INSTALLATION: Zeitweberei

Webstuhl und Spinnmaschine waren im 18. Jahrhundert der Startschuss für das industrielle Zeitalter in Europa. Anfangs noch betrieben mit Wasserkraft, später von der den Fortschritt noch weiter vorantreibenden Dampfmaschine, rotierten sie bereits mit enormen Geschwindigkeiten. Bis heute hat die damals begonnene Beschleunigung kaum inne gehalten und eigentlich mit jedem Schritt in die Zukunft zugenommen. Alles um den Menschen das Leben zu erleichtern, in der Hoffnung auf unbegrenztes Wachstum in einer endlichen Welt.

Zu diesen Errungenschaften gehört auch die Flechtmaschine mit der Schnüre und Litzen hergestellt werden, die später auch zu Seilen geschlagen werden können. Diese Maschinen wurden ebenfalls bereits im 18. Jahrhundert entwickelt und finden bis heute Verwendung. Die Geschwindigkeiten mit denen sie seit jeher die von den Spulen ablaufenden Fäden verflechten ist kaum nachvollziehbar. So wirken sie in ihrer hektischen Betriebsamkeit weniger wie Ausdauersportler, sondern eher wie Sprinter die vor lauter Nervosität nicht zur Ruhe kommen. So ist es weiter kein Wunder, dass sich der britische Künstler Conrad Shawcross gerade dieses „nervösen Systems“ angenommen hat, um dem Besucher ein neues Gefühl für die Zeit zu vermitteln. Als Teil der im Mudam gezeigten Gruppenausstellung „mondes inventés, mondes habités“, die bereits Mitte Januar ausgelaufen ist, bleibt allein seine Installation mit dem Titel „the nervous system (inverted)“, dem Besucher noch bis Mai erhalten. Seine überdimensionale Flechtmaschine ist von ihm an die Gegebenheiten vor Ort in der Grand Hall des Mudam angepasst worden und füllt praktisch den ganzen Raum.

Unter der Decke hängen an dem über zwei Wendeltreppen begehbaren Gerüst umeinander rotierende Spulen, aus denen sich verschiedenfarbige Fäden zu einem dicken bunten Seil verflechten, das unten als ein kaum geordnetes Knäuel wie ein Teppich über den Boden fließt. Daran sind vereinzelt, mit von Hand beschrifteten Zetteln, die täglichen Produktionserfolge markiert.

Fällt der Blick des Betrachters auf die Anlage zu kurz aus, mag ihm die sich hier vollziehende Bewegung kaum auffallen. Insofern hat Shawcross das „nervöse System“ der in den Fabriken arbeitenden Flechtmaschinen durchaus „umgekehrt“ und beruhigt. Und das nicht nur in Bezug auf ihre Größe und ihren Aufbau.

Shawcross‘ Schwerpunkte liegen bei den Naturwissenschaften und philosophischen Fragen. Neben der Technik lassen sich philosophische Betrachtungen durchaus in seine Arbeit hinein interpretieren. Schon sein Faible für Schnüre knüpft Verbindungen zu Ariadnes sprichwörtlich gewordenem Leitfaden aus dem Labyrinth oder dem Lebensfaden den die Moiren als personifiziertes und vergöttlichtes Schicksal zur Geburt eines Menschen spinnen. Auch die bereits erwähnte gesellschaftskritische Auseinandersetzung mit der ständig wachsenden Geschwindigkeit unserer durchtechnologisierten Umwelt, lässt sich hinein lesen, verbunden mit dem Hinweis auf die damit einhergehenden ökologischen und soziologischen Probleme. Zusätzlich lässt sich hier auch vortrefflich über das offensichtlich im Titel steckende Nervensystem sprechen, dessen Durchflussgeschwindigkeit Shawcross in seiner Installation drastisch abgebremst hat – oder beschleunigt? Mancher mag aus den sich gegenläufig drehenden Wendeltreppen oder dem sich verdrillenden Seil sogar eine Doppelhelix und damit einen Hinweis auf die Genetik und hierin eine Kritik an der Gentechnik herauslesen. All das erinnert eher an die Suche nach der Frage nach dem Leben, dem Universum und dem ganzen Rest.

Auf jeden Fall ist die gigantische Flechtmaschine ein gelungenes Anschauungsobjekt für Spinner und Weber oder interessierte Laien. Ansonsten sollte ein kurzer Blick reichen, man kommt im Mudam sowieso nicht daran vorbei.

Im Mudam, bis zum 15. Mai.


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