Von Fußballromantik keine Spur: Der Sport um das runde Leder wird nicht nur während internationaler Turniere wie der aktuellen Europameisterschaft politisch missbraucht. Der Journalist Ronny Blaschke nennt dafür in seinem neuen Buch „Machtspieler“ zahlreiche Beispiele.
Vom Arabischen Frühling ist in Kairo nicht mehr viel übriggeblieben. Millionen Ägypter waren 2011 im ganzen Land auf die Straße gegangen, um gegen das Regime des damaligen Präsidenten Husni Mubarak und für Demokratie zu demonstrieren. Darunter waren auch viele Ultras, organisierte Fußballfans. Mubarak wurde gestürzt, doch von den anderen Zielen der Aufständischen ist nichts Wirklichkeit geworden. Ägypten ist eine Militärdiktatur, es herrscht Repression, viele Menschen sitzen im Gefängnis oder starben bei den blutigen Auseinandersetzungen mit Sicherheitskräften. Darunter auch mindestens 150 Ultras.
Ronny Blaschke schreibt in seinem neuen Buch „Machtspieler“, wie der Fußball für Propagandazwecke benutzt wurde, als das ägyptische Nationalteam mehrmals die Afrikameisterschaft gewann. Der Autor und Sportjournalist, der für mehrere deutsche Zeitungen schreibt und sich auf Themen wie Diskriminierung und Rechtsextremismus im Fußball spezialisiert hat, Vorträge und Workshops hält sowie Mitglied der Deutschen Akademie für Fußballkultur ist, beschreibt darüber hinaus, wie die ägyptische Ultra-Bewegung entstand, die „für Hoffnung, Opferbereitschaft, sogar für Revolution“ steht, aber auch „für Enttäuschung, Grabenkämpfe und Repression“. Die heutige Regierung von Präsident Abd al-Fattah al-Sisi betrachtet die Ultras als Terroristen.
Bis 2011 waren in Ägypten zehn Ultra-Organisationen entstanden, zu den ersten gehörten „Ahlawy“, die Unterstützer des landesweit beliebtesten Klubs Al Ahly. Wie groß der Anteil der Ultras am Sturz Mubaraks am 11. Februar 2011 war, ist schwer zu bemessen. Jedenfalls waren sie im Straßenkampf gut genug geschult, um die auf Kamelen in die Menschenmenge reitenden Schläger des Präsidenten zurückzudrängen. Doch knapp ein Jahr später, am 1. Februar 2012, kam es zur Katastrophe: Al Ahly trat zu einem Spiel im Stadion von Port Said an, als Hunderte Ultras der gastgebenden Mannschaft von Al Masry den Rasen und die Tribüne der Fans von Al Ahly stürmten – dabei kamen 72 Menschen ums Leben (andere Quellen sprechen von 74), fast 1.000 wurden verletzt. Als Verantwortliche für die Taten wurden 21 Beschuldigte zum Tode verurteilt, jedoch blieb ungeklärt, wer wirklich hinter dem Stadionmassaker steckte. War es womöglich ein Racheakt des Militärs für die Beteiligung der Ultras an den Ereignissen im Jahr zuvor?
Ägypten ist nur ein Beispiel von vielen für die Verstrickung des Ballsports in die Politik. Für sein Buch mit dem Untertitel „Fußball in Propaganda, Krieg und Revolution“ hat Ronny Blaschke die Situation in verschiedenen Ländern jahrelang akribisch recherchiert.
Das erste Kapitel handelt vom ehemaligen Jugoslawien. Auf der Außenfassade des Maksimir-Stadions im kroatischen Zagreb befindet sich eine Gedenktafel. Darauf sind Soldaten mit Gewehren und aufgebrachte Fans zu sehen, ebenso ein Schriftzug, der übersetzt lautet: „Für alle Dinamo-Fans, für die der Krieg am 13. Mai 1990 im Maksimir begann und mit der Hingabe ihrer Leben auf dem Altar ihrer Heimat Kroatien endete.“ An jenem Tag nämlich sollte das Spiel zwischen Dinamo Zagreb und Roter Stern Belgrad stattfinden.
„Fußball als Teil des Krieges – auf dem Balkan ist das keine Übertreibung.“
Bereits im Laufe des Tages war es in der kroatischen Hauptstadt zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen den „Bad Blue Boys“ aus Zagreb, den Fans der Heimmannschaft also, und den angereisten „Delije“, den Anhängern von Roter Stern Belgrad, gekommen. Im Maksimir, der nach dem Zagreber Stadtviertel benannten Arena, erreichte die Stimmung ihren Siedepunkt. Schon als sich die Spieler auf dem Rasen aufwärmten, begann die Situation auf den Zuschauerrängen zu eskalieren. Die beiden verfeindeten Fangruppen demolierten die Tribüne und durchbrachen die Absperrzäune. Die Polizei bekam die Situation nicht unter Kontrolle und schlug wahllos auf die Fans ein. Während die Hooligans den Platz stürmten, brachten sich die Spieler in den Kabinen in Sicherheit. Inmitten all dessen trat der Dinamo-Mannschaftskapitän Zvonimir Boban einen Polizisten. In Kroatien wurde sein Tritt nachfolgend als Symbol der Auflehnung gegen die häufig von Serben dominierten jugoslawischen Ins- titutionen gedeutet, als Fanal.
„Fußball als Teil des Krieges – auf dem Balkan ist das keine Übertreibung“, schreibt Blaschke. Noch heute entladen sich die ethnischen Konflikte auch in den Fankurven. Davon zeugen die martialischen Gemälde auf Häuserwänden und Brücken. Die gewaltsamen Zusammenstöße zwischen Fans hatten allerdings schon in den 1980er-Jahren begonnen. Während die Zagreber „Bad Blue Boys“ den kroatischen Anführer und späteren Präsidenten Franjo Tudjman unterstützten und zu den ersten Freiwilligen gehörten, die in den Krieg zwischen Kroatien und der jugoslawischen Armee zogen, rekrutierte der serbische Boss der „Delije“, Željko Ražnatovic, genannt „Arkan“, seine paramilitärische Truppe der „Tiger“ und schwor sie auf die Linie des serbischen Präsidenten Slobodan Miloševic ein. Auf das Konto der „Arkan-Tiger“ gingen während der Kriege Morde, Vergewaltigungen und Vertreibungen.
Hierbei sei erwähnt, dass die aggressiveren, eher gewalttätigen und randalierenden sowie oftmals rechtsgerichteten Hooligans von der Ultra-Bewegung zu unterscheiden sind. Allerdings sind die Übergänge fließend. Zum Beispiel werden die „Delije“ häufig als Ultras bezeichnet. Auch die ukrainischen Ultras gelten als nationalistisch. Sie beteiligten sich 2014 an der Majdan-Revolution und am Krieg im Osten des Landes, wo sie gegen prorussische Separatisten kämpften. Einige Radikalisierte unter ihnen nutzten den Fußball als „Ventil für ihren Patriotismus“, schreibt Blaschke.
Blaschke hat es mit seinem Buch geschafft, einen umfassenden analytischen Blick auf das Verhältnis von Fußball und Politik zu werfen, ohne dabei akademisch auszuufern. Die einzelnen Kapitel lassen sich jeweils wie abgeschlossene Reportagen lesen. Insgesamt ergibt sich ein Bild vom Fußball, das alles andere als verklärend ist, auch wenn das manch ein Fußballromantiker vielleicht gerne hätte. Es zeigen sich aber auch immer wieder Hoffnungsschimmer. „Machtspieler“ unterscheidet sich daher von den Büchern, die vor allem dunklen Machenschaften von Verbandsfunktionären oder Wettskandalen nachspüren, wie etwa „Football Leaks“ (2017) oder „Der gekaufte Fußball“ (2013), verkennt aber nicht den Ernst der Lage – und bleibt erfrischend abwechslungsreich zu lesen.
Der Sport als Megabusiness steht in dem Buch weniger im Vordergrund als seine Rolle als politisches Instrument.
Der Autor widmet sich nicht bloß den Stars der Branche, sondern auch weniger bekannten Protagonisten und Schauplätzen, wie zum Beispiel Ruanda, wo Fußballer zu Opfern und Tätern des Genozids von 1994 wurden und heute mit neuen Projekten wie „Espérance“ Zuversicht vermitteln: „Der Fußball hat gezeigt, was möglich ist.“ Das gilt im negativen wie im positiven Sinn.
In Israel etwa ist der Ballsport eine Plattform für Feindseligkeit, aber auch für eine mögliche Annäherung zwischen Juden und Palästinensern. Blaschke, der für die einzelnen Kapitel mit zahlreichen Sportlern, Fans, Funktionären und Politikern ebenso wie mit Wissenschaftlern und Journalisten gesprochen hat, beschäftigt sich mit den antisemitisch motivierten Angriffen auf israelische Fußballer, aber auch mit den Problemen ihrer palästinensischen Kollegen. Es ist eine Vielzahl von Blickwinkeln, aus denen er den Fußball als gesellschaftliches und politisches Phänomen untersucht, ob als „Spiegelbild“ oder als „Vergrößerungsglas“. Der Sport als Megabusiness steht in dem Buch weniger im Vordergrund als seine Rolle als politisches Instrument. Auch nicht die Korruption als Schmiermittel, obwohl selbst Deutschland als Austragungsort der Fußballweltmeisterschaft von 2006 mit unlauteren Mitteln erkauft wurde.
In manchen Regionen ist der Fußball eng mit Unabhängigkeitsbewegungen verknüpft, etwa im Baskenland, ebenso der Separatismus Kataloniens mit dem FC Barcelona; dagegen symbolisiert Real Madrid für viele den spanischen Zentralstaat, die Monarchie und die frühere Diktatur.
Barças einstiger Präsident Josep Sunyol wurde von Francos Schergen erschossen. Für den Schriftsteller Manuel Vázquez Montalbán ist der Klub die „unbewaffnete Armee Kataloniens“ und eine „republikanische und laizistische Religion“. Johan Cruyff entschied sich einst gegen Real und für Barcelona. Er sagte, er könne nicht für einen Verein spielen, der mit Franco in Verbindung gebracht wird. Ein Verfechter der katalanischen Unabhängigkeit ist der ehemalige Barça-Spieler und Coach Pep Guardiola. Und als die frühere Barça-Ikone Luís Figo 2002 im Trikot von Real ins Stadion seiner einstigen Mannschaft zurückkehrte, flogen Steine und ein Schweinskopf.
Auch in Syrien wurde der Fußball extrem politisiert. Als sich im Bürgerkrieg der Sieg von Machthaber Baschar al-Assad abzeichnete, kehrten die Fans in die dortigen Stadien zurück. Nur dürfen sie sich heute nicht mehr als Ultras bezeichnen, weil das nach Rebellion klingt. Banner und Gesänge wurden verboten. Der in Deutschland lebende syrische Ultra Nadim Rai, der des Öfteren gemeinsam mit Blaschke Vorträge hält, weist darauf hin, dass al-Assad, vorher kaum als Fußball-Fan bekannt, den Kult ums runde Leder mittlerweile zu nutzen weiß. Während des Krieges spielte die Nationalmannschaft in Südostasien, syrische Zuschauer zeigten ein Banner mit einem Porträt des Diktators und machten so Propaganda für ihn. Unterdessen wurden während des Krieges Spieler gefoltert und ermordet. Ex-Nationalspieler Jihad Quassab beispielsweise wurde 2014 verhaftet und starb zwei Jahre später in einem Militärgefängnis. Torwarttalent Abdul Baset al-Sarout stellte sich gegen al-Assad und trat der Freien Syrischen Armee bei. Er soll bei Gefechten getötet worden sein.
Eigentlich hat der Weltverband FIFA die politische Instrumentalisierung des Fußballs verboten und bei Vergehen nationale Verbände auch schon zeitweise gesperrt. In der Praxis jedoch haben Politiker wie der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdog˘an dort längst ihre Netzwerke aufgespannt. Dessen Lieblingsverein Istanbul Basaksehir FK wird von vielen schlicht „FC Erdog˘an“ genannt. Der Präsident posiert auch gerne mit Spielern und benutzt sie als Repräsentanten des Systems. Aus Anlass der Offensive der türkischen Armee gegen die Kurden in Syrien salutierten ihm die Nationalspieler gar mit militärischem Gruß.
Ein anderer Fußball scheint möglich, auch wenn er noch eine Utopie sein mag.
Vielen Staaten dient der Sport zudem als ökonomisches Sprungbrett: Ronny Blaschke nennt chinesische Unternehmen, die europäische Traditionsvereine wie Inter Mailand kauften. Unterdessen bemühen sich die Golfstaaten um Großveranstaltungen: Die WM 2022 findet trotz scharfer Kritik an den sklavenartigen Arbeitsbedingungen beim Bau der Stadien in Katar statt, das Unternehmen „Qatar Sports Investments“ (QSI) kaufte unter anderem Paris Saint Germain, während die Vereinigten Arabischen Emirate sich etwa die Anteilsmehrheit an Manchester City sicherten.
Das abschließende Kapitel in Blaschkes Buch ist dem südamerikanischen Fußball gewidmet, und damit verbunden auch dem dunkelsten Kapitel der Geschichte Argentiniens: Zur Zeit der Militärdiktatur fand in dem Land 1978 die WM statt; während viele Argentinier den Weltmeistertitel ihres Nationalteams bejubelten, fielen zur gleichen Zeit dem Regime in den Folterlagern rund 30.000 Menschen zum Opfer. Einige Staaten protestierten, andere ignorierten die Verbrechen. In Argentinien herrschte lange Zeit Straflosigkeit, über das umstrittene Turnier wurde öffentlich wenig gesprochen – bis Autoren, Journalisten, Anwälte und Menschenrechtler die Vergangenheit aufzuarbeiten begannen.
Auch im Nachbarland Brasilien weiß der rechtsextreme Präsident Jair Bolsonaro den Fußball für seine Zwecke zu nutzen: Volksnah setzte er sich in Szene, indem er im Nationaltrikot auftrat oder gemeinsam mit Palmeiras São Paulo die Meisterschaft feierte und so an der identitätsstiftenden Wirkung des Sports partizipierte. Unterstützt wurde Bolsonaro in der Vergangenheit nicht zuletzt von Fußballstars wie Ronaldinho.
Ist ein anderer Fußball möglich, jenseits der politischen Instrumentalisierung? Ronny Blaschkes Buch endet fast versöhnlich, indem er an eine linke Ikone des Sports in Brasilien erinnert: an den verstorbenen Spielmacher, Ballkünstler und Kinderarzt Sócrates, der einst der brasilianischen Militärdiktatur die Stirn bot und in seinem Klub Corinthians ein System der Selbstverwaltung prägte, die „Democracia Corinthiana“. Ein anderer Fußball scheint also möglich, auch wenn er noch eine Utopie sein mag. Gerade darum aber darf er, im guten Sinne, nicht unpolitisch sein.