Regisseur Michelangelo Antonioni: Der Weg in die filmische Moderne

von | 24.10.2025

Michelangelo Antonioni ist ein Name, der für den Film ebenso wichtig ist wie Marguerite Duras für die Literatur oder Giorgio de Chirico für die Malerei. Zweifelsohne gilt der italienische Regisseur als einer der bedeutendsten Modernisierer*innen des Kinos in Europa nach 1950. Sein Werk prägt die internationale Filmgeschichte.

Der italienische Regisseur Michelangelo Antonioni hinterließ ein monumentales Werk, auf das sich noch heute zahlreiche Regisseur*innen beziehen. (© C_ETH-Bibliothek Zürich_Hans Krebs_Com L10-0197-0003-0001CC BY-SA 4.0)

Die Bedeutung von Michelangelo Antonionis Schaffen spiegelt sich bereits in seinem Frühwerk wider. Die Filme seiner berühmten Trilogie, „L’avventura“, „La notte“ und „L’eclisse“, sind alle im Zeitraum von 1960 bis 1964 entstanden und gelten heute als Meisterwerke der Filmgeschichte. Sie werden oft als die „Kernwerke“ Antonionis betrachtet, da sich in ihnen sein ästhetischer Aufbruch bemerkbar macht. Für einen Paradigmenwechsel in der Filmgeschichte stehen sie vor allem wegen des innovativen Modernitätsschubs in der Erzählweise: Es sind Filme, die radikal mit der Tradition des klassischen Erzählkinos brechen. Die Dramaturgie folgt einer Logik der „Entdramatisierung“, die narrative Form wird zunehmend elliptisch, fragmentarisch, offen.

„L’avventura“ (1960) wurde bei seiner Premiere in Cannes überwiegend negativ aufgenommen. Ein Umstand, der davon zeugt, dass die Intentionen Antonionis zu diesem Zeitpunkt nicht verstanden und seine Suche nach einer neuen künstlerischen Form erst nachträglich erkannt wurde. In diesem Film werden die narrativen Innovationen Antonionis erkennbar. Die Handlung dreht sich um drei Freund*innen, die eine Bootsfahrt unternehmen, wobei eine der drei Ausflügler*innen spurlos verschwindet. Was bei oberflächlicher Betrachtung wie eine Kriminalgeschichte anmutet, entpuppt sich nach und nach als komplexe Charakterstudie, die sich vor einem eindrucksvollen Panorama entfaltet.

Antonionis nächster Spielfilm „La notte“ (1961) ist annähernd konventionell erzählt. Im Zentrum der Handlung, die sich über einen Zeitraum von etwa achtzehn Stunden erstreckt, steht das Ehepaar Giovanni (Marcello Mastroianni) und Lidia Pontano (Jeanne Moreau), das sich nach zehn Jahren auseinandergelebt hat. Die Ereignisse einer Nacht, die sie zuerst gemeinsam, dann allein durchleben, führen zu einem Ende, bei dem die Zukunft des Paars in der Schwebe gehalten wird.

Narrativ experimenteller fällt Antonionis nächster Film „L’eclisse“ (1962) aus. Zu Beginn wird gleich die Trennung Vittorias (Monica Vitti) von Ricardo (Francisco Rabal) eingeläutet. Wir steigen in medias res in die Erzählung ein, erst nach und nach ziehen wir Schlüsse und fügen das Gezeigte zusammen, wobei stets eine fundamentale inhaltliche wie auch formale Intransparenz bestehen bleibt.

Immerzu fordert Antonioni die aktive Beteiligung des Publikums an seinem Werk. Seine Verweigerung der narrativen Erfüllung ist Programm: Am Ende des Films verabreden sich Vittoria und Piero (Alain Delon), doch keiner der beiden ist in der Schlussszene am vereinbarten Ort. Durch die Abwesenheit der beiden Figuren am Ende führt der Film eine radikale Verweigerung narrativer Geschlossenheit vor, wie sie in der Form selten zu finden ist. Offene Enden meinen im geläufigen Sinn, dass die Filme kein „richtiges“ Ende besitzen, dass sie „irgendwie“ enden. Dieser Auffassung ist man, wenn man die formale Geschlossenheit als Norm annimmt, und ebendieser Rezeptionshaltung versuchte Antonioni resolut entgegenzuwirken.

Offene Form – neuer Erzählrhythmus

Da Antonionis Erzählungen nicht dem Prinzip der Geschlossenheit folgen, wird auch die Handlung nicht durch kausale Zusammenhänge angetrieben. Sein Erzählschema wird zunehmend offen und an die Stelle von Kausalität tritt Kontingenz. Bei Antonioni entsteht somit ein neuer Rhythmus der Erzählung. Brüchig werden die Szenenübergänge, der dialogisch-dramaturgische Gehalt wird schwächer: In seinen Filmen kommt es zur Ausschöpfung des „temps mort“, jenen Momenten, in denen alles gesagt zu sein scheint, die Figuren längst das Bild verlassen haben, die Kamera aber dennoch verweilt und ein Interesse an der Leere und Stille findet. Spürbar werden ebenso die Gesprächspausen, in denen eine Emotion nach verbalem Ausdruck sucht, die Sprache angesichts der Komplexität der Gefühlslage indes versagt.

Antonioni nimmt sich die Freiheit zur Gestaltung von Passagen, die an sich wenig erzählen und damit nicht dem Voranschreiten der Erzählung dienen. Die Grundthematik der Filme entfaltet sich im Stillstand der Zeit: Entfremdung, Kommunikationsprobleme und das Scheitern von Beziehungen sind zentrale Ideen in Antonionis Filmen. Hierin grenzt er sich vom italienischen Neorealismus ab, jener filmischen Strömung der Nachkriegszeit, die sich auf die Fahnen geschrieben hatte, das soziale Elend einer vom Krieg zerrütteten Gesellschaft abzubilden. Antonioni meinte demgegenüber, man solle sich auf das Innenleben der Figuren konzentrieren. Gemein ist den drei Filmen die innere Zerrissenheit der Protagonisten, die nicht mehr aus dem Proletariat, sondern ausschließlich aus den oberen Gesellschaftsschichten stammen und in diesen verkehren.

Sie kennen keinerlei materielle Existenzgefährdung, keine soziale Prekarität – wegen diesem Umstand schreibt man den Filmen Antonionis auch den Status des „inneren Realismus“ oder auch des „Upper Class-Neorealismus“ zu. Antonionis Figuren besitzen eine Fremdheit zur äußeren Welt und zur eigenen Innenwelt. Seine Filme beobachten in diesem Zuge überdies so kritisch wie feinfühlig die sozialen Umbrüche in Norditalien zu Zeiten des Wirtschaftswunders – da gibt es ein diffuses Unbehagen gegenüber der neuen Urbanisierung, der Motorisierung, der Beschleunigung des gesellschaftlichen Lebens, das zu einer fundamentalen Asynchronität der jeweiligen Lebensweisen führt.

Es entstehen Kommunikationsprobleme, die nicht gelöst werden und gewissermaßen der „Krankheit der Gefühle“ geschuldet sind – eine etwas sperrige Bezeichnung, die man mit dem Terminus „Entfremdung“ sehr viel genauer trifft: eine Art emotionale „Störung“, eine Leere, ein Sich-fremd-geworden-sein. Die Ursprünge dieser Gefühlszustände sind bei Antonioni niemals eindeutig zu bestimmen. Dass damit eine Aufhebung vorgefertigter, zentrierter Fragestellungen auf das Leben einhergeht, ist augenscheinlich. Antonionis Filme favorisieren durch die offene Form mehr als eine Lesart.

Antonioni in England und Amerika

Antonionis erster englischsprachiger Film „Blow-Up“ (1966) präsentiert – wie für das Art-Cinema typisch – einen hohen Grad an Selbstreflexivität: Der Film thematisiert auf eindrückliche Weise das künstlerische Schaffen und das Wesen des Films. Antonioni konstatierte recht früh, dass es ein natürliches Spannungsverhältnis gibt zwischen der Realität des alltäglichen Lebens und dem künstlichen Abbild davon, wie es durch den technischen Apparat der Kamera eingefangen wird. Dieser Diskurs ist auch in „Blow-Up“ angelegt: Der berühmte Modefotograf Thomas (David Hemmings) versucht sich zugleich als Künstler und schießt in einem Park Fotos eines heimlichen Liebespaares. Beim Vergrößern der Bilder (engl. blow up) wird der Fotograf zunehmend unruhiger, macht sich doch die Vermutung breit, er wäre unwillentlich Zeuge eines Mordes geworden. Im Park findet er tatsächlich eine Leiche, aber ob es sich wirklich um einen Mord gehandelt hat, lässt der Film offen.

Was wiederum oberflächlich wie eine Kriminalgeschichte wirkt, ist unterschwellig viel komplexer angelegt, werden doch Fragen über die Glaubwürdigkeit fotografischer Abbildungen und somit über das Wesen des Films per se verhandelt. Am Ende schreitet Thomas im Park an einem Tennisplatz vorbei, auf dem junge Leute ein Tennisspiel auf merkwürdig pantomimische Weise aufführen, bei dem sowohl Ball als auch Tennisschläger irreal sind. Als der imaginäre Ball in Thomas’ Nähe landet, wirft er ihn zu den Spielenden zurück. Und wieder verschwindet am Ende der Protagonist, wenn er mittels Stopptrick inmitten eines Londoner Parks wie von der Rasenfläche verschluckt wird.

1970 erschien „Zabriskie Point“, Antonionis erster in Amerika gedrehter Spielfilm. Einerseits ist die Handlung des Films in Los Angeles angesiedelt, andererseits am Zabriskie Point, einem Aussichtspunkt in der Wüste des Death Valley. Erzählt wird die Annäherung zwischen dem Studenten Mark (Mark Frechette), der im Verdacht steht einen Polizisten erschossen zu haben, und Sekretärin Daria (Daria Halprin), die auf dem Weg zu einem Treffen mit ihrem Chef in Phoenix ist. Der Film befindet sich am Puls der Zeit, er wirft einen kritischen Blick auf kontroverse Themen wie die 68er-Bewegung, die Gewaltbereitschaft der Jugend oder die Waffengesetze in Amerika.

Wieder präsentiert Antonioni eines der berühmtesten Enden der Filmgeschichte: Als Daria am Ende des Films die Villa ihres Chefs betrachtet, scheint sie diese – wie durch die Kraft ihrer Gedanken – zum Explodieren zu bringen. Neben der zerberstenden Villa, die wir aus mehreren Blickwinkeln betrachten, sehen wir Bilder diverser Explosionen (von Kleidern, einem Fernseher, Lebensmitteln …). In den letzten Filmbildern verschmelzen Fantasie und Wirklichkeit zu einer fast sechs Minuten dauernden Schlussszene. In diesen finalen Einstellungen entfaltet sich durch extreme Zeitlupe und die Musik von Pink Floyd ein eindrucksvolles Panorama aus Einzelbildern von immenser Schönheit. Und einmal mehr bleibt das Ende offen: Es gibt keinen narrativen Schlusspunkt, die Zuschauer*innen verlassen die Diegese in einer Art Schwebezustand, der sie dazu anregt, über das Gesehene nachzudenken.

Antonioni heute

Im Bruch mit Erwartungshaltungen und dem Abbruch von Erzählsträngen lässt sich Antonionis Suche nach einer neuen künstlerischen Form ablesen. Die filmische Erzählweise gilt es für ihn so einzusetzen, dass sie dem eigentlichen Leben näherkommt. Sinngebungen müssen von den Zuschauer*innen erst vorgenommen werden, der Alltagswahrnehmung ähnlich: „Ich bin ein Regisseur […], der sich bemüht hat, eine bestimmte Linie zu verfolgen, einen bestimmten Zusammenhang zu wahren. Ich halte das nicht für mein Verdienst, sondern ich sage es, weil es die einzige Art und Weise war, in der es mich interessierte, Filme zu machen.“ Daran hielt Antonioni zeitlebens fest und seine Wirkmacht reicht freilich bis heute. Das Schaffen des 2012 verstorbenen griechischen Filmemachers Theo Angelopoulos ist gewiss von Antonioni geprägt, Gleiches gilt für Edward Yang und Hou Hsiao-hsien.

Auch wenn der iranische Regisseur Asghar Farhadi die Bezüge zu Antonionis Filmen in seinem Werk ablehnte, so ist die Story von „Darbareh-ye Elly“ (dt. Titel: „Alles über Elly“, 2010) doch unverkennbar daran angelehnt. Nicht zuletzt nutzt der von der Kritik hochgelobte Film „Dschodai-ye Nader az Simin“ (dt. Titel: „Nader und Simin – Eine Trennung“, 2011) in seiner Bildkomposition die Architektur so, wie man es von Antonioni gewohnt ist, und antonionische Momente der Intransparenz finden sich auch in „Forushande“ (dt. Titel: „The Salesman“, 2016) zuhauf: Ähnlich wie in „L’avventura“ bleibt eine anfänglich aufgeworfene Frage unbeantwortet, was sich jedoch auftut, sind menschliche Gefühlszustände. Stillstand auf den Straßen, leere Wohnviertel, die Auflösung des Menschen in seiner Umwelt, eine gesteigerte Wahrnehmung für die Objektwelt – viele dieser Ansätze Antonionis finden sich in Tendenzen des Arthouse-Kinos immer noch bestätigt. Michelangelo Antonioni ist ein Filmemacher für die Ewigkeit, der ein Vermächtnis hinterlässt, das an Wirkung und Inspirationskraft bis heute nichts eingebüßt hat.

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