VIDEOINSTALLATION: Size 0

„5.200 ml“ heißt die Videoinstallation in der ein magersüchtiges Mädchen auf dem Bett sitzend Wasser und Wein trinkt. Insgesamt sind es 5.200 ml täglich, wobei zwei Liter als gesunde Höchstmenge gelten. Nach jedem Glas wiegt sie sich und notiert die Werte in ihr Tagebuch. Dabei wird sie immer wütender und ihre Handschrift unleserlicher. Der Zuschauer fungiert als Zeuge und Voyeur bei diesen Selbstverletzungen.

Das Künstlerduo „L.A. Raeven“ definiert ihre Aktionen und Videos, die zurzeit in der Ausstellung „Ideal Individuals“ im Casino zu sehen sind, als „ästhetischen Terrorismus“. Sie reflektieren dort die mediale Vermittlung von Frauenkörperbildern und stellen die Frage nach der Autonomie über den eigenen Körper. Das Raeven-Duo – bestehend aus den Zwillingen Lisbeth und Angelique Raeven, die 1971 in Holland geboren und seit 1999 unter dem Akronym „L.A. Raeven“ künstlerisch aktiv sind, wissen genau wovon sie reden, denn sie litten selbst jahrelang unter der Anorexia nervosa, jenem schwerwiegenden Leiden, das eine der höchsten Sterberaten unter psychischen Krankheiten verzeichnet. Schonungslos und unmittelbar konfrontieren die Geschwister in ihren Videoinstallationen den Zuschauer mit dem schwierigen Prozess der Selbstfindung und -werdung in einem Umfeld, das immer höhere Erwartungen an den Einzelnen stellt.

Ihre Videos illustrieren die Krankheit, in der die Betroffenen gefangen scheinen, sie veranschaulichen das Dilemma sich selbst zu sein in einer Gesellschaft, die immer mehr Normen vorgibt. So lehnt die anorektische Frau das Essen ab und beschäftigt sich mehr als jede andere damit, sie lehnt ihren Körper ab, konzentriert sich jedoch in all ihrem Denken und Handeln auf ihn, sie will unabhängig sein, verhält sich jedoch so, dass das Umfeld sie nahezu zwangsläufig kontrollieren muss. Die Zwillinge klagen dabei die Gesellschaft an, die zunehmend genormte Idealbilder verlangt – so etwa in ihrem ersten gemeinsamen Werk, der Installation „Ideal Individual“. Diese beinhaltet Anzeigen, die L.A. Raeven in mehreren Zeitungen geschaltet haben, in denen sie nach idealen Indviduen für eine Studie zukunftsweisender Stile suchen. Was in der Anzeige verschwiegen wird ist, dass das Profil auf utopischen Maßen beruht. Eine Videoinstallation dokumentiert das Casting jener Mädchen, die sich auf die Anzeige beworben haben. Letztlich entspricht keine der jungen Frauen – denen anhand der Hautfaltendicke das Körperfett gemessen wurde – den physischen und psychologischen Anforderungen der Anzeige. Eine andere Videoinstallation „The Height of Vanity“ zeigt chinesische Frauen und Männer, die schmerzhafte Operationen auf sich nehmen, nur um längere Beine zu bekommen.

Aber nicht nur der Körper an sich – Beziehungskonstellationen werden ebenso untersucht. Die Schwestern thematisieren in ihren Videos ihr eigenes symbiotisches Verhältnis als eineiige Zwillinge und ihr Streben nach Loslösung. So basiert der zweistündige Film „With Love“ auf der wahren Geschichte der Zwillinge June und Jennifer Gibbons aus England. Die beiden Mädchen lebten in einer vollkommenen Symbiose und führten eine autistische Existenz. Bis zu ihrem 14. Lebensjahr sprachen sie kaum ein Wort, weder zu ihren Eltern noch zu Geschwistern oder Lehrern. Doch die Zwillinge, die weder zusammen noch getrennt leben konnten, hatten einen Weg gefunden, Bericht zu erstatten vom Kriegsschauplatz ihrer Psyche: Schreibend erforschten sie, wo June beginnt und Jennifer aufhört. Auch in dem Video „Love knows many faces“ geht es um das Problem der Eigenständigkeit in einer problematischen, zur Symbiose gewordenen Beziehung.

Typisch für die Videoinstallationen von L.A. Raeven ist, dass sie sich selbst oder Versuchspersonen in inszenierte Situationen bringen, um ihr Verhalten und ihre Körpersprache zu analysieren. Dabei setzen sie bewusst auf harte, oft minimalistische Bilder, um so das Gefühl der Auswegslosigkeit zu intensivieren.

Die Werke der Künstlerzwillinge sind heftig umstritten, denn in ihren Werken vermischen sie schonungslos Gesellschaftskritik, Krankheit und Kunst. Und bringen somit ein Tabu auf die Leinwand, das normalerweise im privaten Bereich ausgetragen wird. Eine sehr angagierte Ausstellung.

Im Casino noch bis zum 22. April 2012


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