FLUCH DER HEIMAT: Holzhacken mit Gefühl

In seinem Romandebüt zerlegt der Schauspieler Josef Bierbichler sprachgewaltig die Geschichte einer Familie und rechnet dabei mit bayerischem Heimatkitsch ab.

Kein dickmausiger Flachbrunzer: Der Autor und Schauspieler Josef Bierbichler.

Holzhacken hilft beim Abreagieren. Es ist ein meditativer Gewaltakt. Und es befreit den Kopf. Josef Bierbichler kann das gut. Er macht es ohne Mühe. So wie vor ein paar Jahren in „Holzschlachten. Ein Stück Arbeit“, als er auf der Bühne einen früheren KZ-Arzt spielte, der wie ein Besessener einen Baumstamm nach dem anderen zerhackt und dabei ohne Reue über die Naziverbrechen spricht.

Josef Bierbichler ist einer der größten deutschsprachigen Schauspieler, sowohl im Theater als auch auf der Leinwand und im Fernsehen, weil er unvergleichlich ist in seiner derb grobschlächtig wirkenden bajuwarischen und doch so feinfühligen Art. Letztes Jahr hat der 1948 in Ambach am Starnberger See geborene Schauspieler, der unter anderem mit Rollen in den Filmen von Herbert Achternbusch bekannt wurde, mit dem er einst in einer WG lebte und heute verkracht ist, ein Buch geschrieben. Es ist sein zweites nach „Verfluchtes Fleisch“, in dem er vor allem übers Theater und das Leben räsonierte. Dieses Mal ist es ein Roman.

„Mittelreich“ beginnt mit einer Idylle: Der alte Viktor füttert in der Sommerhitze an einem See in Oberbayern die Vögel, als plötzlich ein Überschallflugzeug die Nachmittagsstille zerreißt. Bierbichler beschreibt es als ein „minutenlang verebbendes, nicht mehr enden wollendes Maschinendonnergrollen am Himmel“. Die Vögel flüchten in alle Himmelsrichtungen. „Ein orientierungslos gewordener Eichelhäher, der sich im Sturzflug auf die Stahlbetondecke der Jauchegrube geworfen hat, bleibt tot in einem kleinen Blutfleck liegen.“

Alles ist brüchig, jede Idylle ist eine trügerische. So verhält es sich auch mit der angeblich so heilen Dorfwelt, hinter der nur Bigotterie und Lebenslügen versteckt sind. Was wie Heimat erscheint, stellt sich nur als Bild von Lug und Trug heraus. Das gilt aber nicht nur für das bayerische Dorf, sondern für die ganze Welt. „Die Erde ist keine Heimat“, heißt der zweitletzte Satz des Buches, das die Geschichte der Familie des Seewirts über drei Generationen erzählt. Auch das Dorf kann keine Heimat sein. Vielmehr ist es ein „Mittelreich“ zwischen Himmel und Hölle.

Der Vater des Seewirts stieg vor dem Ersten Weltkrieg zu einem wohlhabenden und angesehenen Bauern auf, der zudem mit seinem Hotel Gäste aus der nahen Hauptstadt anlockt. Sein Sohn Pankraz übernimmt anstatt des älteren Bruders, dem auf dem Schlachtfeld ein Kopfschuss verpasst wurde und der daraufhin den Verstand verlor, das Wirtshaus, obwohl er doch lieber Opernsänger geworden wäre. Er baut das Anwesen aus und wird ein guter Unternehmer. Die Sängerkarriere musste er dafür an den Nagel hängen, auch wenn er in einer der vielen fantastischen, bildgewaltigen Szenen des Romans dem über dem Starnberger See aufkommenden Sturm eine Wagner-Arie entgegen schmettert.

Für die Familie hat Pankraz in diesem Roman, der teils Familien- sowie ein Stück Heimatroman ohne das Heimische ist, den Wohlstand vermehrt. Zwar ist sie nicht schwerreich, aber doch zumindest „mittelreich“. So wie Seedorf ein Mikrokosmos ist, kein großes Reich, sondern ein „Mittelreich“. Der Abstieg der Seewirt-Familie verläuft zuerst unmerklich, aber doch unaufhaltsam. Der Sohn Semi, im Klosterinternat von einem Pater sexuell missbraucht, wirft Vater und Mutter vor, ihn im Stich gelassen zu haben. Er beginnt zu trinken.

„Das Leben wurde sicherer. Aber die Verunsicherung wuchs.“

Auch im Dorf und in der Landwirtschaft sind die alten Zeiten zu Ende: An die Stelle von Handarbeit treten Maschinen, die alten Werte gehen verloren. Das ganze wird oft auf ironische Art und Weise beschrieben, wenn zum Beispiel die Touristen wie Heuschrecken in Seedorf einfallen – aus der nahen Großstadt, schicke Prominenz ebenso wie eine Gruppe von Hippies.

Der Autor verknüpft dies mit zeithistorischen Abschweifungen und Schilderungen, die nicht immer notwendig sind. Familien- und Zeitgeschichte vermischen sich und stellen ein Spiegelbild der deutschen Gesellschaft in den verschiedenen Jahrzehnten dar – vom Anfang des 20. Jahrhunderts über die Nazizeit bis in die Achtzigerjahre. In den Geschichten über die Leute in Seedorf scheinen die weltgeschichtlichen Ereignisse auf.

Bisweilen fühlt man sich bei der Lektüre des Buches an Edgar Reitz‘ TV-Trilogie „Heimat“ erinnert. Autor Bierbichler arbeitet ähnlich wie die Fernsehproduktion, indem er das Ländliche mit dem Überregionalen verbindet. Er beweist dabei eine beeindruckende erzählerische Kraft, verknüpft verschiedene Zeitebenen miteinander, das Ernste mit dem Komischen. Allerdings verzichtet Bierbichler nicht auf einen allwissenden Erzähler. Dieser kennt die Leute aus Seedorf. Seine Perspektive, manchmal scheint es die von Semi zu sein, ist jedoch nicht ganz eindeutig.

Die Handlung ist episodenhaft, ihr Aufbau rhythmisch zwischen zeitraffenden und -dehnenden Passagen. Monologische wechseln sich mit dialogischen Szenen ab. Das verleiht der Erzählung Dynamik. Die Sprache vermischt realistische und poetische Elemente, ironisch-satirische mit expressionistischen und grotesk-absurden Bildern. Immer wieder wabert die Atmosphäre zwischen der Abgestumpftheit der Bierdimpel und Gewaltbereitschaft – alles dicht und expressionistisch beschrieben. Den Gipfel des Exzesses erreichen die Schilderungen von Gewaltausbrüchen.

Doch es sind nicht die Beschreibungen dieser Exzesse, die Bierbichlers Stil kennzeichnen. Es sind mehr die Stimmungsbilder und bayerisch-kunstsprachliche Formulierungen wie: „Das Leben wurde sicherer. Aber die Verunsicherung wuchs.“ An einer anderen Stelle heißt es: „Ich war zwar nie ein Nazi. Aber kein Nazi war ich nie.“ Die Sprache ist mal kantig, mal flüssig und strotzt vor Bilderreichtum: „Konrad hieß der neue Adolf, und die neue Mark begann nach und nach ein glänzendes Fett anzusetzen.“ Hinzu kommen Neologismen wie „Frauenkörpersehnsucht“ oder „Kellerlochgesicht“ oder Begriffe wie „dickmausige Flachbrunzer“. Als ein zusätzlicher Genuss empfiehlt sich übrigens das Hörbuch, gelesen von Bierbichler selbst. Es liefert ein zusätzliches Zeugnis der Sprachgewalt des Autors.

Die Romanfiguren sind in ihren Traditionen und dorfgesellschaftlichen Verhaltensnormen gefangen. Ihre Lebensentwürfe sind vorgezeichnet, individuelles Handeln ist ausgeschlossen. Sie können dieser Enge nicht entfliehen. Schon Pankraz hadert damit: „Verfluchtes Erbe“, schreit er, „verfluchter Zwang. Ich will der Knecht nicht sein von diesem alten Krempel, den ihr verfluchten Ahnen hier gebündelt habt. Ich hasse dieses Haus und diesen Heimatkram. Ich will heraus, heraus aus allem, was ich muss. Ich will nur noch das machen, was ich kann.“ Das macht ihn nicht sympathischer, schließlich ist er ein unverbesserlicher Nazi.

Fast alle Personen scheitern am Ende, ihre Hoffnungen bleiben unerfüllt und werden enttäuscht. Nur die Magd, die alte Mare stirbt, ohne große Schicksalsschläge erlebt zu haben, friedlich und selig während der Fernsehübertragung der Papstwahl – als würde sie durch den Fernseher verschwinden, als sei sie „noch in der Nacht in den Himmel aufgefahren“. Das ist schon alles, was der Autor an Himmelfahrt zulässt.

In einer anderen Szene beschreibt Bierbichler, wie ein Entlein in die Jauchegrube gefallen ist. Alle stehen um das Tier herum und bedauern es, aber keiner unternimmt etwas. Bis der alte Knecht Sepp kommt und es aus der stinkenden Brühe rettet. Das Entlein wird danach getötet und zu einem Braten zubereitet. Das Schicksal nimmt in der Pfanne seinen Lauf. Mit Szenen wie dieser zeigt Josef Bierbichler, dass nicht nur in seiner Schauspielkunst im rauen Tonfall des Bayern die Zärtlichkeit des Empfindsamen steckt. Und dass das Holzhacken nicht eine Meditation für Berserker, sonder eine filigrane Form des Ausdrucks sein kann. Holz hat er auch in „Mittelreich“ gehackt, mit Gefühl.

Josef Bierbichler – Mittelreich. Suhrkamp Verlag, 392 Seiten.


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