Utopie: Die Neuerfindung Afrikas

In seinem Buch „Afrotopia“ formuliert Felwine Sarr eine kulturalistisch geprägte Kapitalismuskritik. Der afrikanische Autor fordert eine neue Vision für seinen Kontinent, verbindet dies jedoch mit einem eher unkritischen Blick auf traditionelle Gesellschaftsformen.

Entwirft ein postkoloniales Afrika, 
das sich neu erfindet: 
der senegalesische Autor und Ökonomieprofessor Felwine Sarr. (Bildquelle: Youtube)

Die junge senegalesische Preisträgerin eines Sprachwettbewerbs des „Institut français“, Bousso Dramé, schlägt nach Erhalt eines französischen Visums die erteilte Einreiseerlaubnis aus. Die Gründe dafür legt sie in einem Schreiben an den französischen Botschafter dar, unter anderem nennt sie die Respektlosigkeit, mit der sie vom Botschaftspersonal behandelt worden war.

Ein Vorfall, der 2013 für reichlich Wirbel in der Presse und in den sozialen Netzwerken sorgte. Eine junge Afrikanerin sagt: „Nein danke, ich werde Ihr Land nicht besuchen.“ Im Kontrast dazu der Françafrique-Gipfel, „bei dem die Staatschefs des afrikanischen Kontinents in den Elysée-Palast gerufen werden wie Erstklässler, denen der Lehrer eine Lektion erteilen will“, schreibt Felwine Sarr in seinem 2016 verfassten und in diesem Jahr auf Deutsch erschienen Essay „Afrotopia“.

Die Vielfalt des afrikanischen Kontinents und die gewaltigen Unterschiede zwischen den 55 Ländern sind kaum zu fassen. Dies gilt insbesondere für das nach wie vor vom Kolonialismus geprägte Afrika-Bild vieler Europäer. Selbst der Name „Afrika“, zurückgehend auf die Römer, die den Küstenprovinzen an der Mittelmeerküste den Namen nach dem dort ansässigen Berberstamm der „Afri“ gaben, ist eine Zuschreibung seitens der Europäer. Zugleich simuliert er eine Einheit. Es ist der Blick von außen, durch den Afrika als Ganzes erscheint. Besonders der „schwarze Kontinent“ der Subsahara gilt als chaotisch oder gar mysteriös. Selbst ein großes literarisches Meisterwerk wie „Herz der Finsternis“ (1899) von Joseph Conrad, das sich kritisch mit der Praxis und Wirkung der Kolonialpolitik auseinandersetzte, war vor Vorurteilen nicht gefeit.

Afrika müsse eine eigene Wirtschaftsform entwickeln, die einerseits westliche Werte enthält und andererseits afrikanische Traditionen aufgreift.

Der bis heute vorherrschende eher pessimistische Blick auf Afrika lässt sich nicht zuletzt darauf zurückführen, dass sich viele afrikanische Staaten seit ihrer Unabhängigkeit in einer Art Dauerkrise befinden. Das scheint die alten Stereotype immer wieder aufs Neue zu bestätigen, welche den Europäern einst dabei halfen, sowohl Sklavenhandel als auch Kolonialismus zu legitimieren. Afrikaner seien nicht im Stande, sich selbst zu helfen, hieß es lange Zeit. Diese Vorurteile gelten bis heute ebenso wie der Irrglaube, die Europäer hätten „den Afrikanern“ den Segen der Zivilisation gebracht. Dabei hat Afrika über Jahrhunderte einen menschlichen und ökonomischen Aderlass erlitten. Noch immer pendelt die Außenbetrachtung des Kontinents zwischen zwei Extremen hin und her: der bereits genannten pessimistischen Sichtweise vom apokalyptischen Chaos und einem prioritär vom ökonomischen Nutzenkalkül geprägten Blick auf ein kapitalistisches Eldorado, das der neokolonialistischen Ausbeutung dient.

Bis heute hat sich außerdem bewahrheitet, dass korrupte Potentaten, die nach der Unabhängigkeit in vielen Ländern Afrikas an die Macht gekommen sind, einen großen Teil der Schuld an Afrikas Krise tragen. Doch nicht nur sie, denn noch immer werden die afrikanischen Staaten von außen dominiert: Zunächst waren es vor allem die Sklavenhändler und Kolonialherren, die den Kontinent plünderten und schließlich ganz nach ihren eigenen Interessen und ohne Rücksicht auf ethnische und kulturelle Zugehörigkeiten die Grenzen zogen. Später, in den Jahrzehnten des Kalten Krieges, waren es die miteinander verfeindeten Supermächte und politischen Blöcke, die massiv Einfluss nahmen. Und heute sind es multinationale Konzerne und weiterhin die Industrieländer, für die Afrika ein unermessliches Rohstofflager und zugleich ein riesiger Absatzmarkt für Waren ist. Die heutige Marktmacht der Europäer und Amerikaner geht unter anderem auf die Ausbeutung des afrikanischen Kontinents zurück.

Im Grunde sei das die Fortsetzung des Kolonialismus mit anderen Mitteln, so Felwine Sarr in „Afrotopia“: Ob früher Sklaven nach Übersee verschleppt wurden und auf Plantagen billige Arbeitskräfte schufteten oder heute Abbaurechte für schnelles Geld verscherbelt werden – viel habe sich nicht geändert. Der 47-jährige Autor, Professor für Wirtschaftswissenschaften an der Universität Gaston Berger in Saint-Louis im Senegal und darüber hinaus auch Musiker, hat im Auftrag des französischen Präsidenten Emmanuel Macron die Modalitäten für die Rückgabe der aus Afrika geraubten Objekte vorbereitet.

In seinem Buch macht er es sich nicht einfach. Er gibt nicht nur den Europäern die Schuld, sondern wirft auch den afrikanischen Gesellschaften vor, die westliche Wirtschaftsideologie nie in Zweifel gezogen zu haben. Sie hätten sich, so behauptet Sarr, den westlichen Staaten – und heute China – gefügt. Doch vor allem der Westen habe an Autorität verloren. Umso mehr sei der Moment gekommen, nach der politischen Unabhängigkeit, bei der es sich nur um eine formelle Anerkennung der Souveränität handelte, nun auch die geistige Unabhängigkeit zu erlangen.

Aus Sarrs Sicht ist Afrikas Misserfolg darauf zurückzuführen, dass das westliche Wirtschaftsmodell und die afrikanische Kultur nicht zusammenpassen. Um diesen Standpunkt zu untermauern, bezieht sich der Autor auf den französischen Psychiater, Theoretiker und Revolutionär Frantz Fanon (1925-1961). „Ökonomie, Politik und Kultur sind drei Säulen des Gesellschaftsgebäudes, das es zu renovieren oder gar neu zu errichten gilt“, heißt es in „Afrotopia“. Die Psychologie sei die vierte Säule und „nicht weniger grundlegend“.

Fanons auf Karl Marx rekurrierende Darstellung des entfremdeten Bewusstseins, das sich in „mangelnder Selbstachtung“ und einem „gestörten Verhältnis zum anderen, in erster Linie zum Kolonisator“ äußert, bleibt bei Felwine Sarr „zutreffend und aktuell“. Ganz in Fanons Sinne fordert er eine „afrikanische Kulturrevolution“: Dafür müsse Afrika jedoch seine Minderwertigkeitskomplexe überwinden und eine eigene Wirtschaftsform entwickeln, die einerseits westliche Werte enthält und andererseits afrikanische Traditionen aufgreift. Ziel dieser Kulturrevolution müsste die „Wiederherstellung des eigenen Spiegelbilds“ sein. Afrika muss nach Sarrs Worten aufhören, den Westen zu kopieren und die Entfremdung von seiner eigenen Kultur hinter sich lassen. Dieses Pochen auf afrikanische Traditionen ist jedoch nicht als „identitärer Rückzug“ gedacht.

Vor nicht einmal 20 Jahren wurde Afrika von „The Economist“ als „hoffnungsloser Kontinent“ bezeichnet und ist ein Jahrzehnt später von derselben Zeitschrift für seinen Aufstieg gelobt worden. Doch im Gegensatz zu den marktliberalen Ökonomen denkt Sarr die Utopie, die in „Afrotopia“ steckt, nicht in den Kategorien der kapitalistischen Entwicklungsideologie und der Profitorientierung. Im Gegenteil geht es ihm darum, die europäischen Vorstellungen zu dekonstruieren. „Der Homo africanus ist kein Homo oeconomicus“, schreibt Sarr, sondern seine Motive von Handeln und Entscheiden seien geprägt von Ehre, Gabe und Gegengabe.

Felwine Sarrs Pochen auf afrikanische Traditionen ist jedoch nicht als „identitärer Rückzug“ gedacht.

Sarr fordert daher eine „Revolution der Paradigmen und Praktiken“. Sein Konzept ist weder politisch noch ökonomisch, sondern kulturell. „Wenn es einen Bereich gibt, in dem die Ausstrahlungskraft Afrikas vollkommen intakt geblieben ist, […] dann ist es der Bereich der Kultur.“ Afrika, wo in gut 30 Jahren ein Viertel der Weltbevölkerung leben wird, soll „wieder das spirituelle Zentrum der Welt“ sein, indem es sich auf seinen eigenen geistigen Reichtum besinnt und ein „afrikanisches Zivilisationskonzept“ entwickelt. Dadurch könnte Afrika sogar Modellcharakter erlangen.

„Durch eine afrikanische Stadt wie Lagos, Abidjan, Kairo oder Dakar zu gehen, ist in erster Linie ein sinnliches und kognitives Erlebnis. Der Rhythmus der Stadt erfasst einen augenblicklich. Vitalität, Kreativität und Energie tosen durch die Straßen, Chaos und Ordnung machen einander den Raum streitig; Vergangenheit, Gegenwart und Umrisse der Zukunft existieren nebeneinander. Man spürt instinktiv, wie nutzlos, abstrakt und begrenzt die auf der jährlich erzeugten Wertschöpfung (dem Bruttosozialprodukt) beruhenden Indikatoren und Wohlstandsrankings sind.“

So schön dies auch klingt: Es zeigt auch, dass Sarr einen ziemlich unkritischen Blick auf die traditionellen Gesellschaften wirft, die sich laut ihm dadurch ausgezeichnet hätten, dass „Produktion, Verteilung und Güterbesitz von einer Sozialethik bestimmt waren, deren Ziel darin bestand, allen die Grundlagen des Lebens zu garantieren“. Er favorisiert oder idealisiert gar die traditionellen Tauschbeziehungen, die nicht Selbstzweck, sondern auf Solidarität aufgebaut seien. Während in den Augen westlicher Wirtschaftswissenschaftler die informelle Ökonomie als Problem betrachtet wird, spricht Sarr von einer „relationalen“, auf menschliche Beziehungen aufbauenden und diese stabilisierende, nicht zerstörende Ökonomie. „Diese relationale Ökonomie scheint die wirkmächtigste Determinante der Tauschakte und das Gerüst der materiellen Wirtschaft zu sein“, wie Sarr schreibt.

Der Autor entwirft ein postkoloniales Afrika, das sich neu erfindet. Das Problem ist, dass er wie viele Verfechter des Panafrikanismus und wie die Denker der „négritude“ vor ihm eine kulturelle Einheit Afrikas beschwört, die es so nicht gibt. Die nordafrikanischen Länder kommen bei ihm kaum bis gar nicht vor, ebenso wenig die neuen Abhängigkeiten Afrikas wie zum Beispiel von China oder die Rolle des politischen Islams. Die Rolle der afrikanischen Frauen wird zwar angesprochen und einige Autorinnen erwähnt, aber mehr auch nicht.

Nicht zu vergessen ist, dass viele Afrikaner eine verheißungsvolle Zukunft nicht in ihrer Heimat sehen, sondern in Europa und sich auf den weiten Weg dorthin machen. Auf einen Weg, der nicht selten in der erneuten Desillusionierung oder mit dem Tod endet. An eine Veränderung im eigenen Land glauben nur wenige. „Unsere Länder sind unfähig zur Utopie“, schreibt der Soziologe Joseph Tonda. „Wenn wir uns ein perfektes Leben vorstellen, denken wir an Europa.“ Dies wollen Autoren wie Sarr ändern.

Anekdoten wie jene von Bousso Dramé, die stolz die französische Einreiseerlaubnis zurückwies, sind Zeichen eines neuen Selbstwertgefühls der afrikanischen Jugend. Vielleicht auch erste Signale einer Neuerfindung Afrikas.

Felwine Sarr: Afrotopia. 
Matthes und Seitz Berlin 2019. 176 Seiten.

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