In Venezuela hat sich der oppositionelle Parlamentspräsident Juan Guaidó zum Präsidenten erklärt. Für einen wirklichen Machtwechsel benötigt er jedoch die Unterstützung der Armee.
Der 23. Januar ist für Venezuela ein geschichtsträchtiges Datum. An diesem Tag im Jahr 1958 wurde die Militärdiktatur unter Marcos Pérez Jiménez mit einem Massenaufstand gestürzt. Die venezolanische Opposition würde das Datum gerne für ihre eigenen Zwecke vereinnahmen: als den Tag, an dem sie nach 20 Jahren Chavismus wieder die Macht übernommen hat. Ob ihr das gelingen wird, muss sich jedoch erst zeigen.
Noch Ende Dezember schien Präsident Nicolás Maduro vergleichsweise unbedrängt, und das trotz einer verheerenden Wirtschaftskrise: Im vorigen Jahr schrumpfte die Wirtschaftsleistung Schätzungen zufolge um etwa 18 Prozent. Venezuela hat die höchste Inflationsrate der Welt, seit 2015 haben nach UN-Angaben mindestens 2,3 Millionen Menschen das Land verlassen. Die Opposition ist seit Mitte 2017 intern zerstritten. Doch am 23. Januar versammelten sich die Regierungsgegner erstmals seit anderthalb Jahren wieder erfolgreich auf der Straße.
Der Mann, der binnen weniger Wochen wieder Hoffnung in die Opposition gebracht hat, ist der Parlamentsvorsitzende Juan Guaidó. Bis vor kurzem war der 35-jährige Ingenieur auch in Venezuela kaum jemandem bekannt. Seit er sich auf der oppositionellen Großdemonstration in Caracas selbst vereidigt hat, halten ihn viele jedoch für den neuen Interimspräsidenten. „Am heutigen 23. Januar schwöre ich, als ausführender Präsident formell die Kompetenzen der Nationalen Exekutive zu übernehmen, um die Usurpation zu beenden“, rief Guaidó Tausenden jubelnden Anhängern im wohlhabenden Osten der Hauptstadt zu. Anschließend kündigte er Neuwahlen an, sobald der Nationale Wahlrat (CNE) neu besetzt sei.
Bereits kurz darauf teilte US-Präsident Donald Trump per Twitter mit, Guaidó offiziell als Interimspräsidenten anzuerkennen. Rasch folgten die von Rechten regierten lateinamerikanischen Länder, darunter Venezuelas Nachbarstaaten Brasilien und Kolumbien. Weitere westliche Staaten erkannten Guaidó in den folgenden Tagen an, darunter Australien und Israel.
Auch die Europäische Union stützt den selbsternannten Interimspräsidenten, zögerte aber zunächst mit einer offiziellen Anerkennung. Auch Luxemburg schließt sich laut einer Meldung der Gratiszeitung „L’essentiel“ der Position der EU an und fordert Neuwahlen. Das Wahlverfahren vom Mai 2018 habe nicht den internationalen Standards entsprochen; man erkenne die Wahl Maduros zum Präsidenten daher nicht an, wurde das luxemburgische Außenministerium am Donnerstag vergangener Woche in dem Blatt zitiert. Die deutsche Bundesregierung sowie weitere europäische Regierungen haben Maduro am Samstag vergangener Woche zunächst eine Frist von acht Tagen gesetzt, um die Bereitschaft für Neuwahlen zu erklären.
Jenseits der Ablehnung von Maduro haben weder Guaidó noch die restliche Opposition ein überzeugendes Programm.
Von den Regierungen Kubas, Nicaraguas, El Salvadors, Mexikos, Russlands, Chinas, der Türkei und des Iran hingegen wird Maduro weiterhin unterstützt. Noch am 23. Januar brach er die diplomatischen Beziehungen zu den USA ab, denen er vorwirft, einen Putsch gegen ihn geplant zu haben. Tatsächlich ist die verfassungsrechtliche Legitimation für Guaidós Selbstvereidigung höchst prekär. Er bezog sich dabei vor allem auf Artikel 233 der Verfassung. Dieser behandelt die dauerhafte Abwesenheit des Staatspräsidenten in Fällen wie Tod, Krankheit oder Abberufung durch ein Referendum.
Die Einsetzung eines Parallelpräsidenten ist der vorläufige Höhepunkt eines Machtkampfs zwischen Regierung und Opposition, der seit dem oppositionellen Wahlsieg bei den Parlamentswahlen Ende 2015 mit harten Mitteln geführt wird. Maduros Wiederwahl im Mai betrachten Opposition und zahlreiche Staaten als illegitim, unter anderem weil potenzielle Kandidatinnen und Kandidaten nicht antreten durften. Die meisten Parteien riefen damals zum Boykott auf. Die umstrittene Verfassunggebende Versammlung (ANC), die Mitte 2017 faktisch die Funktionen des Parlaments übernahm, hatte den Wahltermin in einer Schwächephase der Opposition von Dezember auf Mai vorgezogen.
Nach Maduros erneuter Amtseinführung am 10. Januar diesen Jahres kochte der Konflikt abermals hoch und die zuvor notorisch zerstrittene Opposition versammelte sich nun hinter Guaidó. Der frühere Studierendenaktivist sitzt seit 2011 als Hinterbänkler in der Nationalversammlung und wurde am 5. Januar allein aus Mangel an Alternativen zum Präsidenten der kaltgestellten Nationalversammlung gewählt.
Bereits auf einer öffentlichen Versammlung in Caracas am 11. Januar deutete Guaidó an, als Interimspräsident bereit zu stehen, sofern er die Unterstützung der Bevölkerung, des Militärs und der internationalen Gemeinschaft hätte. Eine kurzzeitige Festnahme Guaidós durch die Geheimdienstpolizei Sebin am 13. Januar verschaffte ihm zusätzliche Popularität.
Dass ihn bisher kaum jemand kannte, scheint dabei eine seiner größten Stärken zu sein. Denn er wirkt jung und frisch, obwohl er politisch nichts Neues zu bieten hat. Jenseits der Ablehnung von Maduro und des von ihm installierten politischen Systems verfügen weder Guaidó noch der Rest der Opposition über ein überzeugendes Programm. Doch auch die von der Regierung Maduro seit Mitte vergangenen Jahres durchgesetzten Wirtschaftsreformen hatten kaum einen Effekt, jede Erhöhung des Mindestlohns wird umgehend von der Hyperinflation aufgefressen.
Es scheint sich eine Pattsituation zu festigen, in der sich weder Regierung noch Opposition aus eigener Kraft durchsetzen können. Im Inland kann sich Guaidó bisher frei bewegen und taucht in Caracas auf öffentlichen Versammlungen auf. Am Mittwoch wurde bekannt, dass der Oberste Gerichtshof des Landes eine Ausreisesperre gegen ihn verhängt und seine Konten eingefroren hat. Er sehe die Gefahr einer Inhaftierung, kommentierte Guaidó diesen Schritt. „Das ist nichts Neues. Die einzige Antwort dieses Regimes ist Verfolgung und Unterdrückung.“
Bereits am vergangenen Montag hatte die US-Regierung Sanktionen gegen den venezolanischen Staatskonzern PDVSA verkündet, dessen Einnahmen nun auf Sperrkonten landen sollen und damit den wirtschaftlichen Druck auf die Regierung Maduro erhöht.
Für einen tatsächlichen Machtwechsel ist Guaidó jedoch auf die venezolanischen Streitkräfte angewiesen. In den vergangenen Wochen hatte er die Soldaten wiederholt dazu aufgerufen, „die verfassungsmäßige Ordnung“ wiederherzustellen, und ihnen für diesen Fall eine Amnestie zugesichert.
Abgesehen von einer kurzzeitigen Erhebung einiger Nationalgardisten am 21. Januar und der Anerkennung Guaidós durch den bisherigen venezolanischen Militärattaché in den USA, José Luis Silva, verhallten die Aufrufe bisher jedoch ungehört. Der Verteidigungsminister, General Vladimir Padrino López, bekundete seit dem 23. Januar mehrfach demonstrativ seine Loyalität zur Regierung. Tatsächlich ist es unwahrscheinlich, dass die Militärführung die Seiten wechselt, da sie von einer engen politischen und wirtschaftlichen Verflechtung mit der Regierung profitiert. Unklar ist jedoch, wie es in den unteren Rängen aussieht und welche Auswirkungen weiterer Protest oder eine Eskalation der Gewalt haben könnten.
Nichtregierungsorganisationen zählten bei Protesten seit dem 21. Januar bereits mehr als 30 Tote und über 700 festgenommene Personen. Im Gegensatz zu den gewalttätigen Auseinandersetzungen im Jahr 2017 ist die Lage in den wohlhabenderen Vierteln allerdings ruhig, wenn auch angespannt. Der Menschenrechtsorganisation „Surgentes“ zufolge waren die Toten überwiegend in ärmeren Wohngegenden zu beklagen. Das offenkundige Bündnis zwischen Opposition und US-Regierung könnte Maduro dabei helfen, die eigenen Reihen zu schließen. Viele Chavistas sind von der Regierung zwar enttäuscht, würden jedoch einen rechten Putsch mit US-Unterstützung keinesfalls akzeptieren.
Unabhängig vom Ausgang des Machtkampfs verfügt keines der beiden großen politischen Lager über wirkliche Lösungen, um die politische und wirtschaftliche Krise zu überwinden. Eine weitere Eskalation könnte durch einen breiten Dialog vermieden werden. Dafür müssten beide Seiten jedoch ernsthaft zu Kompromissen bereit sein. Gerade jene Teile der Gesellschaft, die sich der Polarisierung entziehen wollen, drängen auf Verhandlungen, werden aber bisher kaum wahrgenommen. Als mögliche Vermittler boten sich bereits die Regierungen Mexikos und Uruguays an. Während sich Maduro am Mittwoch gegenüber der staatlichen russischen Nachrichtenagentur RIA erneut offen für Gespräche zeigte, erteilte Guaidó dem „falschen Dialog“ bislang eine Absage. Stattdessen kündigte er weitere Großdemonstrationen an.