AUSSTELLUNGEN: Du bist die Schlagzeile!

Zugleich gefeiert und verkannt: 25 Jahre nach seinem Tod spüren zwei große Ausstellungen dem Mythos Andy Warhol nach. „Ménage à trois“ in der Bundeskunsthalle Bonn zeigt einige seiner Ikonographien und Gemeinschaftswerke mit Jean-Michel Basquiat. Die internationale Schau „Warhol. Headlines“, derzeit im MMK in Frankfurt am Main zu sehen, präsentiert einen politischen Warhol als passionierten Zeitschriftensammler.

Wer kennt sie nicht, die Nudelsuppendosen, die Portraits von Mao und Jackie Kennedy und die Mona Lisa in x-facher Duplizierung? Mit seinen schrillen Siebdrucken von Berühmtheiten aus Politik- und Kunstgeschichte wurde Andy Warhol zum Popart-Gott. Heute findet man sie überall – auch in den Vorstandsetagen mächtiger Wirtschaftsunternehmen, oder vielleicht gerade dort. Dabei markiert sein Werk einen kunstgeschichtlichen Bruch. Denn Warhol revolutionierte die Kunst, indem er das tat, was Walther Benjamin in seinem berühmten Essay „Das Kunstwerk im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit“ schon 1936 prophezeit hatte. Benjamin hatte darin die Frage nach dem Wesen der Fotografie gestellt, sah den Kunstgegenstand durch seine unendliche Reproduktion, der Möglichkeit einer unbegrenzten Zahl von Abzügen von einem einzigen Negativ, bedroht. Um an Authentizität festhalten zu können, müsse man, so Benjamin, die Gegenwart des Originals betonen ? Doch wen interessiert das noch in Zeiten, in denen das Internet alles seinen Regeln unterworfen hat? Copy/Paste sind anerkannte Kulturtechniken, auch wenn sie, im Falle kopierter Doktorarbeiten, noch Staatsaffären auslösen können. Andy Warhol hatte begriffen, wie er sich die Produktionsmittel aneignen konnte. Wie kaum einer zuvor bediente er sich, als Zuschauer wie als Protagonist, der Massenmedien, indem er nach dem Attentat auf ihn (1968), spätestens jedoch mit seinem Tod (1987), selbst in die Schlagzeilen der Boulevardmedien gelangte. Original und Fälschung scheinen in seinen Werken zu verschwimmen. Diese Empfindung hat der Zuschauer bei den, „Collaborations“ genannten, Gemeinschaftsarbeiten mit Jean-Michel Basquiat, den ikonografischen Werken, exemplarisch bei dem Gemälde des letzten Abendmahls („The Last Supper“, 1986) und nicht zuletzt bei den bewusst verfremdeten Zeitungsschlagzeilen. Die Ausstellung „Warhol. Headlines“ im MMK in Frankfurt am Main stellt all das auf eindrucksvolle Weise dar.

Kopiermaschinen faszinierten Andy Warhola von jeher. Denn wenngleich der gelernte Werbezeichner, dessen Familie aus der Slowakei in die USA eingewandert war, nach außen hin mit der Oberfläche kokettierte und stets beteuerte, er und seine Kunstwerke seien ein und dasselbe, interessierte ihn doch die Motivation der Medienschaffenden und der Unterschied zwischen dem Warenwert eines Produkts und seinem wahren Wert. Er fühlte sich magisch angezogen von der Welt der Sternchen, der Schönen und Reichen. Gerade einmal 5 Cents kostete die Daily News, eine Zeitschrift, die er neben anderen Boulevardblättern wie besessen sammelte. Von seiner Faszination für Medien zeugen seine „Time-Capsules“. 1974 hatte er begonnen, Gegenstände des täglichen Lebens zu archivieren – Keksdosen, Eintrittskarten, Quittungen, Werbeflyer, Briefumschläge, Postkarten, Zeitungsschnipsel, Zeitschriftenausschnitte und immer wieder Headlines: Schlagzeilen. Insgesamt 611 Kartons hatte Warhol bis zu seinem Tod mit derartigen Objekten angefüllt.

Andy Warhol begriff, wie er sich die Produktionsmittel aneignen konnte.

Ob der Werbezeichner irgendwann tatsächlich vor der Wahl zwischen Kunst und Kommerz stand? Fakt ist, dass Warhol schon früh so erfolgreich war, dass er in seiner Silverfactory quasi rund um die Uhr produzierte.

Auf die Dynamik der New Yorker Kunstszene, den Dreierbund zwischen Andy Warhol, Jean-Michel Basquiat und Francesco Clemente mit ihm selbst als dem Star setzt die Schau „Ménage à trois“ in der Bundeskunsthalle Bonn. Betritt man die Ausstellung, dann taucht man ein in die New Yorker Kunstszene der 80er Jahre. An einem roten Siebdruck der Freiheitsstatue, der unverkennbar Andy Warhols Handschrift trägt, bleibt der Blick zuerst hängen. Es folgen die bekannten Werke – die Suppendosen, Bananen und auch ein Porträt, das Basquiat von Warhol malte (Portrait of Andy Warhol as a Banana, 1984), die Dollarzeichen und die weltberühmten Seriendrucke in schrillen Farben: Mao, die Mona Lisa, Man Ray, eine Daimler-Benz-Kutsche oder auch Goethe. Ein Raum, tapeziert mit einer Fischgrätentapete designed by Andy Warhol, lockt mit Kinderzeichnungen, kleinen Pandabären und bunten Autos. Sinnlich und eingängig präsentiert sich die Bonner Schau. Zumal man an Hörstationen auch Kopfhörer benutzen, Hits von „Nico and the Velvet Underground“ auf sich wirken und dabei seinen Blick durch die Ausstellung schweifen lassen kann. An den Wänden sind Zitate zu lesen, denen zufolge die Factory ein Ort war, an dem fertige, doch verdammt coole Leute ihre Zelte aufschlugen, und Kommentare von Basquiat und Clemente, aus denen Bewunderung für den Meister spricht. Voller kreativer Energie sei ihre Beziehung gewesen.

Das Motto „Ménage à trois“, unter dem die Ausstellung steht, erscheint jedoch fragwürdig. Mit der Gegenüberstellung von Werken Warhols mit Arbeiten der beiden Künstler Jean-Michel Basquiat und Francesco Clemente, und mit gemeinschaftlichen Werken der drei, wird das Panorama einer dynamischen Kunstszene ausgebreitet. Doch als die besagte, von den Kuratoren beschworene Ménage à trois 1983 – drei Jahre vor Warhols Tod – beginnt, ist das Enfant terrible bereits 55 und ein alter Hase des Kunstbetriebs: verkannt und bewundert. Längst hat er seinen Stil gefunden, das Serielle zum Leitmotiv erhoben, und kann auf eine Karriere zurückblicken, in der die „Factory“, das Magazin Interview, The Velvet Underground und das Studio 54 nur einige der bedeutenden Stationen darstellen. Basquiat hingegen, gerade 23, steht am Anfang seines Schaffens. Nachdem er sich bis 1979 als SAMO („same old shit“) mit seinen Graffiti einen Namen gemacht hat, trifft er auf Warhol und entwickelt seinen wütenden Stil fort. Auf die Leinwand gebracht, entsteht eine energiegeladene Mischung aus Symbolen, Piktogrammen und Buchstaben. Und damit ein krasser Gegensatz zu Warhols kühler Ästhetik. Zwei Kooperationswerke, die auf handgemalten Schlagzeilen basieren ? „Ailing Ali in Fight of Life“ aus der New York Post vom 19. September 1984 in dem einen und „Plug Pulled on Coma Mom“ aus einer unbekannten Zeitungsquelle in dem anderen Werk ? findet man sowohl in Bonn als auch im MMK Frankfurt. Welche davon Originale, welche Duplikate sind, sei dahingestellt.

Copy & Paste sind in Zeiten von Internetsuchmaschinen wie Google längst Mainstream.

Darauf ?redigierte‘ Basquiat Warhol, indem er die Beschriftung veränderte, übermalte und mit mehreren seiner charakteristischen Motive abschwächte. Obwohl vieles dafür spricht, dass Warhol sich in aller Regel die letzte Entscheidung vorbehielt, hatte bei diesen beiden Werken, die im Stile eines ?Cadavre Exquis‘ entstanden, doch Basquiat ?das letzte Wort‘.

Dennoch sind Basquiat ebenso wie Keith Haring letztlich Ziehsöhne Warhols. Beide gehörten einer jüngeren Generation an, die den Künstler verehrte und ?Papa Pop‘ nannte. Für die Kunstwissenschaftlerin Jordana Moore Saggese ist es völlig unerheblich, wer wen beeinflusste. Saggese zufolge zeugen die „Collaborations“ von Warhol und Basquiat von „der gemeinsamen Beschäftigung mit dem Verhältnis von Objekt und Bild, von Wirklichkeit und Reproduktion“. Wurde seinerzeit noch viel über das Verhältnis von Warhol und Basquiat spekuliert, etwa in einem viel zitierten Artikel in der New York Times („Basquiat and Warhol in Pas de Deux“), in dem Basquiat als ?Andys Maskottchen‘ bezeichnet wurde, so scheint Francesco Clemente, der zu dem Zeitpunkt 31 Jahre alt und der Dritte im Bunde war, in dem künstlerischen Verbund mit Warhol lediglich eine Randfigur gewesen zu sein. Der Stil dieses Transavantgardisten ist spirituell. Während seiner Indienaufenthalte entdeckte er gemeinschaftliches Arbeiten als Verschmelzung geistiger Haltungen. Entsprechend wirken seine Gemälde traumhaft-mystisch und unterscheiden sich deutlich von den Gemeinschaftswerken Warhols und Basquiats.

In der Sicht des Züricher Galeristen Bruno Bischofberger, der eine große Andy Warhol-Sammlung besitzt und die Dreierkooperation 1983 initiierte, treten in den „Collaborations“ diese konträren Techniken miteinander in einen Dialog. Trotzdem lassen sich die drei Handschriften der Künstler ? Warhols Siebdrucke, Basquiats Ölkreidezeichnungen und Clementes Traumwelten ? stets deutlich voneinander unterscheiden. Einziger gemeinsamer Nenner scheint die Bedeutung von Sprache und Schrift zu sein. Ihre Gemeinschaftsarbeiten zeigen, dass die drei Künstler respektvoll auf den Beitrag der jeweils anderen reagierten, indem sie das bereits Bestehende modifizierten oder behutsam übermalten.

Vor allem aus den Basquiat-Warhol-Werken spricht Achtung. So begann Warhol nach über 20 Jahren, wieder mit der Hand zu malen, und Basquiat machte Versuche mit der Siebdrucktechnik. Seltsam ist, dass die Schau, obwohl sie auf diesen auch sexuellen, Dreierbund setzt, das Aufkommen von Aids nicht thematisiert. Auch Drogen spielten in der Konzeption der Ausstellung offenbar keine Rolle. Obwohl einige Gemeinschaftswerke wie etwa das 1984 entstandene „Drug King“ offensichtlich dies zum Motiv haben, erfährt man nur am Rande, aus einigen Katalogbeiträgen und einem kurzen Film, über Basquiats massives Drogenproblem.

So setzt die Bonner Schau auf den Wiedererkennungswert der bekannten Warhols und den Einfluss, den Basquiat und angeblich auch Clemente auf ihn hatten, und rüttelt an Warhols Einzelgänger-Image. Dennoch wirkt sie im Vergleich mit der internationalen Schau in Frankfurt wie ein Anfängerkurs über den Künstler. Denn während „Ménage à trois“ zu einem Zeitpunkt einsetzt, wo Warhol schon ein gehypter Star war, und ihn eher als [passives] Objekt des Kults um ihn zeigt, kehrt die Frankfurter Schau die politische Seite des Künstlers heraus, setzt den Beginn sehr viel früher an und konzentriert sich auf seinen kritischen Umgang mit den Massenmedien. Hier kann man den aktiven Warhol finden und nachvollziehen, wie er Überschriften klaute und verfremdete, indem er sie bewusst und provokativ in neue Zusammenhänge einbettete.

Als besagte Menage à trois, das künstlerische Zusammenwirken der drei, 1983, drei Jahre vor seinem Tod, beginnt, ist das Enfant terrible Warhol bereits 55 und ein alter Hase des Kunstbetriebs ? verkannt und bewundert.

„Warhol: Headlines“ führt im Grunde zurück zu den Ursprüngen der Pop-Art-Bewegung, indem sie Andy Warhol genau an der Schwelle seines Wandels vom erfolgreichen New Yorker Graphiker zum Popart-Titan der 1960er Jahre zeigt. Seine Fokussierung auf das Genre der Boulevardblätter signalisierte, dass er sich von dem Anspruch, die Wahrheit darzustellen ? im Inhalt der Medien oder im Medium der Kunst ? unmissverständlich distanzierte. So Molly Donovan, Kuratorin für Moderne und Zeitgenössische Kunst und Herausgeberin des Katalogs „Warhol: Headlines“, in ihrem Beitrag „Wo ist Warhol? Die Dreiecks-Konstellation des Künstlers in den Schlagzeilen“.

Ausgangspunkt der Ausstellung ist ein Werk, das sich seit 1981 im Besitz des MMK befindet: „Daily News“ aus dem Jahr 1962. Es zeigt die Diskrepanz zwischen dem „Warenwert“ und dem „wahren Wert“ eines Kunstwerks. Die Ausstellung vereint drei von Warhol handgemalte Headline-Werke aus den frühen 1960er Jahren. „A Boy for Meg“ und „129 Die in Jet“, auf die man beim Betreten der Schau stößt, lösten seinerzeit einen Schock in der New Yorker Kulturszene aus. Die Frankfurter Schau stellt den Werken Warhols jedoch im Wesentlichen originale Zeitungsseiten zum direkten Vergleich gegenüber. So wird klar, wie weit Warhol in seiner Umgestaltung und Neuinterpretation des „Tagesgeschehens“ ging, zu der ihn die Frage trieb, welche Mittel die Medien-Fachleute einsetzen, um „ihre Produkte“ zu verkaufen, und wie Massenmedien funktionieren, welche Rolle sie in der Gesellschaft spielen. Seine Titel fand er in Comics, Flugblättern, Zeitungsausschnitten, Pressebildern und Zeitungsschlagzeilen aus aller Welt: „Lies, lies, lies“ steht auf dem Cover des National Enquirer vom 22. Juli 1962 in einer Sprechblase über dem Kopf einer lasziven Brigitte Bardot. Eine bunte Collage mit Titelbildern der Bunten, die sich über die gesamte Wand erstreckt, dokumentiert nicht nur den Trend in Deutschland, sondern zugleich die Freundschaft zwischen dem Verleger Hubertus Burda und Andy Warhol. Burda soll in seinem Boulevardblättchen, der Bunten, die deutsche Antwort auf Warhols Magazin Interview gesehen haben. „So siegt Deutschland“, „Massen-Selbstmord in Guayana“ oder „Adieu Romy!“ lauten die plakativen Schlagzeilen der Klatschpostille.

Früh hatte Warhol verinnerlicht, dass Berühmtsein mit erzählten Geschichten verbunden ist. Rührte daher seine Leidenschaft für (Print-)Medien? An dem Klatsch über das Leben der Stars, dem Hype und dem hysterischen Getue darum herum wirkte er zwar mit, doch nur oberflächlich. In Wahrheit konterkarierte er diesen Umgang, indem er Schlagzeilen verfremdete, sie in einen neuen Kontext einbettete und damit letztlich seine eigene Geschichte erzählte. So etwa geschehen bei „Thirty-Five Jackies“, einer Portrait-Reihe von Jackie Kennedy, aufgenommen nach dem Tod ihres Mannes. Ein weniger prominentes Beispiel, das zeigt, dass Warhol eben nicht nur neutraler Beobachter war, ist die Verfremdung des Artikels „Judge Blasts Lynch Mob“ (Richter verurteilt Lynchmob) aus der New York Posts. Darin wurde über die Verurteilung eines Jugendlichen berichtet, der 1982 zusammen mit Kumpanen einen schwarzen Bahnarbeiter zu Tode geprügelt hatte. Warhol schnitt das Wort „Mob“ einfach heraus und überließ es dem Betrachter, sich den Sinn zu erschließen. Außerdem entfernte er das Bild, auf das sich die Wörter „Act of Humidity“ in der Zeitungsvorlage bezogen. Dieses zeigte Papst Johannes Paul II, wie er einem jungen Obdachlosen in Rom die Füße wäscht. Damit verwies Warhol auf den jeweils persönlichen Stellenwert der Nachrichten. Auch seine Fokussierung auf Boulevardblätter signalisiert, dass er den Anspruch, die Wahrheit darzustellen, klar infrage stellte. Davon, dass Warhol damit durchaus politisch Position bezog, zeugen jedoch nicht nur die Beispiele aus Printmedien ?

Künstlerisch faszinierend, weil die Rezeption der Medien durch Medienschaffende thematisierend, sind seine „Screen Tests“. Drei dieser insgesamt 472 etwa dreiminütigen Filme, die heute eher an Castingaufnahmen erinnern und die Warhol zwischen 1964 und 1966 in seiner Silverfactory produzierte, sind in einem Raum der Frankfurter Schau zu sehen. Sie zeigen drei Intellektuelle beim Lesen: den französischen Nouveau Réaliste-Künstler Arman, die Kunstkritikerin Grace Glueck, und den Direktor des Jüdischen Museums in New York, Alan Salomon. Dass eine Zeitung vorhanden ist, lässt sich nur aus dem Blick der Gefilmten erschließen, die, beim Lesen abgefilmt, konzentriert nach unten gucken. Der Voyeur Warhol bindet so das Publikum mit ein. Sein Werk funktioniert allein durch das Zusehen Dritter. Diese Überwachungsfilme geben angesichts der fehlenden Teilhabe der Modelle an der Performance Anlass, Fragen über das Wesen dieser „screen tests“ zu stellen. Weil letztlich wir, also das Publikum, das Kunstwerk vollenden, fragt man sich unwillkürlich, ob die Abwesenheit eines Betrachters das Werk zunichte machen würde.

Genau dieser Rückzug ist gerade heute in Zeiten von Big Brother und Dschungelcamp so erfrischend. Die Preisgabe der eigenen Persönlichkeit erfolgte eben um keinen Preis.

Dass Warhol kaum ein Medium aussparte, zeigt neben dem späten Andy Warhol’s TV auch ein „Electric Newspaper“. Gemeinsam mit einigen Factory-Mitgliedern schloss er sich Velvet Underground an, um sich an der East Village Other-Publikation von Electric Newspaper – Hiroshima Day – USA vs. Underground zu beteiligen. Warhols Beitrag mit dem Titel „Silence“ enthält elf Sekunden Umweltgeräusche. In der Frankfurter Ausstellung baumelt ein Mikrofon karg von der Decke wie eine Lampe und sondert eben jene schrägen Geräusche ab. „Hiroshima Day“ bezog sich auf den 21. Jahrestag des Atombomben-Angriffs. Das Datum fiel mit der Hochzeit von „Lady Bird“ Johnson zusammen. Auf ihrer Platte fließen Medienberichte rund um den Promi-Event mit dissonanten Klängen zur Erinnerung an den Abwurf der Atombombe zusammen. Zeitungsberichte über den Tod des Popart-Gottes und schließlich über die Frankfurter Schau runden die Ausstellung von „Warhol: Headlines“ ab und schließen damit den medialen Kreislauf.

So erscheint das Oeuvre Warhols auf den ersten Blick in Zeiten von social media und exzessiver Selbstdarstellung, die den Beteiligten Authentizität abverlangt und mit diesem Versprechen lockt, visionärer und aktueller denn je. Doch anders als heutigen „sozialen Netzwerke“, die Authentizität versprechen, hat Warhol ein solches Versprechen nie gegeben. Sobald die Kamera ihn anvisierte, wiederholte der Popart-King stoïsch, er wolle eine Maschine sein, und verschanzte sich hinter der Außenfläche. Genau dieser Rückzug ist in Zeiten von Big Brother und Dschungelcamp so erfrischend. Die Preisgabe der eigenen Persönlichkeit erfolgte eben um keinen Preis.

War Warhol nun ein Workingclass-Hero? Nein, aber für einen Einwanderer aus der Unterschicht war seine Kunst, wie er sie in der Factory ? bis 1967 die Szene-Adresse, in der Stars und gestrandete Existenzen zusammenkamen ? produzierte, subversiv und partizipativ. Damit verkörperte er wie kein anderer den American Dream, ließ andere an ihre Chance auf Ruhm glauben. Anthony E. Grudin sieht denn auch in seinem Aufsatz „Mythos und Klasse in Warhols frühen Zeitungsbildern“, einem lesenswerten Beitrag im Katalog „Warhol: Headlines“, in der augenfälligen Unfähigkeit Warhols, mythische Ideale zu reproduzieren, das Merkmal, das sein Schaffen auszeichnete. Schon in Warhols frühen Zeitungsbildern erkennt Grudin zwei unterschiedliche Formen von Mythen, die sich beide an ein Arbeiterpublikum richten und darum mit diesem assoziert werden. So sei die wahrgenommene Vorliebe der Arbeiterklasse für die Populärkultur von Markennamen, Prominentengeschichten und Comics ein Schlüsselelement von Warhols zeitgenössischer Szene, eines, das er andauernd in sein Werk und sein Image inkorporierte. Zuhörer, insbesondere solche, die sich aus der Arbeiterschaft rekrutierten, wurden so dazu gebracht zu glauben, sie könnten selbst zu Erzeugern von Mythen werden. Die Macht, die diese Mythen für Benachteiligte hatten, präge somit Warhols Werk, so Grudins These.

„Eine kapitalistische Gesellschaft verlangt nach einer bildbasierten Kultur“, schrieb Susan Sontag. Sie müsse eine gewaltige Menge an Unterhaltung liefern, um zum Kauf anzuregen und die durch Klasse, Rasse und Geschlecht verursachten Verletzungen vergessen zu machen. Hat der Popart-Gott nicht zuletzt das erreicht? Molly Donovan geht in ihrem Resümee sogar soweit, Warhol zu attestieren, dass er mit der Wahl seiner Themen bewusst kategoriale Unterschiede aufgehoben habe: „Indem er Sujets aus Revolverblättern wählte, bestätigte Warhol unaufhörlich, dass die Menschen sowohl gemein als auch nobel sind, homosexuell und heterosexuell, schwarz und weiß.“

Warhol zu unterstellen, er habe eine Beeinflussung des Proletariats im Sinn gehabt, ist freilich übertrieben. Schließlich wollte er immer ganz wo anders dazugehören, lechzte geradezu nach Ruhm. Doch indem er Schlagzeilen verfremdete und seine eigene Geschichte erzählte, antizipierte er nicht nur, wie gnadenlos Medien mit Einzelschicksalen umgehen und das Tagesgeschehen beeinflussen können, er griff eben auch auf seine Weise ein bisschen in das Weltgeschehen ein, im Bewusstsein um die Macht der Medien. Ist das der Grund seiner Aktualität?

Indem er einem jeden von uns 15-Minuten Weltruhm prophezeite – ein Ausspruch, der vermutlich gar nicht von ihm selbst stammt, also ebenfalls geklaut ist – gibt er uns die Illusion, dass nicht nur Stars aus Politik, Kunst und Kultur, sondern dass wir alle die Schlagzeilen sind!

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Warhol: Headlines noch bis zum 13. Mai im MMK Museum für Moderne Kunst in Frankfurt am Main. ww.mmk-frankfurt.de
Vom 11. Juni – 9. September 2012 ist die internationale Ausstellung, die ursprünglich in der National Gallery of Art in Washington zu sehen war, in der Galleria Nazionale d’arte Moderna in Rom zu sehen.
Der Katalog Warhol: Headlines ist erschienen im Prestel Verlag, 224 Seiten, 39,95 Euro.
Ménage à trois. Warhol, Basquiat, Clemente noch bis zum 20. Mai in der Bundeskunsthalle Bonn. www.bundeskunsthalle.de
Der Katalog Ménage à trois. Warhol, Basquiat, Clemente ist erschienen im Kerber Verlag, Museumsausgabe 29,- Euro.

 


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