Viktor Orbáns Euro-Vision
: Auf Großwildjagd

In Ungarn ist seine Macht gesichert. Nun will Viktor Orbán Europa umgestalten. Dazu braucht er die Rückendeckung der Europäischen Volkspartei. Längst nicht alle Fraktionskollegen lehnen das so kategorisch ab wie der Luxemburger EU-Abgeordnete Frank Engel.

Will sich nicht unterordnen: Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán pariert Jean-Claude Juncker auf kurzer Distanz. (Fotos: EPA/Stéphanie Lecocq)

„Die Epoche der liberalen Demokratie ist zu Ende.“ Das war der zentrale Satz in Viktor Orbáns Rede im ungarischen Parlament, nachdem er dort vergangenen Donnerstag mit großer Mehrheit erneut zum Ministerpräsidenten gewählt worden war. Orbán liebt die Rhetorik der Drastik und des politischen Bruchs. Doch dieses Mal war der Adressat weniger die eigene Bevölkerung. In Ungarn hat er seine Macht mit dem Wahlsieg seiner Partei Fidesz und deren Zweidrittelmehrheit im Parlament ja eben erst eindrucksvoll konsolidiert. Nun strebt er eine Führungsrolle in Europa an.

Sein Bekenntnis zur Europäischen Union verband er vergangene Woche daher mit der Warnung vor einer „offenen Gesellschaft“. Das war nicht bloß als Hieb gegen seinen Intimfeind, den Milliardär George Soros und dessen Stiftung „Open Society“ gemeint. Er richtete sich vor allem an die Europäische Volkspartei (EVP), die neben seiner Fidesz im Europaparlament auch das Gros der übrigen konservativen Parteien in einer Fraktion versammelt. Ihr präsentierte er seine eigene europäischen Vision: „Anstatt eine liberale Demokratie wiederherzustellen, die zugrunde gegangen ist, schaffen wir die christliche Demokratie des 21. Jahrhunderts.“

Orbán als Mann, der mit der Christdemokratie den Kernbegriff des konservativen Selbstverständnisses fürs angebrochene Jahrhundert fit macht und neu definiert: Wer immer bei der EVP noch geglaubt hatte, der ungarische Ministerpräsident unterwerfe sich am Ende doch einer in Brüssel vorgegebenen Parteidisziplin, ist nun vielleicht eines Besseren belehrt.

Der luxemburgische EU-Abgeordnete Frank Engel (CSV) braucht eine solche Belehrung nicht. Ebenso nachdrücklich wie ausdauernd hat er als Mitglied der EVP-Fraktion seine ablehnende Haltung gegenüber Orbáns Kurs und seiner Partei Fidesz betont: „Ich bin der Meinung gewesen und bleibe dabei, dass diese Partei, so wie sie im Moment Politik macht, in der EVP nichts verloren hat“, so Engel gegenüber der woxx. Nach und nach haben in den vergangenen Monaten auch einige weitere EVP-Politiker den Verbleib von Fidesz in ihrer Fraktion zumindest in Frage gestellt.

Christdemokratie erneuern

Wohl auch aus diesem Grund war Viktor Orbán in der Woche vor seiner Vereidigung von der EVP-Spitze zu einem Treffen geladen worden, dessen Anlass von der Presse wahlweise als „freundliche Warnung“ oder als „Krisengespräch“ bezeichnet worden war. „Auch für Viktor Orbán gibt es rote Linien“, hatte man den EVP-Fraktionsvorsitzenden Manfred Weber von der bayerischen Christlich-Sozialen Union (CSU) zuvor zitiert. Mögliche Streitpunkte waren die rechtsstaatliche Entwicklung in Ungarn, Pressefreiheit, mutmaßlicher Missbrauch von EU-Fördergeldern und die Migrationspolitik. Was am 2. Mai allerdings tatsächlich besprochen wurde, darüber schwiegen sich die Teilnehmer des Treffens konsequent aus.

Einvernehmlich trennte man sich jedoch offenkundig nicht. „Mir wurde berichtet, dass alles schwierig gewesen sei, weil von Orbáns Seite keinerlei Bewegung stattfindet“, sagte Frank Engel am Tag danach: „Orbán ist der Meinung, er würde uns ja sehr viel bringen, es gäbe auch ausreichend Leute, die seine Haltung gut und richtig finden und deswegen sei er eigentlich ein wichtiger Flügel der EVP. Und so wird er sich dann auch weiterhin benehmen.“

Engel hat mit seiner Vermutung recht behalten. Das zeigt nicht nur Orbáns Rede bei seiner Vereidigung. „Wir sind hier, um der EVP zu einem guten Abschneiden bei den Europawahlen zu verhelfen“, meinte auch Orbáns Stabschef Antal Rogan am Montag gegenüber der Presse: „Das wichtigste Thema bei den Wahlen zum Europäischen Parlament wird die Immigration sein, und Fidesz und Viktor Orbán werden in dieser Hinsicht definitiv als am glaubwürdigsten betrachtet.“

Was Orbán also anstrebt, ist nicht weniger als den Führungsanspruch in der EU: „Jetzt gehen wir auf Großwildjagd“, sagte er im ungarischen Parlament. „Er will Stimme und Repräsentant eines souveränen Europas werden, einer Europäischen Union der Nationalstaaten“, bestätigt Stefan Bottoni, der an der Ungarischen Akademie der Wissenschaften forscht.

Bislang sei ihm das auch bemerkenswert gut gelungen, so Michael Ignatieff laut „New York Times“. Der Rektor der von der ungarischen Regierung drangsalierten Central European University (CEU) stellt fest, Orbán habe sich vom Staatschef eines Landes mit zehn Millionen Einwohnern zu einem Hauptakteur in Europa gemausert: „Ich weiß nicht, ob er ein großartiger Stratege oder nur ein Machtspieler ist.“ Damit er seinen Einfluss weiter ausbauen kann, müsse die Fidesz allerdings Teil der EVP bleiben, glaubt die „New York Times“.

Ungeachtet der von EVP-Fraktionschef Manfred Weber nicht näher definierten „roten Linien“ scheint sich Orbán dieser Unterstützung weiterhin sicher zu sein. Das mag unter anderem an seinem Wissen liegen, dass das ungarische Grenzregime für die gegenwärtige EU-Politik mindestens so wichtig ist wie jenes der Türkei. In Webers Worten hält Orbán „einen der Schlüssel für die Lösung in der Migrationspolitik in der Hand“. Seit seiner Wiederwahl treibt er die ungarische Gesellschaft daher eilig weiter in Richtung „illiberale Demokratie“. Dank Zweidrittelmehrheit will er das Land zudem per Verfassungsänderung endgültig der EU-weiten Umverteilung von Flüchtlingen entziehen.

Unter anderem setzt seine Regierung gerade eine Verschärfung des bereits bestehenden Anti-NGO-Gesetzes um. Organisationen, die sich für Migrant*innen einsetzen, müssen eine Lizenz beantragen, die sie nur erhalten, wenn sie die „nationale Sicherheit“ nicht gefährden. Wen das betrifft, ist entsprechend schwammig formuliert. Ohne Lizenz drohen Geldbußen, Spenden von ausländischen Gebern werden mit einer Steuer von 25 Prozent belegt. Selbst die Einreise von ausländischen NGO-Mitarbeiter*innen lässt sich unter Berufung auf das Gesetz verbieten.

Zivilgesellschaft kriminalisiert

Hinsichtlich seines wichtigsten Adressaten hat das als „Stopp-Soros“-Gesetz bezeichnete Projet de loi sein Ziel erreicht, noch ehe es verabschiedet ist. Am Dienstag erklärte die von Soros gegründete „Open Society Foundation“, die auch andere NGOs unterstützt, dass sie ihren Sitz in Ungarn schließen und nach Berlin umziehen wird. „Die ungarische Regierung hat unsere Arbeit verleumdet und falsch dargestellt und die Zivilgesellschaft für politische Zwecke unterdrückt“, so Stiftungspräsident Patrick Gaspard. Die von der Soros-Stiftung getragene CEU bleibt vorerst noch, bereitet aber in Wien eine Dependance vor, die im Herbst 2019 eröffnet werden soll.

Mögliche Sanktionen seitens der EU gegen Ungarn bleiben unterdessen noch wenig konkret. Zwar gibt es im Europäischen Parlament Bestrebungen, ein Verfahren wegen Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit einzuleiten, wie bereits vergangenen Dezember im Falle Polens geschehen. Im Ernstfall könnte das Orbáns Regierung dringend benötigte EU-Zuschüsse kosten. Dafür wird es jedoch auch auf die Mehrheitsverhältnisse im EU-Parlament ankommen, wo die EVP über 219 von 751 Sitzen verfügt.

Mitentscheidend für die weitere Entwicklung ist daher die Frage, ob die EVP Orbán am Ende nicht doch irgendwann die Unterstützung entzieht. Doch Parteien wie die CSU halten nach wie vor „schützend ihre Hand über den Orbán-Clan und seine Partei“, wie Frank Engel vor wenigen Wochen sagte. Nicht nur der deutsche Innenminister Horst Seehofer hat innerhalb der bayerischen Regierungspartei große Sympathien für den „lieben Viktor“. So mancher traut ihm daher vermutlich auch die Erneuerung der Christdemokratie im 21. Jahrhundert zu.

„Er ist das ‚enfant terrible‘ der EVP-Familie, aber ich mag ihn und wir finden immer eine Lösung“, hatte EVP-Präsident Joseph Daul den ungarischen Ministerpräsidenten noch im Juli 2015 paternalistisch umgarnt. Inzwischen dürfte klar geworden sein, dass Orbán sich keinesfalls als „enfant“ betrachtet, dem man, wie Jean-Claude Juncker das so gerne macht, Backpfeifen erteilen, ihn liebevoll-ironisch „Diktator“ nennen und sagen kann, wo es lang geht. Das übernimmt er lieber selbst.


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