es gibt ein paar statistische Zahlen, viel spielt sich im Dunkelbereich ab. Außer in China sterben mehr Männer an Suizid als Frauen, letztere unternehmen jedoch häufiger einen Suizidversuch. Ein signifikanter Peak zeigt sich in der Gruppe der älteren Männer über 80, wobei in den letzten Jahren die Zahl der Suizide bei Frauen zwischen 20 und 35 zugenommen hat, vermutlich auch, weil in dieser Gruppe auch die Anzahl der depressiven Erkrankungen gestiegen ist. Etwa 90 Prozent der Menschen, die Suizid begehen lebten zuvor mit einer psychischen Erkrankung. „In Luxemburg gibt es dazu wenig Zahlen“, sagt Emilie Senez, „Man weiß nur, dass es jährlich etwa 60 bis 80 Suizidtode gibt.“ Eine Dunkelziffer ist auch hier anzunehmen.

Unsere Gruppe wird in zwei geteilt. Jede bekommt gängige Mythen in Bezug auf das Thema Suizid. Gemeinsam sollen wir diskutieren, wie viel Wahrheitsgehalt hinter den Aussagen steckt. Der Mythos, dass Suizidankündigungen als „Hilferuf“ zu sehen sind und nicht „ernst gemeint“ sind, ist immer noch weit verbreitet. „Die meisten Suizide werden vorher angekündigt“, sagt Nickels. „Wie müssen ganz weg kommen von diesem Gedanken des „Hilferufs“, eine Suizidankündigung oder ein Suizidversuch sind immer ernst zu nehmen.“ Diskussion entsteht auch über die Aussagen, dass es Mut erfordert, sich das Leben zu nehmen und dass Menschen, die sich in suizidalen Krisen befinden, sich dazu entschieden haben zu sterben. Bei beiden handelt es sich um ein Mythos – sie sind falsch. „Es geht nicht primär darum zu sterben, es geht darum empfundenes Leiden zu beenden.“, sagt Emilie Senez.

Die Frage aller Fragen

Zurück zum Anfang und der Frage, wie man Menschen in suizidalen Krisen helfen kann. Wir haben bereits gelernt, dass es darum geht eine Verbindung herzustellen, durch Empathie, durch das Wiederbeleben des Zugehörigkeitsgefühls. Wie geht das? „Durch richtiges Zuhören“, da sind sich Senez und Nickels einig. Hören, was die andere Person sagt, ohne schon zu überlegen, was man antworten kann. Auch Stille und Schweigen aushalten. Und dann folgt das Stellen einer klaren, an sich einfachen Frage. „Bitte steht doch einmal nacheinander auf und stellt diese Frage laut“, leitet Nickels an. Das Herz klopft schneller, einigen ist ihr Unbehagen anzumerken. Und doch steht eine*r nach der*m anderen auf und formuliert klar, offen und wertfrei. „Hast du in der letzten Zeit daran gedacht Suizid zu begehen?“

Wird die Frage mit ja beantwortet, gilt es konkret zu werden. Gibt es bereits einen genauen Plan oder handelt es sich eher um generelle Suizidgedanken? Die betroffene Person soll informiert, unterstützt und ermutigt werden, sich professionelle Hilfe zu holen. Der Rahmen der Fortbildung ermöglicht es, den Ernstfall mit Rollenspielen zu erproben. Wie formuliere ich am besten? Wie kann ich auch mich selbst dabei nicht aus den Augen verlieren, und als Helfer meine Grenzen klar aufzeigen? Nur aus einer stabilen Position heraus, kann ich die Kraft zur Hilfe aufbringen. Ziel soll es immer sein, das soziale Netz aus Angehörigen, professionellen Helfer*innen und allen anderen zu aktivieren, damit der Einzelne von den Vielen aufgefangen werden kann.

Mittwochnachmittag 16:30 Uhr: Die Fortbildung neigt sich dem Ende zu – die Gruppe ist spürbar zusammengewachsen. Auf einer der letzten Folien taucht das Bild des Vogelschwarms wieder auf. „Volons ensemble“.

„Wie ist dein LinkedIn Profil?“ fragt Eric gegen Ende der Fortbildung Gwen. „Ich hab ja schon ein paar Kontakte, wenn du möchtest, kann dir gerne weiterleiten, wenn ich von einer passenden Stelle höre.“ Gwen lächelt und nickt. Man muss nicht sofort alle Antworten kennen. Es reicht, die richtigen Fragen zu stellen und ein wenig Mut aufzubringen, um sich gemeinsam auf die Suche zu begeben.

*Die Namen der Teilnehmenden wurden zur Wahrung ihrer Anonymität geändert.
Werther versus Papageno
Es ist wichtig wertneutral über Suizid zu sprechen, das gilt auch und besonders in der medialen Berichterstattung. Sensationsheischende Titel und Artikel können zu einem signifikanten Anstieg an Suiziden führen. Dieser sogenannte Werther-Effekt – benannt nach Goethes „Die Leiden des jungen Werthers“ – in dem der Protagonist am Ende Suizid begeht, tritt zum Beispiel nach Suiziden von berühmten Persönlichkeiten auf. Eine Berichterstattung, die auf Aufklärung und Information setzt und auch Hilfestellen nennt, kann hingegen eine präventive Wirkung haben – der Papageno-Effekt, benannt nach der gleichnamigen Figur aus Mozarts „Die Zauberflöte“, die mithilfe ihres sozialen Umfelds den Weg aus der suizidalen Krise findet.
Was tun, wenn Sie oder eine Person, die Ihnen nahesteht, von Suizidalität betroffen ist?
Sprechen Sie darüber, ob mit einer Vertrauensperson oder einer*m professionellen Unterstützer*in (Allgemein- mediziner*in, Psycholog*in, Psychotherapeut*in oder Psychiater*in). Für junge Menschen bietet das Kanner- Jugendtelefon (KJT) unter der Nummer 116 111 kostenlos und anonym Hilfe an. Weitere Hilfsangebote und erste Ansprechpartner*innen gibt es bei SOS Détresse unter der Nummer 45 45 45 oder online unter www.prevention-suicide.lu (ein Angebot der Ligue Santé Mentale). Zögern Sie nicht im Akutfall die 112 zu wählen. Die Ligue ist in Luxemburg eine wichtige Ansprechpartnerin rund um die Themen psychische Erkrankung und Suizidprävention. Neben der neuen Fortbildung zum Thema werden hier auch regelmäßig Erste-Hilfe-Kurse bei psychischen Erkrankungen angeboten. www.llhm.lu

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