MAFIA IN ITALIEN?: Im Einklang mit der Kirche

Anlässlich eines Kurzbesuchs Anfang Oktober in Sizilien warnte Papst Benedikt XVI. vor der Mafia: man dürfe ihren „Suggestionen“ nicht folgen, ihre Machenschaften seien „unvereinbar mit dem Evangelium“. Isaia Sales, Dozent für die Geschichte der organisierten Kriminalität in Neapel, hat das Verhältnis der Katholischen Kirche zu den süditalienischen Mafias in den letzten 150 Jahren untersucht und kam zu einem anderen Ergebnis. Für sein Buch „I preti e i mafiosi“, das die Verstrickung von Klerus und Mafia behandelt, wird er diesen Samstag mit dem Preis „Feudo di Maida“ ausgezeichnet.

„Zu den kulturellen Wurzeln, die den Mafiosi mit seinem gesellschaftlichen Umfeld verbinden, gehört zweifellos der katholische Glaube“: Mafia-Forscher Isaia Sales, hier auf einer Konferenz im Jahr 2007.

woxx: Inwiefern erweist sich der katholische Glaube mit den Verbrecherkartellen der Mafia vereinbar?

Isaia Sales: Alle Mafiosi, die sizilianischen ebenso wie die neapolitanischen und kalabrischen Mafiosi, halten sich für gute Katholiken. Sie täuschen ihren Glauben nicht vor, sie meinen es ernst. Wir haben es mit Mafiosi zu tun, die keinen Widerspruch sehen zwischen ihren mörderischen Taten und ihrem Glauben an Gott. Das ist einzigartig, denn die Religion sollte den Mördern wenigstens Schuldgefühle verursachen. Die Mafiosi fühlen sich jedoch im Einklang mit ihrer Kirche.

Sie werfen der Katholischen Kirche vor, versagt zu haben.

Der Misserfolg der Katholischen Kirche besteht darin, dass sich in den katholischsten Regionen Italiens die gefährlichsten und brutalsten kriminellen Organisationen ansiedeln konnten. Das zeigt, dass sich die Friedensbotschaft des Evangeliums nicht durchgesetzt hat. Es lässt sich nicht leugnen, dass Teile der süditalienischen Gesellschaft im Verlauf der Jahrhunderte die katholische Glaubenslehre so interpretierten konnten, dass ihnen ihre kriminellen Taten gerechtfertigt erschienen.

Wie rechtfertigen die Mafiosi ihren Verstoß gegen das Gebot, nicht zu töten?

Die Mafia versteht sich ebenso wie die Kirche als Ordensgemeinschaft mit eigenen Regeln. Wer die Regeln nicht respektiert, wird bestraft. Die Mafia tötet denjenigen, der gegen die Regeln des Ordens verstoßen hat und deshalb nicht mehr als Person gilt, sondern wie ein Tier getötet werden kann. Historisch betrachtet galt auch in der Katholischen Kirche das Prinzip, dass das Böse im Namen des Guten gerechtfertigt sei. In ihrem Kampf gegen die Ungläubigen und während der Kreuzzüge hat die Kirche die Auffassung vertreten, dass Menschen, die keine Christen sind, getötet werden können. Die Tötung des anderen ist zwar kein Grundprinzip des Christentums, aber das Christentum hat diese Methode angewandt.

Was werfen Sie der Katholischen Kirche konkret vor?

Dass die Mafiosi in Italien alle erzkatholisch und strenggläubig sind, wird verschwiegen. Die Katholische Kirche trägt die Verantwortung für dieses Schweigen. Bis 1982 hat sie sich nie öffentlich von der Mafia distanziert. Damals war es der sizilianische Kardinal Pappalardo, der auf der Beerdigung des von der Mafia ermordeten Polizeipräfekten Alberto Dalla Chiesa erstmals die Unvereinbarkeit von Mafia und katholischer Doktrin ansprach. Sein Vorgänger, Kardinal Ruffini, hatte noch behauptet, die Mafia existiere überhaupt nicht.

Wie erklären Sie sich das Verhalten der Katholischen Kirche?

Dass dieses kriminelle Phänomen seit knapp zwei Jahrhunderten existiert und alle Versuche, es zu bekämpfen, gescheitert sind – denn die Mafias konnten zwar gelegentlich zurückgedrängt, aber nie endgültig geschlagen werden -, bedeutet, dass es neben der politischen Verantwortung auch eine kulturelle Unterstützung geben muss. Zu den kulturellen Wurzeln, die den Mafiosi mit seinem gesellschaftlichen Umfeld verbinden, gehört zweifellos der katholische Glaube. Das Schweigen der Kirche ist keine pure Verlegenheit, es ist vielmehr eine präzise Entscheidung: Wenn die Mafiosi mit einem offiziellen Akt exkommuniziert worden wären, hätte die Katholische Kirche mit einem beträchtlichen Teil der süditalienischen Gesellschaft brechen müssen. Das wollte sie nicht.

Auch der Norden Italiens ist katholisch. Warum spielt die Katholische Kirche nur im Süden des Landes diese besondere Rolle?

Die süditalienische Kirche weist einige Merkmale auf, durch die sie sich sehr von der Kirche im Norden unterscheidet. In Süditalien hatte der Katholizismus immer eine Monopolstellung, er musste sich nie gegen einen anderen Glauben verteidigen. Im Norden befand sich die Katholische Kirche dagegen an der Grenze zur protestantischen, calvinistischen Welt. In der Auseinandersetzung haben sich beide Kirchen beeinflusst. Das Konzil von Trient, das als Reaktion auf die protestantische Reform abgehalten wurde, hatte auf die süditalienische Kirche größere Auswirkungen, dort hat sich die sogenannte Gegenreformation sehr viel stärker durchgesetzt, vor allem in Bezug auf die äußeren Formen der Glaubensbezeugung, das zeigt sich beispielsweise im Heiligenkult. Der Heiligenkult weist eine große Nähe zur politischen Kultur Süditaliens auf, die darin besteht, zur Lösung von Problemen die Unterstützung eines anderen zu suchen. Die süditalienischen Heiligen sind keine Personen zur Nachahmung, keine Modelle, an denen man sich orientieren kann, man benutzt sie als Schutzpatrone. Der Heilige übernimmt in der süditalienischen Kultur die Vermittlerrolle zu Gott. Der katholische Heiligenkult ist also eine Kultur der Vermittlung, nicht der individuellen Verantwortung. Die süditalienische Politik des Klientelismus hat seinen Ursprung in dieser Kultur.

Trotz dieser ambivalenten Haltung gilt die Katholische Kirche heute in Italien als führende Kraft der Anti-Mafia-Bewegung. Warum?

Zum einen gab es innerhalb der Kirche nach der Auflösung der Christdemokratischen Partei Anfang der Neunzigerjahre des vorigen Jahrhunderts eine größere politische Handlungsfreiheit, sie musste sich nicht mehr mit einer Partei identifizieren, die mit der Mafia die engsten Beziehungen unterhielt. Andererseits ist es der laizistischen Anti-Mafia-Bewegung nicht gelungen, ihre Autonomie auf diesem politischen Terrain zu behaupten. Die Kirche hat einen vakanten Platz besetzt.

Auf Sizilien wurden nach dem Zweiten Weltkrieg unzählige Richter und Staatsanwälte, linke Politiker und Gewerkschafter von der Mafia getötet. Im Mittelpunkt der öffentlichen Erinnerung stehen dagegen vor allem die wenigen von der Mafia ermordeten Priester. In Palermo unterzeichneten Tausende einen Appell zur Seligsprechung des 1993 getöteten Padre Pino Pugliesi.

Die Katholische Kirche hat erkannt, dass sie in Bezug auf die Mafia ein Problem hat, deshalb macht sie aus den Personen, die von der Mafia getötet wurden, Märtyrer, Heilige. Das ist ihre Art, auf ein historisches Versäumnis zu reagieren. Dagegen müsste man von ihr erwarten, dass sie die Katholiken zur Legalität erzieht, denn die Kirche ist eine Institution der öffentlichen Meinungsbildung, ebenso wie der Staat, die Familie oder die Schule. Man muss jedoch leider sagen, dass die Kirche in Süditalien diese Rolle nicht übernommen hat, sie hat über Jahrzehnte hinweg nicht mitgeholfen, die Mafia zu bekämpfen. Die Katholische Kirche hat die Mafia nicht als ideologischen Feind betrachtet, dazu zählte sie die Kommunisten und die Sexualmoral. Wenn die Kirche dieselbe Aufmerksamkeit, die sie der Sexualmoral widmete, dem Kampf gegen die Mafia entgegengebracht hätte, befänden wir uns heute nicht in dieser Situation. Erst wenn die Katholische Kirche die Kraft und den Mut besitzt, mit der mafiösen Kultur zu brechen, kann sie sich erhobenen Hauptes an die Spitze der süditalienischen Widerstandsbewegung stellen. Solange nur eine kleine avantgardistische Gruppe den Kampf gegen die Mafia führt, während sich die Mehrheit der Katholiken so verhält wie sie sich auch in der Vergangenheit immer verhalten hat, also die Mörder in ihrer Glaubensgemeinschaft toleriert, wird der Kampf gegen die Mafia noch sehr schwer werden und noch lange andauern.

Die katholische Anti-Mafia-Bewegung pflegt die Erinnerung an die vielen unschuldigen Mafia-Opfer, ihre Aktionen tragen aber nicht zur Aufarbeitung der historischen Versäumnisse der Katholischen Kirche bei. Übertönt sie mit ihrem lautstarken Gedenken das anhaltende Schweigen ihrer Kirche zu den politischen und ökonomischen Verflechtungen mit den Mafias?

Don Luigi Ciotto, der Begründer der katholischen Anti-Mafia-Organisation Libera, ist eine außergewöhnliche Gestalt. Die von ihm organisierten Gedenkveranstaltungen haben eine große Wirkung erzielt, ich selbst habe mich an ihnen beteiligt. Aber die katholische Anti-Mafia-Bewegung beschäftigt sich sicherlich nicht mit den theologischen, kulturellen Problemen, die die Nähe zur mafiösen Kultur kennzeichnen. Es ist zwar erfreulich, dass es in einigen Regionen vorbildliche Priester gibt, aber sie sind in der absoluten Minderheit. Dennoch bin ich froh, dass es sie gibt und ich wünsche mir, dass es ihnen gelingt, den Rest der Kirche für sich zu gewinnen, dass sie keine Minderheit bleiben, die die Kirche toleriert, weil sie ihr ein reines Gewissen verschafft.


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