Seit dem Sturz des autoritären Präsidenten Ben Ali ist die tunesische Wirtschaft massiven Problemen ausgesetzt: Staatsverschuldung, hohe Arbeitslosigkeit und schwaches Wirtschaftswachstum werden nicht gebessert durch internationale Kredite, die gleich wieder in die Schuldentilgung fließen. Die sozialen Konflikte verschärfen sich.
Investoren dringend gesucht! Um der schwächelnden Wirtschaft des Landes auf die Sprünge zu helfen, will die tunesische Regierung am 29. und 30. November in Tunis eine internationale Konferenz mit privaten und staatlichen Investoren aus aller Welt namens „Tunesien 2020“ abhalten. Diverse Minister schwärmten aus und machten in den vergangenen Wochen in New York, Washington, London, Frankfurt, Mailand, in Tokio und Seoul sowie in den Golfmonarchien Werbung für die Konferenz. Das wirtschaftspolitische Ziel ist hoch gesteckt, wie aus dem Nationalen Plan 2016-2020 hervorgeht, der auf der Konferenz vorgestellt werden soll: Er soll die Voraussetzungen schaffen, damit ab 2020 die tunesische Wirtschaft um mindestens vier Prozent pro Jahr wächst.
Doch das ist Zukunftsmusik. Zunächst hat die neue Regierung Tunesiens ein anderes Problem. Mitte Oktober hat der Ministerrat das geplante Haushaltsgesetz für 2017 vorgestellt. Nun muss es noch das Parlament, die Versammlung der Volksvertreter (ARP), passieren, wo es derzeit beraten wird. Das wird die erste Belastungsprobe für die Regierung unter Ministerpräsident Youssef Chahed, die seit Anfang September amtiert. Mit 41 Jahren ist er der jüngste der bislang sieben Ministerpräsidenten im postrevolutionären Tunesien. Er bezeichnet sich selbst als sozialliberal und ist seit September 2013 Mitglied der Partei Nida Tounès, aus deren Reihen auch der 89-jährige Präsident Béji Caïd Essebsi stammt. Die neue Regierung versteht sich als eine der „nationalen Einheit“ – sechs Parteien, inklusive der islamistischen Ennahda, stellen in ihr Minister – und will in Kooperation mit dem mächtigen Gewerkschaftsverband UGTT und dem Unternehmerverband Utica gegen die anhaltende Wirtschafts- und Finanzkrise in Tunesien vorgehen. An diesem Vorhaben sind bereits die vorherigen Regierungen gescheitert. „Wir haben kein Recht auf Irrtum mehr und müssen Tunesien aus dem wirtschaftlichen Sumpf ziehen“, sagte Chahed kürzlich, „alle Welt ist sich dessen bewusst“.
Bewusst sind sich dessen viele. Deswegen sind sie aber noch lange nicht bereit, sich zum Wohl der „nationalen Einheit“ ihre eigenen Interessen abschwatzen zu lassen.
Kaum war der Haushaltsplan der Regierung für 2017 vorgestellt, der die klamme Staatskasse entlasten soll, eröffnete der Front populaire (FP) den Reigen der Proteste. Das oppositionelle linke Parteienbündnis stellt 15 der insgesamt 217 Abgeordneten in der ARP. Vor etwa 200 Anhängern kritisierte Hamma Hammami, prominenter Sprecher des FP, auf einer Kundgebung vor dem Stadttheater von Tunis den „Sparhaushalt“ der Regierung. Dieser resultiere aus den Diktaten internationaler Institutionen, insbesondere des Internationalen Währungsfonds (IWF), während die wirklichen wirtschaftlichen Übel dem Schmuggel und der Steuerflucht geschuldet seien.
Auch der Gewerkschaftsverband UGTT wandte sich kurz darauf in einer scharf formulierten Erklärung gegen eine Regelung im Haushaltsplan, der zufolge es im kommenden Jahr im öffentlichen Dienst nur dann Lohnerhöhungen geben soll, wenn das Wirtschaftswachstum mindestens drei Prozent beträgt; im Haushaltsplan selbst werden lediglich 2,5 Prozent Wachstum für 2017 prognostiziert. Der Unternehmerverband Utica hingegen kritisiert eine Sonderabgabe von 7,5 Prozent der Einnahmen für Betriebe.
Bei den Freiberuflern haben viele der gut 7.000 Anwälte Tunesiens wegen neu vorgesehener Steuern einen Tag lang die Arbeit niedergelegt. Das war vollmundig als „Generalstreik“ bezeichnet und von einer Kundgebung vor dem Justizministerium in Tunis begleitet worden. Eine angekündigte „Woche der Wut“ indes wurde zunächst suspendiert. Die Zahnärzte haben angedroht, dem Beispiel der Anwälte zu folgen.
Die Regierung befindet sich in bestimmter Hinsicht zwischen Hammer und Amboss. Wegen des Haushaltsplans drohen schwere soziale Konflikte, andererseits drängen die internationalen Geldgeber darauf, das Haushaltsdefizit zu verringern. Das Haushaltsgesetz für 2017 sieht einen Staatshaushalt in Höhe von 32,4 Milliarden Dinar (umgerechnet etwa 15 Milliarden Euro) vor, ein Anstieg von 11,1 Prozent gegenüber den für 2016 prognostizierten Aufwendungen.
Das Kapital liebt keine Instabilität, diese aber ist eine unvermeidliche Folge der politischen Revolution, die in Tunesien stattgefunden hat.
Am 20. Mai hatte der IWF die Finanzierungsvereinbarung im Rahmen der erweiterten Fondsfazilität (EFF) für Tunesien verlängert und weitere 2,9 Milliarden Dollar bis 2020 bewilligt. Dem jüngsten Bericht des Arabischen Instituts der Unternehmenschefs zufolge dienen jedoch allein 1,7 Milliarden Dollar davon zur Tilgung des vorherigen Stand-by-Kredits, der die Liquidität des Landes sicherte. Eine erste Tranche des neuen Kredits in Höhe von 319,5 Millionen Dollar wurde freigegeben, aber die zweite Tranche in gleicher Höhe steht aus. Ihre Freigabe wird von der Reduzierung des Staatsdefizits abhängig gemacht. Insbesondere sollen Einsparungen bei den Personalausgaben gemacht werden. Diese machen rund 14 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) aus. Die Geldgeber setzten Tunesien unter einen „unerträglichen Druck“, stöhnte ein Repräsentant der tunesischen Zentralbank nach einem Treffen mit IWF-Verantwortlichen anlässlich der Jahresversammlung des Fonds in Washington am 8. und 9. Oktober.
Zwar beschloss der EU-Rat für Außenbeziehungen am 17. Oktober, die Finanzhilfe für Tunesien im kommenden Jahr zu verdoppeln. Dem nordafrikanischen Land sollen somit 2017 bis zu 300 Millionen Euro zur Verfügung stehen. Aber das ist nur ein Tropfen auf dem heißen Stein.
In den nunmehr schon fast sechs turbulenten Jahren nach dem Sturz des autoritären Präsidenten Zine al-Abidine Ben Ali im Januar 2011 wurde die Wirtschaft Tunesiens schwer in Mitleidenschaft gezogen. Das Kapital liebt keine Instabilität, diese aber ist eine unvermeidliche Folge der politischen Revolution, die in Tunesien stattgefunden hat. Anfang Oktober prognostizierte der IWF für das laufende Jahr ein Wirtschaftswachstum in Tunesien von 1,5 Prozent, das sind 0,5 Prozentpunkte weniger als noch im April vorhergesagt. Die Arbeitslosenrate liegt landesweit bei 15,6 Prozent, in den vernachlässigten Landesteilen, insbesondere im Süden, ist sie fast doppelt so hoch. Im vergangenen Jahr haben zudem jihadistische Anschläge, bei denen etwa 60 Urlauber getötet wurden, den Tourismus fast zum Erliegen gebracht. Im Staatsapparat hat sich Korruption breitgemacht, die nach Schätzungen des tunesischen Wirtschaftsblatts Réalités jährlich bis zu zwei Prozent Wirtschaftswachstum kostet.
Die informelle Ökonomie, insbesondere der Schmuggel an den Grenzen, umfasst schätzungsweise 40 Prozent des BIP. In ihr sollen eine Million Personen beschäftigt sein, während sie lediglich drei Prozent der Steuereinnahmen einbringt. Im Hinblick darauf konstatierte der Ökonom Abdeljelil Bedoui im Interview mit „Le Monde“ jüngst einen Funktionswandel dieses Sektors: Unter Ben Ali sei die informelle Ökonomie staatlich domestiziert und instrumentalisiert worden, um den durch Arbeitslosigkeit verursachten Druck auf den Arbeitsmarkt zu vermindern, so Bedoui, der lange Zeit als Berater der Leitung der UGTT fungierte und Gründungsmitglied der Tunesischen Föderation für wirtschaftliche und soziale Rechte (FTDES) ist. Gleichzeitig habe der Staat diesen Sektor reguliert, um die etablierten Interessen zu schützen. Dem Staat sei es also gelungen, den informellen Sektor unter Kontrolle zu halten. Nun sei es umgekehrt. Der Staat scheitere bei seinen Regulierungsversuchen und werde nunmehr selbst vom informellen Sektor instrumentalisiert.
Symptomatisch für die gegenwärtige Situation sind auch die Auseinandersetzungen im Minenbecken von Gafsa. Diese liegen ungefähr 350 Kilometer südlich von Tunis. Dort fördert die Compagnie des phosphates de Gafsa (CPG) Phosphat, das in dem Schwesterunternehmen Groupe chimique vor allem zu Dünger weiterverarbeitet wird. Phosphat und Dünger sind beide wichtige Exportprodukte. Der FTDES zufolge gibt es eine Besonderheit bei den sozialen Kämpfen im Minenbecken, einem „sozialen Vulkan, der jeden Moment ausbrechen kann“, wie es Firas Hamda, ein lokaler Koordinator der Union der diplomierten Arbeitslosen, ausdrückte.
Die in der UGTT organisierten Arbeiter streikten kaum, so Hamda. Es seien eher jene „außerhalb des Systems“, Erwerbslose, die Produktionsstätten oder die Eisenbahnlinie blockierten, in der Hoffnung auf einen Arbeitsplatz in der CPG oder der Groupe chimique. Das Resultat, so die FTDES: CPG und Groupe chimique seien gezwungen, „gegen jede wirtschaftliche Logik“ Einstellungen vorzunehmen, oft über periphere Strukturen wie Umweltunternehmen, die die Produktion nicht erhöhen, aber den sozialen Druck vermindern. Seit 2011 sei daher die Anzahl der Lohnabhängigen bei CPG, Groupe chimique und ihren Satellitenunternehmen von 9.000 auf 27.000 angewachsen, während die Phosphatproduktion von acht Millionen Tonnen pro Jahr auf 3,5 Millionen gefallen sei.
Die Landschaft werde bereits von zahllosen sozialen Konflikten dominiert, sagt der Ökonom Abdeljelil Bédoui, sie dürften sich mit der durch den Haushaltsplan für 2017 angekündigten Austeritätspolitik noch weiter vertiefen. Einige der Proteste seien im Wesentlichen von Nichtorganisierten getragen, was es kompliziert mache, sie mittels „sozialem Dialog“ zu entschärfen. Sie tendierten dazu, unvorhersehbarer zu werden, gewalttätiger, kostspieliger.
Wie um diese Worte zu unterstreichen, verübten vorvergangene Woche 36 Teilnehmer eines Sit-ins in Kasserine, der Hauptstadt des gleichnamigen armen Gouvernements im Südwesten des Landes, laut der alternativen Website „Nawaat“ einen spektakulären kollektiven Selbstmordversuch, indem sie große Mengen Medikamente schluckten. Der Grund dafür: Der Gouverneur habe sein Versprechen, Einstellungen vorzunehmen, nicht gehalten. Sie überlebten. Einen Job, der zumindest ihr wirtschaftliches Überleben sichert, haben sie deshalb noch lange nicht.