Aharon Appelfelds Roman „Elternland“ über die Suche eines Sohnes von Shoah-Überlebenden nach seiner Familie.
„Das Leiden der Schwachen hat nichts Großartiges. Sollen die doch ihren Schmerz für sich behalten, anstatt ihre Nachkommen damit zu stören.“ Ein skandalöser Satz, skandalös in seiner verletzenden Brutalität. Ausgesprochen hat ihn der Vater von Jakob Fein. Jakob ist die Hauptfigur in Aharon Appelfelds neuem Roman „Elternland“. Sein Vater sprach, als er den Satz formulierte, von sich selbst, einem Überlebenden der Shoah. In einem kleinen Dorf in Polen aufgewachsen, schafften er und seine Frau es, mit Hilfe einiger Bauern in einem Versteck zu überleben, als die Deutschen alle anderen Juden des Ortes gnadenlos niedermetzelten. Ein Hilfe, die sie teuer bezahlen mussten, um schließlich, nach Kriegsende, irgendwie nach Israel zu gelangen.
Den Schmerz für sich behalten, vor allem gegenüber dem nachgeborenen Sohn, so lautete fortan die Forderung des Vaters von Jakob Fein an seine Frau. Das, was man erlebt hat, soll nicht zum Teil der Erinnerung des Jungen werden. Ein Entschluss, der für den Sohn lebenslange Folgen zeitigen wird. Denn aus dieser Entscheidung wird eine Fremdheit des jungen Jakob gegenüber seinen Eltern resultieren, die auch der erwachsene Jakob bis zu deren Tod nicht überwinden wird. Während sie ihn behüten wollen, ihn vor ihrem Schmerz beschützen, bleibt bei ihm nur ein großes Gefühl der Einsamkeit und Verlassenheit übrig. Er findet keinerlei Bezug zu den Eltern, für deren Schweigen er kein Verständnis aufbringen kann. Schließlich glaubt Jakob Fein, dass es ohnehin nichts im Leben seiner Eltern gebe, dass ihn beeindrucken kann.
Er, der säkulare Israeli will mit der Vergangenheit, ja überhaupt mit seinen Eltern möglichst wenig zu zun haben. Folglich versucht er nach ihrem Tod auch angestrengt, sie hinter sich zu lassen, sie zu vergessen. Ein Bemühen, dass ihm zu seiner Beunruhigung nicht gelingt. So macht er sich schließlich auf die Reise nach Polen, ins Heimatdorf der Eltern, um dort zu suchen, was er bislang nicht finden konnte: Verständnis für sie. Das ist die Stelle, an der Aharon Appelfelds Buch beginnt.
Ungebrochener Antisemitismus
Appelfeld, der heute in Jerusalem lebt, wurde 1932 in Czernowitz geboren. Als Kind erlebte er am eigenen Leib Verfolgung und Krieg, die er zuerst im Ghetto und im Lager, dann in den ukrainischen Wäldern und als Küchenjunge der Roten Armee überlebte. In „Elternland“ beschreibt er nicht nur Konflikte von Shoah-Überlebenden mit ihren Nachkommen, er verdeutlicht auch, dass das antisemitische Ressentiment in Europa nach Ende des Krieges nicht einfach verschwunden ist. Sein Protagonist Jakob Fein, der als Israeli den Antisemitismus bislang nur als abstraktes Phänomen kannte, bekommt den Judenhass in Polen ganz konkret an der eigenen Person zu spüren. Er merkt: Selbst die gutwilligsten Menschen, die er trifft, beherbergen im Innersten das Gefühl, ein solch unfassbares Leid wie das der Juden könne schwerlich völlig grundlos über diese gekommen sein. Anstatt den Wahn zu bekämpfen, sucht man weiter nach Gründen für ihn, seien diese nun vermeintlich rationaler oder metaphysischer Natur.
Behutsam nähert sich Appelfeld seinem Protagonisten Jakob Fein, beschreibt die schmerzvolle Eltern-Kind-Beziehung, verdeutlicht die nie verheilenden Wunden selbst derer, die mit vermeintlich heiler Haut dem Wahnsinn entkommen sind. Er arbeitet die Mechanismen des Antisemitismus heraus, nähert sich der Frage an, wie dieser im psychischen Haushalt der Einzelnen wirkt und funktioniert.
Appelfeld erzählt von einer Reise, an deren Ende Jakobs Versöhnung mit seinen Eltern steht. Denn im „Elternland“ gelingt es ihm, einen Teil ihres Wesens aufzutun: „Es war, als richteten sich die Eltern in ihrer Heimat auf. Sie wurden wieder zu dem, was sie früher gewesen waren, ohne das drückende Schweigen, das der Krieg in sie gepflanzt hatte.“
Aharon Appelfeld – Elternland.
Rowohlt Verlag. 256 Seiten.