Verbrecher Verlag: Nerd Culture jenseits von Klischees

In „Nerd Girl Magic“ erkundet Simoné Goldschmidt-Lechner die Nerd- und Geek-Kultur aus einer nicht-weißen, nicht-männlichen Perspektive. Die Autorin zeigt, wie Fandom und Popkultur – von Magical Girls über Gaming bis Pro-Wrestling – Räume des Widerstands und der Utopie für FLINTA, BIPoC und queere Menschen sein können. Der Nerd-Begriff wird so mit intersektionalem Blick und popkultureller Analyse neu gedacht und macht deutlich: Nerd Culture war schon immer vielschichtiger und politischer, als Klischees vermuten lassen.

(© Verbrecher Verlag)

ICQ zeigt mir an, dass wieder getippt wird. anon wiederholt: send pics. Ich schicke ihm keine.

Zu diesem Zeitpunkt bin ich zwölf oder 13 Jahre alt. Wir haben noch nicht lange Internet zu Hause, das Modem spielt bei jedem Einwählen eine digitale Kakophonie. Der lange Schlusston ist befriedigend, er löst einen Druck, er durchdringt eine Barriere. We are online, baby, Teil der Matrix. Beim Surfen habe ich so viel Weitsicht, mich oft als männlich auszugeben und niemals mein echtes Alter zu verraten. Manchmal spiele ich mit meinem Andro-Alter-Ego, stelle mir vor, wie es wäre, ein Mann zu sein, ob queer oder straight – ein Wink in die Zukunft, in der ich mich nicht notwendigerweise nur als weiblich begreifen werde. Auf Foren ist das möglich. Dann gebe ich mich zum Beispiel als Elyas, 19, aus. Normalerweise bleiben die Gespräche, die ich online führe, oberflächlich. Wegen des Dōjinshi´ habe ich aber meine ICQ-Nummer herausgegeben, weil mir anon versprochen hatte, den entsprechenden Link herauszurücken.

R u real?, möchte anon jetzt wissen. Wir wissen beide, dass er die Antwort schon kennt.

Of course. Give me the link & I’ll get a camera, lol.

Okay :P.

Ich bekomme den Link, sende keine Bilder und mache ICQ sofort aus.

Im Netz lebe ich, im Gegensatz zum Rest meines Lebens, risikoreich. Ich setze mich Dingen aus, für die ich gesellschaftlich gesehen zu jung bin, die meine demisexuelle Natur jedoch nicht in erster Linie auf erotischer, sondern auf intellektueller Ebene faszinierend findet.

Ich sehe mich also dort sitzen; mich, damals, vor dem Computer. Das Verbotene ist verlockend, fasziniert mich, macht mich an. Und sicherlich kann ich das Meiste nicht richtig einschätzen, weil die Neuronen in meinem Hirn noch nicht genügend gefestigt, die Synapsen noch nicht richtig geschaltet sind.

Trotzdem.

Mein Denken ist damals vor allem den Dingen gewidmet, die ich interessant finde. Nerdy is the new sexy ist damals noch gefühlte Äonen entfernt, und so bin ich zum Beginn meiner Pubertät vor allem eins: uncool.

Simoné Goldschmidt-Lechner schreibt, übersetzt und beschäftigt sich mit (queeren) Online-Fandoms, Horror aus postmigrantischer Perspektive, Sprache in Videospielen und sprachlichen Experimenten. Sie ist seit 2022 in Theater-, Performance- und Filmprojekten aktiv und gibt das Literaturmagazin process*in mit heraus. (© Nicole Benewaah)

Meine Interessen verberge ich daher, so gut es geht. Das gelingt mir während meiner Teenie-Jahre vor allem deshalb, weil sie teilweise kompatibel mit denen des akademischen Mainstreams sind. Zum Beispiel interessiere ich mich für Shakespeare, insbesondere für Othello. Wahrscheinlich zieht mich ein möglicher Diskurs über Race und Closeted Queerness in Bezug auf die Figur des Iago an. Oder das Potenzial von Paralleluniversen. Auch das ist eine Form von Nerdiness. Wenn wir allerdings über Nerddom und Geekdom sprechen, müssen wir zwischen Mainstream-Nerddom einerseits und den übrigen Nerds und Geeks andererseits unterscheiden. Diese Linie verläuft entlang der Grenze zwischen jenen, die aus kapitalistischer Sicht als produktiv bewertet werden, d. h. etwa IT-Spezialist*innen, Physiker*innen, Mathematiker*innen und – wenn auch to a lesser degree – andere Akademiker*innen, und denen, die bestimmte Dinge, Themen und Menschen interessant finden, also Fans, die gelegentlich Teil eines Fandoms sind, und der Verwertungslogik nach als unproduktiv gelten. In der vorliegenden Auseinandersetzung geht es um Letzteres, also den unproduktiven Daseinszustand von Personen, die der Welt absichtlich abhandenkommen wollen.

Auch innerhalb der geekigen Bubble gibt es Hierarchien. Es gibt Gatekeeper, die zwischen denen unterscheiden, die beispielsweise echte, also ursprüngliche Anime-Fans seien, und denen, die viel später auf den Zug mitaufgesprungen sind. Casual Nerds, also Gelegenheitsnerds, könne es laut den Gatekeepern nicht geben. Nerds sind ja auch per Definition obsessiv. Dass die Obsession allerdings darauf ausgeweitet wird, anderen die Obsessionen abzusprechen, lässt innehalten, lässt stutzig werden. Da wir in rassistischen, patriarchalen Gesellschaften sozialisiert sind, ist auch die Welt der Nerds und Geeks betroffen: Denn Gatekeeper sind hauptsächlich jung, männlich und weiß und versuchen, den Zugang zu ihrer Welt zu kontrollieren.

Was aber, wenn man weder männlich noch weiß noch cis ist und deswegen dem stereotypen Bild eines Nerds nicht entspricht? Welche Plätze lassen sich für diese Nerds finden im digitalen Raum, im gezeichneten Raum, zwischen Panels und Sci-Fi-Serien und Fantasy-Welten?

Die Zahl an Personen, die nicht der Vorstellung des sozial unangepassten jungen Mannes entsprechen, steigt. Trotzdem sind sie vor allem eins: Störkörper, rebellische Akte, progressiv in einem Umfeld, dessen Obsession mit dem Ist-Zustand der Dinge bedeutet, dass es in einem konservativen Korsett verharrt.

In diesem Buch soll es um Nerdiness aus marginalisierter Perspektive gehen, um Widerstand gegen veraltete Ideen dessen, was Nerds dürfen und was nicht, und vor allem darüber, wer sie sein können. Ich lade ein auf eine persönliche Reise rund um das Verhältnis von mir und anderen Menschen aus marginalisierter Position zu Themen wie Anime, Fantasy, Science-Fiction, Horror, Pen & Paper und Gaming von der Jahrtausendwende bis in die Jetztzeit. Auf eine Reise durch die verschiedensten Bereiche der nerdy und geeky Erfahrung, durch ein Coming-of-Age, das geprägt ist von Pixeln und Zeichentrick und der Suche nach Repräsentation und Empowerment für marginalisierte Menschen in diesen Medien. Es geht darum, was es bedeutet, aus marginalisierter Position nerdy und geeky zu sein sowie um die Entwicklungsgeschichte einer Subkultur innerhalb einer Subkultur. Denn Nerdy Girls wie mich, weder weiß noch männlich noch angepasst, gab es schon immer. Um uns dem Thema anzunähern, tun wir das, was Nerd Girls noch besser können als klassische Nerds: alles von Grund auf auseinandernehmen.

Wie ich aussehe, möchte anon wissen.

I am your revolution, baby. I’m a nerd girl.

Auszug aus: Simoné Goldschmidt-Lechner: Nerd Girl Magic. Verbrecher Verlag, 2025. 184 Seiten.
1) Perez, Yali, »You Shall Not Pass: Fandom & The Gatekeeping of Femme Fans«, in: Fandom Spotlite, 01.02.2021. Online abrufbar unter: https://www.fandomspotlite.com/you-shall-not-pass-fandom-the-gatekeeping-of-femme-fans [letzter Zugriff: 29.11.2021].
2) Schofield, Kerry, »Not all nerds are the same«, in: Wired, 2014. Online abrufbar unter: https://www.wired.com/insights/2014/07/nerds-made/ [letzter Zugriff: 29.11.2021].

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