Zur WM in Katar: Fußballpolitik mit Tradition

Von Anfang an war die Fußball-WM im Emirat Katar umstritten. Die aktuelle Politik des Fußballweltverbandes Fifa reiht sich in eine lange Liste von unrühmlichen Entscheidungen ein und zeigt, dass Menschenrechte für die Haltung der Organisation weiterhin keine Rolle spielen. Während der Golfstaat mit dem Turnier auch außenpolitische Ziele verfolgt, werden strukturelle Aspekte in der gegenwärtigen Diskussion verdeckt.

Aus Protest gegen das Regime in ihrem Land blieben sie alle stumm: Die Spieler des Teams des Iran während dessen Nationalhymne vor dem Spiel gegen England am 21. November im Khalifa International Stadion in Doha. (Foto: EPA-EFE/Neil Hall)

Sie saßen in ihren Zellen und warteten auf den Tod. Wer in die „Escuela de Mecánica de la Armada“ (Esma) verschleppt worden war, hatte kaum Chancen zu überleben. Die Mechanikerschule der Marine an der Avenida del Libertador, einer langen Ausfallstraße im Norden von Buenos Aires. diente während der argentinischen Militärdiktatur (1976-1983) als Folterzentrum. Am Sonntag, dem 24. Juni 1978 soll in den Todeszellen der Torjubel aus dem nahen Estadio Monumental zu hören gewesen sein, als Argentinien im Finale der Fußballweltmeisterschaft die Niederlande bezwang. Tausende Menschen wurden von den Schergen des Regimes entführt, gefoltert und ermordet, auch während andere sich bei der Fußball-WM amüsierten. Der Internationale Fußballverband (Fifa) ignorierte die Zustände in dem Land, obwohl in mehreren europäischen Ländern gegen die Weltmeisterschaft demons-
triert wurde.

Argentinien hatte bereits 1966 den Zuschlag für das Turnier bekommen. Daran änderte sich nichts, als zwei Wochen nach der Vergabe der demokratisch gewählte Präsident Arturo Illia zum Rücktritt gezwungen wurde und einem Militärregime weichen musste, auch nicht, nachdem es im März 1976 erneut zu einem Militärputsch kam und die grausamste Diktatur Lateinamerikas ihren Anfang nahm. „Bis 1978 hat sich Europa nicht für Argentinien interessiert“, sagt Matías Bauso. Der Journalist, Schriftsteller und Rechtsanwalt brachte vor vier Jahren ein tausend Seiten starkes Buch über die WM von 1978 als Sammlung von Interviews und Aussagen von Zeitzeugen heraus. Unter anderem deutsche Fußballspieler wollen von Diktaturopfern nichts gewusst haben, ebenso wenig ein Großteil der späteren Weltmeister aus Argentinien.

Kann die Weltmeisterschaft 1978 als „Skandal-WM“ bezeichnet werden, so ist auch das Turnier 2022 in Katar höchst umstritten. Schon die Vergabe der WM 2018 nach Russland, das bereits zu jener Zeit von Wladimir Putin autokratisch regiert wurde, in der Ostukraine einen zumindest „hybriden“ Krieg führte und unter anderem in Syrien blutig intervenierte, steht heute in einem anderen Licht. Nicht weniger umstritten war die Entscheidung für Katar: Nachdem im Dezember 2010 das Emirat sich im entscheidenden Wahlgang um die Vergabe des weltgrößten Fußballturniers für das Jahr 2022 gegen die USA durchgesetzt hatte, kamen immer wieder Diskussionen auf. Unter anderem ging es um die Hitze, die in den Sommermonaten für inakzeptable klimatische Voraussetzungen sorgen würde – bis eine Fifa-Task Force 2015 den Zeitraum November/Dezember als beste Lösung vorschlug und das Exekutivkomitee die Verlegung in die Wintermonate beschloss.

Sind die guten Beziehungen zum Westen eine Art von Lebensversicherung für die Katarer?

Zwei Jahre zuvor hatte die britische Tageszeitung „The Guardian“ schon über die Ausbeutung von ausländischen Arbeitern in dem Emirat berichtet. Allein im Sommer 2013 seien fast 50 von ihnen auf Baustellen gestorben. Im November 20a13 legte „Amnesty International“ einen 153-seitigen Bericht über systematische Ausbeutung vor. 2020 lieferte auch „Human Rights Watch“ die Ergebnisse einer Untersuchung über die Menschenrechtssituation in Katar. Fazit: „Kaum Fortschritte von Arbeitsmigranten.“

Wiederum der „Guardian“ schrieb 2021 von unwürdigen Lebensbedingungen in den Unterkünften der Wanderarbeiter. Insgesamt 6.500 von ihnen, unter anderem aus Bangladesch, Indien, Nepal, Sri Lanka und Pakistan, seien seit 2011 auf den Baustellen gestorben. Nach Angaben des WM-Organisationskomitees und von Fifa-Präsident Gianni Infantino waren es nur drei. Das berüchtigte Kafala-System sei abgeschafft worden, behauptete die katarische Regierung schon 2015. Bei Kafala handelt es sich um ein System, das insbesondere in den arabischen Golfstaaten bei Beschäftigten aus Drittstaaten angewandt wird. Ein Kafala (Bürge) behält die Pässe seiner migrantischen Angestellten ein und kann somit deren Ausreise verhindern.

Auch ein diskriminierungsfreier Mindestlohn sei eingeführt worden. Von den etwa drei Millionen Einwohnern Katars sind nur zehn Prozent katarische Staatsbürger, 90 Prozent sind Migranten. Mit der Situation der Wanderarbeiter in dem Emirat hat sich der deutsche Islamwissenschaftler Sebastian Sons beschäftigt, der unter anderem in der ARD-Dokuserie „WM der Schande“ auftrat. Er berichtet über die soziale Hierarchie auf dem von Lohndumping geprägten Arbeitsmarkt: Migranten von den Philippinen etwa arbeiten vor allem in Haushalten, Nepalesen auf dem Bau und Pakis-
taner als Taxifahrer. „Viele von ihnen kehren traumatisiert in ihre Heimatländer zurück“, weiß Sons.

Auch „Human Rights Watch“ berichtet weiter über die Situation in dem reichen Öl-Staat: Im Oktober dieses Jahres wies die Menschenrechtsorganisation einmal mehr auf die gewaltsame Diskriminierung von LGBTIQ+-Menschen hin. In Katar sind homosexuelle Handlungen verboten und können mit bis zu sieben Jahren Haft bestraft werden. Nicht-heterosexuelle Menschen müssen mit Einschüchterung und Verfolgung rechnen – und mit einer Anklage: „Es gibt Anzeichen dafür, dass Menschen wegen ihrer Homosexualität noch immer im Gefängnis sind“, bestätigt Piara Powar vom Fußball-Antidiskriminierungsnetzwerk „Fare“. Der Staat überprüfe soziale Medien und kontrolliere damit die LGBTIQ+-Community. Außerdem gebe es eine informelle Telefonhotline zur Denunziation. Transmenschen, die inhaftiert wurden, sollen zur Teilnahme an sogenannten Konversionstherapien in einer Klinik verpflichtet worden sein.

Auch werden Frauen nach wie vor benachteiligt. Sie müssen häufig die Erlaubnis eines männlichen Vormunds einholen, wenn sie heiraten oder einen öffentlichen Job annehmen wollen sowie ihren Ehestatus nachweisen, wenn sie sich gynäkologisch untersuchen lassen wollen. Derweil wurde ein Frauen-Fußballnationalteam gegründet, das jedoch lange Zeit nicht aktiv war und nicht einmal in der Fifa-Weltrangliste auftauchte. Es dient bislang vor allem als Alibi.

Die katarische Regierung weist die Anschuldigungen zurück. Sie will ihre gute Verbindung zum Westen nicht gefährden. Sowohl die einheimischen WM-Organisatoren als auch die Fifa lenken den Blick auf die Errungenschaften im Zuge des Sportereignisses, das die „nachhaltigste Weltmeisterschaft aller Zeiten“ werden soll, etwa mit dem ersten komplett demontierbaren Stadion bei einer WM, das „Stadion 974“, benannt nach der internationalen Telefonvorwahl Katars. Schließlich ist die WM für den Golfstaat von zentraler Bedeutung: „Das fossile Zeitalter mit hohen Gas- und Ölexporten geht mittelfristig zu Ende, und so will das Emirat neue Wirtschaftszweige etablieren“, erklärt der Sportjournalist Ronny Blaschke. In der Hauptstadt Doha wurde eine moderne Metrolinie in Betrieb genommen, in dem Geschäftsbezirk „West Bay“ werden Hotels, Einkaufszentren und Firmenzentralen eröffnet.

Als Journalist und Autor des Buches „Machtspieler. Fußball in Propaganda, Krieg und Revolution“ (Rezension „Die Mär vom Unpolitischen“ in woxx 1637) war Blaschke selbst dreimal in Katar und hat sich ein Bild davon gemacht, wie der kleine, von den Regionalmächten Saudi-Arabien und Iran angefeindete Staat mit den Nachbarländern wie den Vereinigten Arabischen Emiraten um Investitionen, Fachkräfte und Touristen konkurriert. Militärisch sei Katar seinen Rivalen am Golf klar unterlegen, so Blaschke: „Doch je enger die Beziehungen in den Westen sind, etwa durch Fußball, desto unwahrscheinlicher erscheint der katarischen Regierung ein Angriff der Übermacht Saudi-Arabien.“

CC BY-SA-NC Omar Chatriwala

Auch die Unterstützer der luxemburgischen Nationalmannschaft von den „M-Block Fanatics 95 Lëtzebuerg“ setzen auf Fußballentzug.

Sind die guten Beziehungen zum Westen folglich eine Art von Lebensversicherung für die Katarer? So sehen es zumindest Landeskenner wie der Politikwissenschaftler Danyel Reiche, der an der Georgetown-Universität in Doha unterrichtet: „Ohne diese Netzwerke wäre Katar vielleicht schon angegriffen worden.“ Das Emirat gibt Milliarden für seine Imagepflege aus und setzt auf „flexible“ Diplomatie. Dadurch ist es zum Machtzentrum im Nahen Osten geworden. Es förderte den Arabischen Frühling ab 2011 und pflegte den Kontakt zur Muslimbruderschaft. Zudem ließ sich 2012 der damalige Emir im Gazastreifen von der Hamas empfangen und gestattete im Jahr darauf den Taliban in Doha, ihr erstes „diplomatisches Büro“ außerhalb Afghanistans zu eröffnen. Das brachte dem Emirat in Europa kurze Zeit den Ruf ein, den Terrorismus zu fördern. Im Februar 2020 wurde in Doha auch der Rückzug der Nato-Truppen aus Afghanistan in Doha verhandelt.

In Menschenrechtsfragen liegt Katar vor Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten. Der dort ansässige Fernsehsender „Al Dschasira“ gilt vielen als journalistisches Vorzeigemodell in der arabischen Welt. Doch das Land liegt laut „Reporter ohne Grenzen“ in Sachen Pressefreiheit nur auf Platz 119 und belegt im Demokratieindex des britischen Magazins „Economist“ nur Rang 114 von 167 bewerteten Staaten. Manche hoffen gleichwohl, die aktuelle Debatte um die Vergabe von sportlichen Großveranstaltungen, Sport und Menschenrechten, könne auch etwas Positives bewirken. „Ich glaube, dass bei der WM in Katar auch unheimlich viel Kreatives freigesetzt wird“, meint Ronny Blaschke im Interview.

Diskutiert wurde zu Beginn der Woche auch viel über die „One-Love“-Kapitänsarmbinden, mit denen die Teams aus Deutschland, England, den Niederlanden, Belgien, Schweiz, Wales, Frankreich und Dänemark ein Zeichen gegen Homophobie und Rassismus sowie für Menschenrechte hatten setzen wollen. Die Fifa drohte Sanktionen an, die an der Aktion teilnehmenden nationalen Fußballverbände knickten ein – und ernten dafür jetzt weltweit viel Kritik. Das mit dem Rückzieher gesendete klägliche Signal wurde durch eine Aktion des iranischen Teams am Montag noch verstärkt. In Solidarität mit den Protesten gegen das islamische Regime in ihrem Land sangen die Spieler des Iran vor dem Spiel gegen England die iranische Nationalhymne nicht. Ihnen drohen dafür womöglich weitaus drastischere Konsequenzen als ein Verweis vom Fußballplatz.

Der WM-Fußball habe immer Widersprüche zugelassen, schrieb Holger Gertz in der „Süddeutschen Zeitung“ am vergangenen Wochenende – und: „Widersprüche haben seinen Reiz ausgemacht.“ Die SZ-Kommentatorin Dunja Ramadan betonte andererseits: „Jeder Arbeiter, der beim Bau eines WM-Stadions in Katar ums Leben gekommen ist, ist einer zu viel.“ Auch sei das Kafala-System rassistisch, schreibt sie. „Doch Katar hat Reformen auf den Weg gebracht. (…) Es tut sich etwas in der Golfmonarchie.“ Zwar sei die Kritik in Europa an vielen Missständen im Gastgeberland richtig, aber sie erscheine auch selbstgerecht. Vielen Fans passt es einfach nicht in den Kram, dass im Wüstenland der Feierformel „Fußball + Tradition + Bier = Spaß“ der Zapfhahn abgedreht wurde.

„Das Echauffieren über Katar überdeckt so viele strukturelle Probleme“, sagt Ronny Blaschke. „Wir sollten einen Blick auf unsere eigenen Strukturen werfen.“ Etwa auf die Lieferketten. Trikots und Fußbälle würden beispielsweise nicht in Luxemburg hergestellt, sondern in Bangladesch und Myanmar, so der Journalist. Und es gilt die Vergabe von Turnieren, aber darüber hinaus vor allem die Fifa zu reformieren. Deren Präsident hat zahlreiche Skandale überlebt. Infantino sprach in seiner Rede vor der Eröffnungsfeier von einer Doppelmoral der Europäer.

Angesichts des Verbots der „One Love“-Armbinde macht sich der Weltverband jedoch ziemlich unglaubwürdig. Demnach hätte die Fifa auch nicht jenes Stirnband mit der Aufschrift „People need Justice“ erlaubt, das kein Geringerer als der Mittelfeldspieler und Kinderarzt Sócrates Brasileiro Sampaio de Souza Vieira de Oliveira bei der WM 1986 in Mexiko trug. Jahre vorher hatte die 2011 verstorbene Fußballikone während der brasilianischen Militärdiktatur innerhalb seines Clubs, den Corinthians aus Sẫo Paulo, für die „Democracia Corinthiana“ gekämpft, für Demokratie und Selbstverwaltung.

„Boycott Qatar“-Schilder und -Transparente waren in vielen Stadien der Bundesliga am letzten Spieltag vor der WM zu sehen. Auch die Unterstützergruppe der luxemburgischen Nationalmannschaft von den „M-Block Fanatics 95 Lëtzebuerg“ setzt auf Fußballentzug. Dort kritisiert man nicht nur die WM in Katar, sondern die aktuellen Tendenzen im modernen Fußball. Ähnliches zu hören ist von der Facebook-Seite „Missioun Grottekick“ und den Machern des Fußball-Podcasts „Buvette“.

„Katar-Kater“ herrscht auch in zahlreichen Fußballkneipen wie im „Swamp“ in Freiburg im Breisgau, das sich für kritische und emanzipatorische Fußballkultur einsetzt. Auf groß angelegte Public Viewings wird ebenso verzichtet. Das Fanprojekt des Bundesligisten VfB Stuttgart setzt statt auf das gemeinsame Anschauen von WM-Spielen auf ein Alternativprogramm, mit Vorträgen über die Zeit des Clubs während des Nationalsozialismus oder mit einem Abend zum Thema Fankultur in Südamerika. Die Graswurzelbewegungen des Fußballs haben demnach kaum noch etwas mit dem Eventcharakter und der Gigantomanie von Fifa-Weltmeisterschaften à la Infantino zu tun. Statt der Ware Fußball soll es für sie der wahre Fußball sein.


Cet article vous a plu ?
Nous offrons gratuitement nos articles avec leur regard résolument écologique, féministe et progressiste sur le monde. Sans pub ni offre premium ou paywall. Nous avons en effet la conviction que l’accès à l’information doit rester libre. Afin de pouvoir garantir qu’à l’avenir nos articles seront accessibles à quiconque s’y intéresse, nous avons besoin de votre soutien – à travers un abonnement ou un don : woxx.lu/support.

Hat Ihnen dieser Artikel gefallen?
Wir stellen unsere Artikel mit unserem einzigartigen, ökologischen, feministischen, gesellschaftskritischen und linkem Blick auf die Welt allen kostenlos zur Verfügung – ohne Werbung, ohne „Plus“-, „Premium“-Angebot oder eine Paywall. Denn wir sind der Meinung, dass der Zugang zu Informationen frei sein sollte. Um das auch in Zukunft gewährleisten zu können, benötigen wir Ihre Unterstützung; mit einem Abonnement oder einer Spende: woxx.lu/support.
Tagged .Speichere in deinen Favoriten diesen permalink.

Kommentare sind geschlossen.