KULTURJAHR & GROSSREGION: Nomadische Kulturzone

1977 wurde im belgischen Aubange die Eisenhütte stillgelegt. 30 Jahre später entsteht dort eine Container- Landschaft, in der Kunst und Geschichte des Dreiländerecks Belgien- Frankreich-Luxemburg aufeinandertreffen.

Stillstand und Bewegung: Zwischen den starren Türmen aus Stahl soll es auf einer Industriebrache in Aubange zu dynamischen Prozessen kommen.
(Foto: Uwe Hentschel)

„Der erste Teil endet hier“, sagt Jean-Marie Arquin, bückt sich, um die Tür zu öffnen, um dann wiederum festzustellen, dass der Container noch verschlossen ist. „Oh, der ist ja noch zu“, sagt der Mann mit dem grauen Bart, zieht einen Schlüssel aus der Tasche, sperrt den Container auf und sagt grinsend: „Das schreiben Sie aber nicht!“ Doch da er es offensichtlich nicht ernst meint und dieser plakative Vorgang geradezu danach schreit, als Einleitung missbraucht zu werden, nickt der Autor kurz, notiert es sich und betritt dann hinter dem Bärtigen den großen Stahlbehälter. Es ist früher Nachmittag. Einer der wenigen Nachmittage im August, an denen es eher von Nachteil ist, sich in einem Container aufzuhalten. Vor allem, wenn dieser in der prallen Sonne steht und die Tür noch bis vor wenigen Sekunden verschlossen war. Gefühlte 40 Grad im Schatten, wobei der Schatten verschwindet, als Arquin das Licht einschaltet. Neonröhren, die an der Decke über die gesamte Länge des 40-Fuß-Behälters verteilt sind, unterstreichen den industriellen Charme des Zimmers.

An der hinteren Wand stehen drei Fernseher – das Programm, das sie liefern, ist mit weißer Farbe draufgemalt. „Richard Bawin fait son cinéma“ heißt diese Installation. Drei Fernseher, darauf drei Gesichter und davor drei Sitzreihen mit je drei Kinostühlen. Mit Blick auf die Idee, die hinter der Containersiedlung im Dreiländereck Belgien-Frankreich-Luxemburg steckt, ließe sich hier unendlich viel hinein interpretieren, und die Hitze in dem Stahlkasten würde den ein oder anderen wirren Gedanken noch anfeuern, doch Arquin beschränkt sich auf das Wesentliche. „Hier geht es um die Frage der Grenze zwischen normal und nicht normal“, sagt er, „und ich denke, dass Bawin seinen Platz hier verdient hat.“ Verdient deshalb, weil Bawin das Down-Syndrom hat und seine Werke deshalb möglicherweise jenseits der Grenze des Normalen liegen. Doch was ist schon normal? In einem Blech-Brutkasten nach einer Antwort darauf zu suchen, mit Sicherheit nicht. Also wieder raus.

„Wir stehen hier auf einem Friedhof“, sagt Jean-Marie Arquin und zeigt in Richtung Boden. Ein Friedhof, auf dem nicht der Tod beerdigt wurde, sondern das Leben. Und das vor genau 30 Jahren. 1977 wurde das Hüttenwerk, das auf diesem Gelände stand, geschlossen. Das Herz der Stahl- und Eisenindustrie hörte damit auf zu schlagen, und der restliche Körper drum herum vegetierte vor sich hin. Im belgischen Athus, Halanzy oder Musson ebenso wie im lothringischen Longwy, Gorcy oder Rehon. Und in geringem Maße auch in Luxemburg. Ein grenzüberschreitendes Problem, für das es eine grenzüberschreitende Lösung geben musste.

Industrieller Charme

Diese kam in Form der europäischen Initiative „Pôle Européen de Developpement“ (PEC), einer Maßnahme zur Wiederbelebung der Region um Aubange. Nicht zu verwechseln mit PED, dem „Pôle Européen Culturel“, jener bunten Ansammlung von Containern, um die es hier geht. PEC rettet das Dreiländereck, und PED verschwindet wieder, noch bevor der blaue Hirsch das Zeitliche segnet. Doch noch ist es nicht soweit. Noch sind die Container geöffnet, bieten Platz für wechselnde Ausstellungen regionaler Künstler oder eben einen Blick auf die Geschichte der Umgebung. So widmet sich die Kulturzone in einigen der insgesamt 90 Container der ehemaligen Fabrik den Menschen, die dort gearbeitet haben, und dem Sterben und Reanimieren von Städten, egal auf welcher Seite der Grenze.

Dass sich das Ganze in Containern abspielt, liegt sowohl am Material als auch der Verfügbarkeit der Stahlklötze. Doch dass der Anordnung der Behälter ein groß angelegter Architektenwettbewerb voraus ging, muss man auf den ersten Blick nicht erkennen. Das Architektenbüro L’escaut aus Brüssel hat diesen Wettbewerb im zweiten Durchgang schließlich gewonnen und dann die Dinger gestapelt. Nach dem Vorbild des japanischen Stararchitekten Shigeru Ban, der gemeinsam mit dem Franzosen Jean de Gastines auch die architektonische Gestaltung des Centre Pompidou in Metz übernommen hat. Der Mann, der sich mit seinen zeitlich begrenzten Strukturen aus Papier und Karton einen Namen gemacht hat und dann vorübergehend zum Schwermetaller wurde. So hat der Japaner für den Fotokünstler Gregory Colbert das „Nomadische Museum“ konzipiert, ein Ausstellungsort aus übereinander gestapelten Containern, der Teil der Foto-Wanderausstellung „ashes and snow“ ist.

Jean-Marie Arquin, der Mann mit dem vollen Bart, kommt ins Schwärmen, wenn er von dem kanadischen Fotografen und dem japanischen Architekten erzählt und dabei vor seinem belgischen Container-Türmen steht. „Wie ein großer Junge, der mit riesigen Legosteinen baut“, sagt Arquin. Er selbst sei Psychologe, beziehungsweise sei es mal gewesen, bevor er im Jahr 2000 die Möglichkeit gehabt habe, zu wechseln. Jetzt arbeitet er im Kulturdezernat seiner Provinz, hat in dieser Funktion an der Dreiländereck-Variante des Nomadischen Museums mitgewirkt und hat zudem eine Schwäche für Bier mit Kirschsaft. Gerne steht auch er hinter der Theke der kleinen offenen Bar, über der ein Container wie ein bedrohlicher Schatten hängt. Ein Drahtseil scheint dafür zu sorgen, dass der Kasten nicht runterfällt.

Vergessener Alltag

Überhaupt sieht alles so aus, als könne es trotz der Unmengen an Stahl der Witterung nur bedingt trotzen. Denn auch wenn die Container selbst unverwüstlich sind, so ist zwischen den aufeinander gestapelten Kisten der „Veranstaltungshalle“ viel für Platz für Wind und Regen von allen Seiten. Immerhin: von oben schützt die Besucher der Container-Arena ein Planendach, auch wenn es nicht ganz so liebevoll verlegt wurde wie bei Shigeru Ban. Unter Blech und Plane ist die Bühne, davor eine Rolltribüne, zusammen geschoben an der hinteren Wand des Raumes.

Eine Frau mit Lautsprecher läuft draußen über den Platz, verkündet das Ende der Pause, kommt in die Halle, geht auf die Bühne und verschwindet hinter einem schwarzen Vorhang. Wenig später trotten vereinzelt Menschen hinterher, suchen nach dem Durchgang im Vorhang und sind dann ebenfalls weg. Theatervorstellung im kleinen Rahmen. Eine Frau mit kurzen, leuchtend roten Haaren läuft hinter dem schwarzen Stoff vor einem 30-köpfigen Publikum hin und her, streift dabei über die Konturen ihres Körpers und monologisiert.

Sie ist eine von jenen, die zwischen den Containern für Leben sorgen. Dramatisch, musikalisch und mitunter auch kontrovers geht es auf der Bühne zu – das zumindest verspricht der Veranstaltungsplan. Und der Architekt soll das Ganze unterstützen. L’Escaut erzeuge eine interdisziplinäre Dynamik zwischen Künstlern, Drehbuchautoren, Persönlichkeiten aus Film und Theater sowie plastischer Kunst und Architektur, prophezeit der grenzüberschreitende PEC auf seiner Internetseite. Eine Dynamik, die an diesem Nachmittag möglicherweise in einem der Container eingesperrt ist.

In der Tat gibt es einige dieser Großbehälter, in denen sich etwas bewegt, wenn auch nur auf der Leinwand. Diese stehen unter der festen Tribüne. Sie seien allerdings nur dann begehbar, wenn kein Theater, Konzert oder sonstiges auf dem Plan stehe, erklärt Arquin. Doch der Mann, auf den schon bald ein gezapftes Kirschbier wartet, macht eine Ausnahme und schließt erneut einen Container auf. Zu sehen sind Stahlschränke auf der linken Seite und eine verzinkte Badewanne am Ende des Containers. Wie der Waschraum einer Fabrik. Auf kleinen Bildschirmen laufen Super-8-Filmaufnahmen aus früheren Tagen. Kurze Filme über das Leben der Menschen, als hier noch eine Fabrik stand. 14 Container, in denen ein längst vergessener Alltag zu sehen ist, sobald sich die Tür öffnet. Dann schließt Jean-Marie Arquin die Stahltür wieder. Ein leises Klicken, und das Vorhängeschloss ist zu.


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