Bettina Wilpert erzählt in ihrem dritten Roman „Die bärtige Frau“ von der ambivalenten Erfahrung der Mutterschaft und hinterfragt dabei die Vorstellungen von Weiblichkeit in einer patriarchalen Gesellschaft. Die Protagonistin Alex verbringt ein Wochenende bei ihrer Mutter in einem bayerischen Dorf – zum ersten Mal ohne ihr einjähriges Kind. Während sie dort mit ihrer eigenen Vergangenheit und dem Aufwachsen in der katholisch geprägten Provinz konfrontiert wird, reflektiert sie über ihr Verhältnis zu ihrem Körper, ihre Erwartungen an das Muttersein und die damit verbundenen gesellschaftlichen Rollenbilder. Eine feministische, radikale Körperlektüre.

(© Verbrecher Verlag)
Sie erinnert sich nicht, wann sie das letzte Mal allein gewesen ist. Sie steht am Fenster und schaut auf das Nachbarhaus, den kleinen Badesee dahinter, die Sonne geht gerade unter. Sie kennt diesen Anblick so gut, kaum etwas hat sich verändert, seitdem sie ausgezogen ist, nur der Gartenzaun der Nachbar*innen ist inzwischen grau und morsch. Ein Haselnussbaum wuchert die Einfahrt ihrer Mutter zu. Am Horizont erkennt sie die Alpen, ein Postkartenmotiv. Die Luft heute ist klar, keine Wolken am Himmel. Seitdem sie in München umgestiegen ist, hat sie Kopfschmerzen und hat daran gemerkt, dass heute Föhn ist. Nur an diesen Tagen sieht man die Berge, sonst bleiben sie verborgen.
Bevor das Essen fertig ist, würde sie gern ein paar Dehnübungen oder Yoga machen, ihre Mutter meinte, es dauere noch zwanzig Minuten. Yoga, um sich nach der langen Zugfahrt ein bisschen zu bewegen, ständig tut ihr alles weh. Yoga, um daran zu arbeiten, die Rektusdiastase zu schließen, diesen Spalt zwischen den geraden Bauchmuskeln, in dem sie ihre Finger versenken kann, den sie fühlen kann, wenn sie sich auf den Rücken legt, den Kopf leicht anhebt und ihre Finger etwas oberhalb des Bauchnabels in die Haut drückt. Sie hat es im letzten Jahr geschafft, die Lücke von ganzen vier Fingern auf nurmehr zwei zu schließen, hat regelmäßig, teilweise drei Mal die Woche, die Übungen gemacht, auch im Alltag darauf geachtet, sich im Bett immer über die Seite abzulegen, nie einfach gerade nach hinten fallenzulassen. Bloß nicht die gerade Bauchmuskulatur trainieren, las sie in Postpartum-Ratgebern und hörte sie weiße dünne Frauen in YouTube-Videos sagen, deren Lächeln bei den anstrengenden Bauchmuskelübungen einfror. Eine sagte, dass sie es in nur fünf Monaten geschafft habe, ihre zu schließen. Alex glaubt nicht mehr daran, dass sie den Spalt vollständig schließen können wird, sie hat keine Lust mehr, sich stets über die Seite abzulegen, sie will Crunches machen und Liegestütze, will stark sein, wenngleich sie das Gefühl hat, nie wieder so stark werden zu können wie vor der Schwangerschaft; gleichzeitig war sie nie so stark wie jetzt, das ewige Tragen des Babys, anfangs im Tuch, später in der Manduca, schließlich auf den Armen, stärkte ihre Schulter- und Nackenpartie, ihre Armmuskeln. Mütter sind die stärksten Menschen der Welt.
Ihr Körper ist das Sitzen nicht mehr gewohnt. Früher, während des Studiums, saß sie teilweise sechs bis acht Stunden am Stück in der Bibliothek, exklusive Rauchpausen. In Paulas erstem halben Jahr ging Alex jeden Tag zwei bis drei Stunden mit ihr spazieren. Mit Kind sitzt du nicht.
Sie hat auf diesen Moment gewartet, darauf allein zu sein. Doch sie hat ihn sich anders vorgestellt. Sie hatte sich Erleichterung ausgemalt, ein neues Freiheitsgefühl, das einem alten ähnelt, der Freiheit von damals auf einem Festival, diesem Gefühl morgens, als die Sonne aufging, sie zum Zelt zurücktorkelte und dabei über weite Felder blickte. Stattdessen fühlt sie sich eingeengt.

Bettina Wilpert studierte Kulturwissenschaft, Anglistik und Literarisches Schreiben in Potsdam, Berlin und Leipzig. Sie lebt als freie Schriftstellerin in Leipzig. (© Nane Diehl)
Sie hat sich vorgestellt, dass sie am ersten Wochenende, an dem Paula und sie getrennt wären, Lena in Hamburg oder Rosa in Wien besuchen würde. Ein Wochenende lang feiern, Alkohol trinken, Exzess. Stattdessen sitzt sie jetzt in ihrem alten Jugendzimmer und ist hier, um ihrer Mutter zu helfen, die die Treppe hinabgestürzt ist und sich dabei ein Bein gebrochen hat. Zum Glück ist nichts Schlimmeres passiert. Doch sie kann nicht mehr ohne Hilfe die Treppe in den ersten Stock zu ihrem Schlafzimmer hinaufsteigen, seit dem Unfall schläft sie auf der Couch im Wohnzimmer. Die ist allerdings viel zu klein und unbequem, also haben ihre Schwester Lena und sie angeboten, ein Wochenende vorbeizukommen, um das Kammerl neben der Küche auszuräumen und in ein Schlafzimmer zu verwandeln.
Im Zug hat sie recherchiert, wie viele Kilometer Paula und sie trennen würden: Von Haustür zu Haustür sind es knapp 470, so weit ist sie noch nie von ihrer Tochter, die seit Kurzem ein Jahr alt ist, entfernt gewesen. Alex vermisst Paula physisch, als hätte sie ein Körperteil verloren. Während sie das denkt, korrigiert sie sich – diesem Mutterbild will sie nicht entsprechen. Eine Mutter, die nicht ohne ihr Kind sein kann. Sie kann vier Tage von zuhause weg sein, ohne ständig an ihr Kind zu denken.
Sie kennt diesen Phantomschmerz bereits. Er befällt sie nicht zum ersten Mal. Nun ist er stärker geworden. Seit einer Woche, seitdem sie abgestillt hat, vermisst sie diesen kleinen Körper, der so oft ihren berührt hat, die Lippen, die an ihren Brustwarzen saugten, die Händchen, die sich dabei verschränkten, dieser kleine Körper, der Teil von ihr war und ihr so schnell davonwächst. Ihre Brüste sind wieder klein geworden, wie sie es vor der Schwangerschaft waren, haben jedoch die Form verändert, sehen jetzt eingefallen aus, leergesaugt.
Das letzte Mal wirklich allein gewesen ist sie in der Schwangerschaft. Bereits in den letzten Wochen vor der Geburt konnte sie nicht mehr durchschlafen, wachte mehrmals pro Nacht auf, meistens, weil sie pinkeln musste. Der Fötus breitete sich in ihr aus, ihre Gebärmutter nahm den ganzen Platz im Bauchraum ein, drückte auf die Blase, den Magen, die Lunge. Ab dem zweiten Trimester konnte sie nur noch kleine Portionen essen, da in ihren Magen kaum mehr etwas reinpasste, ständig war sie hungrig. Wenn sie die Treppe in den dritten Stock zu ihrer Wohnung nach oben ging, musste sie Pausen einlegen und nach Luft schnappen, denn ihre Lunge wurde vom Fötus eingequetscht.
Ihre Mutter hat ihr oft diese Anekdote erzählt, wie sie, als sie mit ihr, ihrem zweiten Kind, schwanger war, der Nahrung beim Wandern im Darm zuschauen konnte. Wie eine sich windende Schlange drückte sich der Darm durch die Bauchdecke hervor. Ihre Mutter erzählte, sie habe das Ganze wieder nach innen gedrückt. Auch nach der Geburt wölbte sich der Darm nach außen, als würde etwas in ihr weiterleben.
Wachte Alex nachts nicht wegen ihrer vollen Blase auf, dann davon, dass sie sich umdrehte. Sich von einer Seite auf die andere zu drehen, war keine selbstverständliche Bewegung mehr, sie musste sich dabei helfen, fasste mit einer Hand unter den Bauch und hievte ihn auf die andere Seite. Meistens schlief sie deswegen nur auf einer Seite, bewegte sich kaum im Bett, links neben ihr lag Oliver. Sie wollte den Babybauch nicht in seine Nähe bringen, er könnte sich im Schlaf unachtsam auf sie legen, das Baby quetschen.
Erst zum Ende der Schwangerschaft traute sie sich, es Baby zu nennen, nicht nur Fötus.
Manchmal wachte sie vom Strampeln oder Kicken des Babys auf. Sie hatte ihre Position leicht verändert, sich auf die andere Seite gewälzt, sich etwas tiefer in Embryohaltung in die Matratze gekuschelt und irgendein Körperteil des Babys war wohl dabei eingezwickt worden, es protestierte und strampelte sich frei. Alex drehte sich in die Ausgangslage zurück, das Baby wurde wieder ruhig, Alex war hellwach.