Der vermeintliche Friedensprozess, den die türkische Regierung mit der kurdischen PKK begonnen hat, kommt zu einem für die Regierung denkbar günstigen Zeitpunkt. Zwischen den Oppositionsparteien CHP und der kurdischen DEM vertiefen sich die politischen Gräben.

Unterstützer*innen der DEM-Partei halten während des kurdischen Neujahrsfests in der Stadt Diyarbakir am 21. März Transparente mit dem Konterfei von PKK-Führer Abdullah Öcalan in die Höhe. (Foto: EPA-EFE/METIN YOKSU)
Seit der Bürgermeister von Istanbul, Ekrem İmamoğlu, inhaftiert und abgesetzt wurde, kommt die Türkei nicht zur Ruhe („Lange Nächte“, woxx 1830). Die Massendemonstrationen nehmen kein Ende und die Polizei greift immer härter durch. Unterdessen ist mit dem Zuckerfest das Ende des Fastenmonats Ramadan gekommen. Eine Zeit, in der man Verwandten und Freunden Höflichkeitsbesuche abstattet – eine Angewohnheit, die auch Vertreter politischer Parteien in der Türkei pflegen, die sich zum Ramadan ebenfalls gegenseitig besuchen.
Doch in İmamoğlus „Republikanischer Volkspartei“ (CHP) ist danach offenbar derzeit niemandem zumute. Sie hat alle Treffen abgesagt. Nicht so die prokurdische „Partei für die Gleichberechtigung und Demokratie der Völker“ (DEM). Eine Delegation von DEM stattete sogar der Zentrale der rechtsextremen „Partei der Nationalistischen Bewegung“ (MHP) in Ankara einen Besuch ab. Es war der erste Höflichkeitsbesuch einer prokurdischen Partei bei der MHP, die mit der „Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung“ (AKP), der Partei des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan, koaliert. Auch die AKP bekam Besuch von den kurdischen Politikern.
Der Vorgang zeigt den immer tiefer werdenden Riss, der derzeit durch die Opposition geht. Für DEM gibt es just jetzt etwas, das wichtiger ist als die Verhaftung İmamoğlus, die nur nebenher kritisiert wird: Im Mittelpunkt eines vagen Zugehens seitens der MHP auf die kurdische Opposition steht die Möglichkeit, dass der von vielen Kurden verehrte PKK-Führer Abdullah Öcalan freikommen könnte („Reden mit Apo“, woxx 1810). Der MHP-Vorsitzende Devlet Bahçeli hatte sogar eine Rede Öcalans im türkischen Parlament in Aussicht gestellt. Daraufhin konnte Öcalan Ende Februar eine Delegation der DEM-Partei auf der Gefängnisinsel İmralı empfangen und dabei eine Erklärung verlesen, in der er die PKK aufforderte, die Waffen niederzulegen und sich aufzulösen.
Insbesondere die Absichten der türkischen Regierung sind hierbei recht nebulös. Weder gibt es einen Zeitplan noch einen konkreteren Ablauf der einzelnen Schritte in einem solchen Prozess. Abgesehen von der Auflösung der PKK gibt es auch lediglich völlig unverbindliche Aussagen über weitere Ziele. Erdoğan selbst bleibt nach wie vor im Hintergrund und lässt Bahçeli machen. Der CHP-Vorsitzende Özgür Özel behauptet hingegen, Öcalans Erklärung sei ihm vom türkischen Staat formuliert worden. Die DEM reagierte zutiefst empört auf Spekulationen, Öcalan habe womöglich lediglich wiedergegeben, was man ihm zum Vorlesen vorgelegt hatte.
Erdoğan jedenfalls braucht die Unterstützung von DEM, nicht nur um die Proteste wegen der Verhaftung İmamoğlus möglichst kleinzuhalten. Eine weitere Amtszeit steht Erdoğan nach der Verfassung nicht zu. Doch ein Präsident, der sich als Erstes nach seinem Amtsantritt 2014 einen Palast bauen ließ, hatte womöglich nie vor, da so einfach wieder auszuziehen.
Um sich eine weitere Amtszeit zu ermöglichen, hat Erdoğan zwei Möglichkeiten. Er könnte die Verfassung ändern lassen; dafür bräuchte er im Parlament eine Zweidrittelmehrheit. Auch mit den Stimmen der DEM-Partei würde er nur eine Dreifünftelmehrheit erreichen. Die würde ihm aber immerhin die Möglichkeit geben, eine Verfassungsänderung nach der Abstimmung im Parlament in einem Referendum von den Wählern absegnen zu lassen. Mit einfacher Mehrheit ohne DEM könnte er das nicht.
Erdoğan braucht die Unterstützung der kurdischen DEM, nicht nur um die Proteste wegen der Verhaftung des Istanbuler Bürgermeisters möglichst kleinzuhalten.
Die andere Möglichkeit wäre, mit einer parlamentarischen Dreifünftelmehrheit Neuwahlen zu erwirken. Das Parlament und der Staatspräsident müssten dann neu gewählt werden. In diesem Fall dürfte Erdoğan, weil seine reguläre Amtszeit noch nicht vollendet ist, erneut antreten. Diesen Weg würde er aber sinnvollerweise erst später einschlagen, da er noch gut drei Jahre reguläre Amtszeit vor sich hat.
Erdoğans Fahrplan könnte daher so aussehen: Erst wird mit Hilfe von DEM eine Verfassungsänderung beschlossen. Über diese wird dann ein Referendum anberaumt, eventuell kombiniert mit Neuwahlen. Als typische Kreation Erdoğans könnte die Vorlage für die Abstimmung so ausgestaltet sein, dass die Kurden, aber auch weitere Gruppen, beispielsweise Islamisten, jeweils ein heißersehntes Ziel darin wiederfinden. Solcherlei Reformen könnten dann als der eigentliche Zweck der Verfassungsänderung dargestellt werden, während die für Erdoğan wichtigen Teile in möglichst komplizierten Regelungen versteckt wären. Genau so hat er es schon beim Verfassungsreferendum von 2010 gemacht: Neben der Stärkung der Rechte von Gewerkschaften und Frauen beinhaltete dieses auch eine vielkritisierte Justizreform.
Indessen halten die Massenproteste für die Freilassung İmamoğlus an. Für die Demonstrierenden dürfte es jedoch schwierig werden, die von Erdoğan gesteuerte Justiz zu zwingen, İmamoğlu doch zu erlauben, als Präsident zu kandidieren.
Auf den ersten Blick sieht es so aus, als könne die CHP die nächste Präsidentschaftswahl auch ohne İmamoğlu gewinnen. Bei den landesweiten Kommunalwahlen vor einem Jahr zog sie mit 37,8 Prozent erstmals an Erdoğans AKP vorbei, die 35,5 Prozent erhielt, wobei Erdoğan allerdings nicht auf dem Wahlzettel stand. Auch Erdoğans Taktik, ständig prominente Politiker der eigenen Partei kaltzustellen, die er als interne Konkurrenz wahrnimmt, wie etwa den langjährigen Bürgermeister von Ankara, Melih Gökçek, könnte sich als Bumerang erweisen. Das nämlich beraubt ihn bei Kommunalwahlen zugkräftiger Kandidaten.
Auf den ersten Blick sieht es so aus, als könne die CHP die nächste Präsidentschaftswahl auch ohne İmamoğlu gewinnen.
Überdies wurde die CHP in den Metropolen auch von vielen Kurden unterstützt. Für die Präsidentschaft bräuchte die CHP einen Kandidaten, der für ihre Stammwählerschaft ebenso wie für prokurdische und islamisch orientierte Wähler akzeptabel wäre – und da hat sie nur İmamoğlu. Wenn er sich einen Politiker ausdenken müsste, der Erdoğan schlagen könnte, dann wäre es İmamoğlu, formulierte es der Soziologe Berk Esen von der Sabancı-Universität in Istanbul vor kurzem in einem Fernsehinterview.
Als Ersatz für İmamoğlu steht der Bürgermeister von Ankara, Mansur Yavaş (CHP), bereit. Doch dessen Verhältnis zu den kurdischen Parteien war noch nie gut. Auf einer Kundgebung zur Unterstützung İmamoğlus forderte er jüngst, die Polizei solle härter gegen kurdische Nationalisten vorgehen, anstatt „Zuckerwatte“ an diese zu verteilen. Yavaş dürfte es deshalb schwer haben, kurdische Stimmen zu gewinnen. Außerdem hat die Staatsanwaltschaft gerade ein Untersuchungsverfahren gegen Mitglieder der Stadtverwaltung von Ankara wegen des Verdachts auf Korruption bei der Vergabe von Konzertgenehmigungen eröffnet. Das Verfahren betrifft Yavaş zwar nicht direkt, aber so etwas kann sich rasch ändern.
Statt Yavaş könnte der Vorsitzende der CHP, Özgür Özel, als Kandidat antreten. Doch er verkörpert vor allem die traditionelle, kemalistische CHP und dürfte es sowohl bei der islamisch orientierten als auch bei der kurdischen Wählerschaft schwer haben.
Ohne İmamoğlu steht die Opposition also vor einem Problem. Doch auch Erdoğan sieht sich Herausforderungen gegenüber. Seinen schlimmsten Gegner, die Währungsinflation, kann er nicht einfach verhaften lassen. Auch ist die Frage, ob ihm die Mobilisierung Öcalans bei der DEM-Wählerschaft ebenso viel helfen wie gegenüber der DEM-Parteiführung selbst.
Schon einmal hat sich Erdoğan dabei verrechnet: 2019 wurde İmamoğlus Wahl zum Bürgermeister Istanbuls zunächst aus fadenscheinigen Gründen annulliert und dann wiederholt („Wählen bis zum Sieg“, woxx 1528). Erdoğan hatte bereits damals versucht, kurdische Wähler anzusprechen. Öcalan schrieb einen Brief, in dem er die Kurden, die zuvor İmamoğlu unterstützt hatten, dazu aufrief, nun neutral zu bleiben. Trotzdem konnte İmamoğlu seinen Vorsprung ausbauen.
Manchmal könnte man meinen, es sei in der türkischen Politik alles schon einmal dagewesen. Dass sich eine kurdische Partei und die AKP an Ramadan Höflichkeitsbesuche abstatteten, sah man zuletzt 2015. Kurz zuvor hatte Öcalan schon einmal verkündet, die PKK solle die Waffen niederlegen und sich auflösen. Doch bald darauf behauptete Erdoğan, es gebe keine kurdische Frage, und brach den damaligen Friedensprozess abrupt ab. Gleichwohl glauben zahlreiche kurdische Politiker, dass er es diesmal ernst meine, denn schließlich sieht auch Öcalan das so.