Lyrische Streifzüge: Lachen, das dem Staunen weicht

Peter Kurzeck kultiviert ein literarisches Genre: den mündlichen Roman. Auch in dem eben erschienenen Mitschnitt „Unerwartet Marseille“ weckt er die Sehnsüchte seiner Zuhörer.

Wunderbarer Geschichtenerzähler: Der Autor Peter Kurzeck.

Für Peter Kurzeck fing der Sommer 1968 mindestens ein Jahr früher an. In der Nacht, als die Turmuhr im Dorf seiner Kindheit nach langer Zeit erstmals wieder die Stunden schlug. Am Tag, an dem er seine Freunde im Auto über die Grenze nach Straßburg begleitete. Damals war ihm, als würden die Sommer von Jahr zu Jahr länger und besser werden. Im Juni, seinem Geburtstagsmonat, war die Verheißung deutlich zu spüren, am allerdeutlichsten auf Reisen. Das Glück der Unerreichbarkeit war noch kein Titel aus der Management-Ratgeberliteratur. Es war noch eine wirkliche Empfindung, die einen überwältigen konnte, nachdem man aus dem Wochenende nicht pflichtgemäß ins Büro zurückgekehrt war, sondern weiter an der südfranzösischen Küste weilte. Ferngespräche musste man damals noch auf einem Postamt anmelden, auf eine freie Leitung zu warten konnte Stunden dauern. Um den guten Willen zu beweisen, schrieb man deshalb einfach ein schnelles Telegramm: „Unerwartet Marseille.“ Rückkehr verhindert, irgendwie verzögert, jedenfalls vorerst nicht absehbar.

Über seinen frühen Kindheitstraum unvergänglicher Junitage hat Kurzeck erstmals in „Ein Sommer, der bleibt“ gesprochen. Als „Hörbuch des Jahres 2008“ ausgezeichnet, begründete die Aufnahme Kurzecks Ruhm als wunderbarer Geschichtenerzähler, Erfinder eines neuen Genres: dem mündlichen Roman. Diese eigenständige literarische Kunstform entwickelte sich zwar tatsächlich ohne Manuskriptvorlage, doch wurden Kurzecks mündliche Reden für die bisher erschienen Romanhörbücher erst im Tonstudio zu einer Abfolge stimmiger Episoden durchkomponiert. Bei „Unerwartet Marseille“ handelt es sich dagegen um einen Live-Mitschnitt. Der Literaturwissenschaftler Jörg Döring lud Kurzeck im vergangenen Frühjahr an der Universität Siegen in sein Seminar und bat ihn, den Studierenden von seiner Reise in den Prager Frühling 1968 zu erzählen. Die Aufzeichnung dieser Erzählung wurde nicht nachbearbeitet, nur durch deutliche Schnitte in kleine Kapitel unterteilt. Kurzeck „unplugged“. Zu hören ist sein vertrauter, weicher Redefluss mit allen dazugehörigen Pausen, Verzögerungen und Abschweifungen, die nachträglich aufflammende Erregung, die aufmerksam freundliche Zuneigung für sein Publikum. Wer den Autor je auf einer Lesung erlebt hat, hört sein Lächeln, die Andeutung einer Geste, spürt seinen Blick in die Ferne, auf den Horizont zu.

„Unerwartet Marseille“ ist eine Einladung zum Verreisen, dem Sommer hinterher, dem Nachsommer entgegen.

Schon lange vor dem Sommer `68 war Kurzeck möglichst oft unterwegs: mit alten Autos auf kleinen Landstraßen über Umwegen durch ganz Europa. Der Weg nach Prag führt über Brixen nach Venedig, weil er „von Rechts wegen“ sowieso eigentlich immer schon Venezianer war. In Pula, auf der istrischen Halbinsel lässt er sich von einer flüchtigen Liebe ein paar Tage länger aufhalten. In Wien muss man wie immer auf das Visum warten. Dann endlich Bratislava und schließlich Prag. Im Osten ist der Alkohol nicht nur billiger, er wird auch in anderen Einheiten bemessen: man bekommt zwei Deziliter Cinzano oder 150 Gramm Wodka. Dazu sozialistische Trinksprüche inmitten habsburgischer „Plüschvergangenheit“, leichte Walzermusik unter schweren Kronleuchtern. Die Welt dreht sich, alles wankt. Schon während der Sechzigerjahre, versichert Kurzeck, konnte man den Eindruck haben, dass die Welt von Jahr zu Jahr besser werde und dass man selbst mit daran beteiligt sei.

Das Publikum lacht. Immer wenn Kurzeck von seinen Trinkgewohnheiten erzählt, die Vor- und Nachteile des Kif-Rauchens überdenkt, sich an die Leichtigkeit ständigen Verliebtseins erinnert und jede Grenzüberschreitung im Tonfall der allergrößten Selbstverständlichkeit vorträgt, wird es laut. Wer den Bachelor machen will, kennt keine Muße. Für Begegnungen, die sich nicht als Networking verbuchen und Reisen, die sich nicht als Fremdpraktika rechtfertigen lassen, bleibt keine Zeit. Jede lustvolle Entäußerung, allein schon die Vorstellung davon, ist verboten. Die Unruhe im Saal verrät, welcher Aufwand für die Anpassung an das Realitätsprinzip einer Welt, die schon lange nicht mehr besser wird, betrieben werden muss.

Kurzeck macht weiter seine Spaziergänge durch Prag. Er überquert den Altstädter Ring, über den eben noch Franz Kafka gelaufen kam, geht als „Prager Fußgänger“ neben dem Dichter Vítezslav Nezval über die Karlsbrücke und hat immerzu Apollinaires Verse im Kopf. Ein endlos langer lyrischer Streifzug durch die Avantgarde. Denn trotz der neuen pastellfarbenen Fassaden in der Pariser Straße scheint die Zeit nicht wirklich vergangen. In der Erinnerung ist es immer noch der gleiche Augenblick. „Und dann kommt einem die idiotische Politik dazwischen.“ Im Café am Wenzelsplatz schreibt Ludvik Vaculik sein berühmtes Manifest. Zum Andenken an die Selbstverbrennung Jan Palachs werden überall in der Stadt Kerzen aufgestellt. Kurzeck leiht sich einen Korkenzieher und fährt nach der Okkupation durch das ganze Land. Er trinkt unaufhörlich, um näher bei sich zu sein; nimmt Wachtabletten, sodass sich die Tage schlaflos aneinanderreihen. Alles wird greller, das Licht „überwältigend hell“. Es war so, sagt er, als würde man unentwegt explodieren.

Nach der Niederschlagung der kommunistischen Reformbewegung emigrieren einige der tschechischen Freunde nach Schweden. Kurzeck besucht sie zwei Jahre später auf seiner Reise ans Nordkap. Während er von den langen Autofahrten durch helle Nächte erzählt, nimmt er sich ein Stück Kuchen, spricht kauend weiter. Die nervöse Verlegenheit des Publikums scheint sich in ein ruhiges Staunen verwandelt zu haben. Die Sehnsucht hat endlich auch seine Zuhörerinnen und Zuhörer ergriffen. Kurzecks Stimme führt in die Weite. Alle Träume bekommen einen sanften Klang. Die Welt verfärbt sich, die Zeit bleibt stehen. Vielleicht sind auch schon einige Studierende leise, unhörbar aufgestanden und hinaus in die Abendsonne, versuchen zum ersten Mal in ihrem Leben zu trampen oder erinnern sich, dass am Bahnhof immer noch ein Zug fährt. „Unerwartet Marseille“ ist eine Einladung zum Verreisen, dem Sommer hinterher, dem Nachsommer entgegen.

Peter Kurzeck erzählt „Unerwartet Marseille“. 2 Audio-CDs, Stroemfeld Verlag.


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