Ukraine
: Spaziergang 
an der Front


Die ostukrainische Millionenstadt Charkiw war eines der Hauptziele zu Beginn des russischen Angriffs ab Februar vergangenen Jahres, wurde aber vehement verteidigt. Drei Monate später gelang es den ukrainischen Streitkräften, die russischen Verbände aus der Umgebung der Stadt zu vertreiben. Mittlerweile sind viele der geflüchteten Ukrainer in die stark beschädigte Metropole zurückgekehrt und gestalten den Wiederaufbau.

Die Spuren der Zerstörung durch russische Raketen und Artillerie sind in Charkiw allgegenwärtig: Fast alle hochgeschossigen Gebäude der Stadt sind schwer beschädigt. (Foto: Lukas Latz)

Draußen heulen die Sirenen. Drinnen im Zoo in Charkiw pinkelt eine Giraffe in die Mitte ihres gläsernen Geheges. Der breite Wasserstrahl zwischen den dürren langen Beinen der Giraffe weckt Begeisterung bei den Kindern, die vor dem Gehege stehen. Sie überstrecken ihre Hälse, um den hoch hängenden Unterleib der Giraffe zu bewundern. Über die Lautsprecher wiederholt sich eine Ansage, die den Zoobesuchern empfiehlt, in den nächsten Luftschutzbunker zu gehen. So gut wie niemand folgt dieser Empfehlung, auch das schrille Sirenengeheul erschreckt niemanden. Zu normal ist das Geräusch in der Stadt. An vielen Tagen ertönt es drei bis vier Mal, dazu fast jede Nacht.

Die pinkelnde Giraffe ist für die Kinder aufregender als der Krieg. Die Szene im Zoo ist symptomatisch dafür, welche Bedeutung der russisch-ukrainische Krieg für das Alltagsleben in der ostukrainischen Metropole im Herbst 2023 hat: Er ist zwar allgegenwärtig, doch man hat sich darin eingerichtet und führt, so gut es geht, ein normales Leben. Denn auch hier müssen die Menschen arbeiten oder Kinder erziehen oder wollen sich mit Freunden in Bars und Cafés treffen.

Der Luftalarm kann aus verschiedenen Gründen ausgelöst werden, beispielsweise wenn ein Radar den Start russischer Kampfjets registriert, die meist Lenkraketen tragen. Oder auch wenn sich die Kampfhandlungen im Osten der Region Charkiw ausdehnen. Mutmaßlich sind in der benachbarten russischen Oblast Belgorod Iskander-Raketensysteme stationiert. Die Grenze ist nur 40 Kilometer entfernt – diese Distanz überfliegen russische Raketen in weniger als einer Minute. Kein Luftalarm kann schnell genug vor dieser Gefahr warnen. Und weil man gegen die Bedrohung so wenig tun kann, bringt es wohl auch nichts, sich davon verrückt machen zu lassen. Ginge man jedes Mal in einen Bunker, wenn der Luftalarm ausgelöst wird, könnte man in Charkiw keinen geregelten Alltag mehr haben.

Vor dem Angriff Russlands auf die Ukraine am 24. Februar 2022 lebten in Charkiw knapp 1,5 Millionen Menschen. In den ersten Kriegswochen flohen über 600.000 von ihnen aus der Stadt. Mittlerweile leben dort offiziellen Angaben zufolge wieder knapp 1,1 Millionen Menschen. Viele davon sind Binnenflüchtlinge aus den besetzten und frontnahen ost- und südukrainischen Gebieten. Die Eroberung Charkiws gehörte zu den ersten Kriegszielen der russischen Armee. Am 1. März 2022 wurden russische Iskander-Raketen auf das Stadtzentrum abgefeuert. Zwei davon trafen das Gebäude der Regionalverwaltung, 29 Menschen starben, Dutzende wurden verletzt. Weitere Raketen trafen ein Gebäude des ukrainischen Inlandsgeheimdiensts SBU sowie zivile Wohngebäude in der Umgebung. Die mehrgeschossigen Häuser sind bis heute unbewohnbare Ruinen.

Ginge man jedes Mal in einen Bunker, wenn der Luftalarm ausgelöst wird, könnte man in Charkiw keinen geregelten Alltag mehr haben.

Kaum eines der Gebäude im Zentrum, von denen viele im Stil des sowjetischen Konstruktivismus der 1920er- und 1930er-Jahre oder im neoklassizistischen Stil der späten Stalin-Zeit gebaut sind, ist von Bombeneinschlägen verschont geblieben. Durch Druckwellen sind im Stadtzentrum etliche Fensterscheiben zerstört worden, das Glas wurde durch Holzverschläge ersetzt. Das architekturhistorische Erbe der Stadt wirkt akut gefährdet. Innerhalb des ersten Kriegsjahrs wurden nach Angaben der Stadtverwaltung 6.116 Gebäude „beschädigt“. Was genau das im Einzelfall heißt, ist jedoch unklar. Besonders stark betroffen ist nach offiziellen Angaben die kommunale Daseinsfürsorge. So wurden rund 55 Prozent der Schulgebäude beschädigt. Schulunterricht findet in Charkiw seit Beginn der Covid-19-Pandemie aber fast durchgehend digital statt.

Auch der Zoo mit dem Giraffengehege liegt im Stadtzentrum, nur wenige hundert Meter entfernt von der zerbombten Oblastverwaltung und dem Geheimdienstgebäude. Unter der Leitung des Kochs Mikita Wirtschenko haben Freiwillige hier zwischen Februar und Mai 2022 eine Feldküche aufgebaut. In einer Zeit, als die Lebensmittelpreise in der Stadt explodierten und die Logistik des Einzelhandels zusammenbrach, wurden von hier zwei Einheiten des ukrainischen Militärs und ein Krankenhaus täglich mit drei Mahlzeiten versorgt. Wirtschenko sagt in einem Interview mit dem Medienprojekt „Ukrainer“, das Kollektiv habe im Zoo pro Woche mehrere Tonnen halbfertiger Gerichte produziert.

Die von Freiwilligen aufgebaute Feldküche ist eine typische Erscheinung der ersten Kriegswochen. Es waren maßgeblich die in Eigeninitiative handelnden Bürger Charkiws, die die öffentliche Ordnung und Verteidigungsfähigkeit aufrechterhalten haben. Eine Einzelhändlerin erzählt, wie sie sich in den ersten Wochen um die Beschaffung von Insulin und anderen lebensnotwendigen Medikamenten kümmerte, als die Apotheken der Stadt geschlossen blieben.

Ende Februar 2022 rückten Russlands Truppen bis an die Stadtgrenze von Charkiw vor. Die Stadt war zur Hälfte eingekesselt. Am schwersten erschütterten die Gefechte das nordöstliche Stadtviertel Saltywka. In den ersten Tagen des Kriegs versteckten sich die hier ansässigen Bürger in Kellern. Es gab keinen Strom, keine Heizung, kein Wasser, kaum Lebensmittel, erzählt Antuan Gniazdy. Auf seinem Handy zeigt er ein Video aus den ersten Tagen des Angriffs. Dort liegen Menschen in einem dreckigen, stockfinsteren, nur von einer Taschenlampe ausgeleuchteten Kellerraum. Sie sind eingewickelt in Schlafsäcke. Auf den Straßen liegen Leichen. Gniazdy war in den 1990er-Jahren ukrainischer Meister im Breakdance. Jetzt arbeitet er als Sozialarbeiter und gibt Breakdance-Unterricht. Zu Beginn des Kriegs ging er zur Synagoge von Charkiw, um dort seine Hilfe anzubieten.

„In den ersten Wochen hatten wir alle erwartet, dass Russland Charkiw besetzen wird“, erzählt Gniazdy, „deswegen habe ich mich um die Evakuierung von Menschen gekümmert.“ Mit seinem Kleinbus hat er insgesamt 35 Familien aus der Stadt gebracht. Tausende verließen ihre Wohnungen, um in der Metro zu leben. „Allein in der Station ‚Helden der Arbeit‘ im Stadtviertel Saltywka haben 2.000 Menschen gelebt“, berichtet er, „überall lagen Menschen. Und fast alle, die in dieser Zeit in der Metro gelebt haben, sind irgendwann krank geworden.“

Es waren die in Eigeninitiative handelnden Bürger Charkiws, die zu Beginn der Invasion die öffentliche Ordnung und Verteidigungsfähigkeit aufrechterhalten haben.

Für rund zwei Monate lebten Tausende rund um die Uhr in der Metro von Charkiw. Der Liniendienst wurde eingestellt. Stattdessen konnte man sich zwischen fünf Stationen zu Fuß durch die Tunnel bewegen. Doch das Metronetz ist nicht dafür ausgelegt, der ganzen Stadt Obdach zu gewähren. So blieben selbst in Saltywka, in unmittelbarer Nähe zur Front, viele Menschen in ihren Wohnungen.

Um Gniazdy versammelte sich eine Gruppe von Freiwilligen, die ab April 2022 zerstörte Wohnungen reparierte. „In Charkiw haben wir die Wohnungen von 300 älteren Menschen freigeschaufelt“, erzählt er. Während in unmittelbarer Entfernung Kämpfe zu vernehmen waren, hat die Gruppe um Gniazdy Schutt aus Wohnungen herausgetragen, Fenster und zum Teil auch ganze Wände notdürftig mit Holzvertäfelungen repariert, sodass man wieder darin leben konnte. „Einmal ist eine Wohnung erneut zerstört worden, einen Tag nachdem wir sie repariert hatten. Wir sind dann am nächsten Tag dorthin zurück“, sagt Gniazdy.

Er zeigt Videos von einer Raketenspitze, die seine Gruppe in den Trümmern einer Wohnung gefunden hat, und von einem Loch im Boden, das sie mit Holzplatten abgedeckt hatten. „Unter den Menschen, denen wir geholfen haben, war auch eine Holocaust-Überlebende“, sagt Gniazdy. „Sie ist 93 Jahre alt. Wir haben nach einem Bombeneinschlag ihre Wohnung freigeschaufelt. Sie konnte nicht mehr laufen. In Israel hätten sie alles getan, um ihr trotz ihres körperlichen Zustands eine Ausreise zu ermöglichen. Sie wissen ja, mit welcher Wertschätzung Israel Holocaust-Überlebenden begegnet.“ Doch die Frau habe abgelehnt. Einen Teil ihrer Möbel habe sie den Soldaten geschenkt, damit sie sie als Brennholz benutzen konnten. „Sie lebt und raucht immer noch“, sagt Gniazdy.

Im September 2022 begann die ukrainische Armee eine große Gegenoffensive. Der Großteil der Region Charkiw konnte dabei befreit werden. Seitdem befindet sich die Metropole außer Reichweite der russischen Artillerie – jedoch nicht außer Reichweite der Mittelstreckenraketen. Mittlerweile kann man entlang der Frontlinie vom Frühjahr 2022 spazieren. Auf den Bürgersteigen der Natalija-Uschwij-Straße und der Les-Serdjuk-Straße liegen bis heute Glassplitter. Fast alle hochgeschossigen Plattenbauten sind schwer beschädigt. Es fehlen Außenwände, so dass man zum Teil noch das Mobiliar plötzlich verlassener Wohnungen sieht. Ganze Balkonreihen sind ausgebrannt und eingestürzt. Einige Hochhäuser wirken einsturzgefährdet. In vielen von ihnen leben dennoch zahlreiche Menschen in provisorisch reparierten Wohnungen. Holzplatten ersetzen zerstörte Fenster, ganze Wände oder auch den Fußboden einer Wohnung.

Gelesen wird in der Ukraine weiterhin viel: Ihor Pohorjelow, kaufmännischer Direktor des Verlags Ranok, in einer Lagerhalle des 1.000 Personen beschäftigenden Betriebs. (Foto: Lukas Latz)

In der Les-Serdjuk-Straße zwischen all den Spuren der Artilleriebeschüsse hat im Juni dieses Jahres ein Craft-Beer-Laden eröffnet. Man kann hier nach belgischer und englischer Rezeptur gebraute Biere kaufen. Der Laden wirkt wie ein Symbol für die wiedererkämpfte, wenn auch fragile Ruhe in der Stadt. Das Biergeschäft fällt auch deshalb auf, weil neueröffnete Läden in den Randbezirken eher eine Ausnahme sind. Kriegsbedingt durchlebt Charkiw eine Wirtschaftskrise, die mit bloßem Auge zu erkennen ist. In Saltywka sind auf dem großen Markt an der Metrostation „Helden der Arbeit“ mehr als 50 Prozent der Einzelhandelsbuden nicht vermietet. Der Markt wurde durch Beschuss stark beschädigt. Rund ein Drittel der Buden sind ausgebrannte Ruinen. Die Plakatflächen der Stadt enthalten so gut wie keine Werbung für privatwirtschaftliche Konsumangebote. Stattdessen werben sie für psychologische Notdienste oder für farbenfrohe Tiercomics, mit denen Kinder über die Gefahr von Minen unterrichtet werden können.

Charkiw zählt zu den industriellen und kulturellen Zentren der Ukraine. Nicht zuletzt sind zahlreiche ukrainische Buchverlage hier zu Hause. Einer davon ist der Verlag Ranok, der seit 1997 existiert und rund 1.000 Mitarbeiter beschäftigt. Er ist besonders bedeutsam auf dem Markt für Schulbücher und Kinderliteratur, verlegt aber auch Belletristik sowie Sachliteratur und betreibt eine Plattform für digitales Lernen. Ihor Pohorjelow, der kaufmännische Direktor des Verlags, führt über das Werksgelände am nordwestlichen Stadtrand. Er zeigt auf einen Raketenkrater in der Nähe des Werkstors. Hier wurde im April 2023 ein Mitarbeiter des Wachdiensts durch einen Raketeneinschlag getötet. An der Außenwand der Lagerhalle sind Spuren von Artilleriebeschuss sichtbar. Zahlreiche Fenster sind zerbrochen. In der Halle arbeiten Lagerarbeiter hinter einer improvisierten Wand aus Bücherpaletten, die zusätzlichen Schutz bei einem Bombeneinschlag gewähren soll.

In den ersten Kriegswochen wusste auch bei Ranok niemand, was die Zukunft bringen würde. „Wir sind durch die Luftschutzbunker gelaufen und haben Tausende Bücher an Kinder verteilt“, erzählt Pohorjelow. „Die Kinder leiden am meisten. Sie haben Angst. Deswegen haben wir ihnen Bücher und Malsachen gegeben, um sie etwas abzulenken.“ Pohorjelow schaut grundsätzlich optimistisch auf die Wirtschaftslage seiner Branche: „Die Ukrainer kaufen weiter Bücher und lesen.“ Ein Problem sei das Fehlen öffentlicher Aufträge. „Dem Staat fehlt derzeit das Geld, Bücher für Bibliotheken aufzukaufen“, sagt Pohorjelow. Vor dem Krieg habe es eine aktive Politik gegeben, in öffentlichen Bibliotheken russischsprachige Bücher durch ukrainischsprachige zu ersetzen. Derzeit werden jedoch staatliche Mittel für drängendere Probleme gebraucht: in erster Linie für die Armee.

In Reaktion auf den Krieg mietete Ranok zwei weitere Lagerhäuser in anderen ukrainischen Regionen an, um das finanzielle Risiko bei einem Raketeneinschlag zu minimieren. Zudem hat der Verlag eine weitere neue Lagerhalle in Polen und liefert von dort an die internationale Kundschaft. Das sind in erster Linie die knapp sechs Millionen Kriegsflüchtlinge, die in andere europäische Länder gekommen sind. Mit all diesen Maßnahmen hat sich der Verlag an die neuen Bedingungen an­gepasst. Die hohen Einnahmeverluste erforderten jedoch auch Entlassung, sagt Pohorjelow.

Die Urbanisten des „Offenen Instituts“ gehen davon aus, dass der Krieg noch fünf oder zehn Jahre dauern könnte.

Oleksandr Maimeskul beschäftigt sich mit der Frage, wie die Zukunft der Stadt aussehen kann. Er ist Architekt und Dozent an der Staatlichen Akademie für Kommunalwirtschaft. Im Juli 2022 hat er mit weiteren Urbanisten das „Offene Institut“ Charkiw gegründet, um Ideen für die langfristige Entwicklung der Stadt zu erarbeiten. „Wir haben damit angefangen, als jeden Tag Raketen auf die Stadt geflogen sind“, sagt Maimeskul, „damals war jede Form von Planung sehr schwer.“ An dieser Situation hat sich nichts Grundsätzliches geändert. Es sei völlig offen, wie viele Industrieunternehmen in Charkiw bleiben werden, wie viele Menschen zurückkehren wollen. Charkiw sei vor dem Krieg eine Transitstadt zwischen Nord und Süd, Ost und West gewesen. Bis 2014 habe man Moskau in wenigen Stunden mit dem Zug erreichen können. Nun befinde sich die Stadt gleichsam auf einer Halbinsel, umgeben von einer harten, feindlichen Grenze. Von einer Transitstadt müsse sich Charkiw daher in eine Festung verwandeln. Idealerweise sollte es dabei zugleich seine Bedeutung als wissenschaftliches und industrielles Zentrum bewahren.

Für die Stadtentwicklung heißt das Maimeskul zufolge: „Wir müssen vermehrt nichtoffensichtliche Ressourcen für die Stadtentwicklung verwenden und kreativer werden. Denn es wird von allem weniger geben: weniger Einwohner, weniger Steuereinnahmen.“ Die Urbanisten des „Offenen Instituts“ gehen davon aus, dass der Krieg noch fünf oder zehn Jahre dauern könnte. Sie zerbrechen sich den Kopf, wie man unter diesen Bedingungen langfristig planen und ein möglichst angenehmes Leben in der Stadt ermöglichen kann. Eine wesentliche Prämisse dabei ist: So wie früher wird es nie wieder.

Lukas Latz arbeitet als Journalist sowie als Referent für Strukturwandelzusammenarbeit Osteuropa bei Germanwatch e.V.

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