In seinem neuen Erzählband „Kolja“ widerlegt Chaim Noll das Stereotyp vom einheitlichen Judenstaat.
Die Medienberichterstattung aus Israel wird von Kriegsschlagzeilen bestimmt: blutige Anschläge, militärische Kommandoeinsätze, erneute Grenzzwischenfälle, scheiternde Friedensbemühungen. Mit einer Kriegsnachricht beginnt auch die Titelgeschichte von Chaim Nolls Erzählungsband Kolja. Allerdings geht es darin nicht um Israels Rolle im Nahen Osten, sondern um eine Pressestory zum Tod des Unteroffiziers Nikolai R. Die Beerdigung des jungen Mannes gerät zur Staatsaffäre, weil Kolja, der erst wenige Jahre zuvor mit seinem jüdischen Vater eingewandert war, auf Wunsch seiner russischen Mutter in seiner Geburtsstadt begraben werden soll. Auf die Todesnachricht folgt eine mehrtägige, leidenschaftlich geführte Debatte über die Lebenswirklichkeit russischer Einwanderer in Israel. Der Vorfall endet schließlich mit einer kleinen Notiz, als längst schon wieder andere Schlagzeilen für Aufregung sorgen.
Noll aber interessiert sich für die kleinen, unspektakulären Meldungen und erzählt unaufgeregt aus der gegenwärtigen israelischen Gesellschaft. Spätestens mit der dritten Geschichte, in der erstmals die Erzählform von der auktorialen in die Ich-Perspektive wechselt, wird deutlich, dass der Autor mitten unter seinen Figuren lebt, aus seinem israelischen Alltag erzählt.
Seit 1995 lebt Noll in Israel. Geboren wurde er 1954 in Ostberlin. Als Sohn des Schriftstellers und Kulturfunktionärs Dieter Noll wächst er im Milieu der DDR-Nomenklatura auf, von der er später in seinem Roman „Der goldene Löffel“ ein schaurig-abgründiges Portrait entwirft. 1984 siedelt Noll nach Westberlin über. Heimisch wird er auch in der BRD nicht. Zwei Jahre nach der Wiedervereinigung, als die ersten ausländerfeindlichen Pogrome vom nationalen Erwachen künden, entscheidet sich Noll für ein Leben ohne Deutschland. Er zieht zunächst für einige Jahre nach Rom, schließlich nach Israel.
Der Frage, was es heißt, als Jude unter Deutschen zu leben, hat Noll mehrere Essays gewidmet, inzwischen hat sie für ihn an Bedeutung verloren. In der Erzählung „Talkshow“ blitzt in einem Gespräch über einen verstorben DDR-Oppositionellen, der seine jüdische Identität im Namen des sozialistischen Menschheitstraums aufgegeben hatte, die Erinnerung an die Situation von Juden und die besondere Form des Antisemitismus in der DDR noch einmal kurz auf. Doch als ihm ein jüdischer Kollege nach einer Konferenz in der Schweiz beteuert, er würde es hassen, nach Deutschland zurückkehren zu müssen, weil er sich dort fühle „wie eine Ratte in der Falle“, entgegnet Noll lapidar: „Warum gehst du dann nicht weg?“
Chaim Noll lebt gerne in Israel. „Es ist schön hier. Das Meer rauscht, die Sonne steigt auf hinter Palmen ?“ In der eher selbstironischen, denn naiven Begründung kommt die staunende Freude zum Ausdruck, in südlicher Landschaft zu leben. Zunächst am Meer, über das so viele Einwanderer gekommen waren, das man deshalb nicht aus den Augen verlieren will. Später zieht es die Nolls ins Landesinnere, weiter nach Süden, an den Rand der Negev Wüste. Hier ist das Landschaftserlebnis noch intensiver.
Es ist mühsam, im ständigen Kampf gegen Trockenheit und Sandstürme einen Garten anzulegen. Niemand weiß das besser als Eli, der einzige aus der Gründergeneration, der noch gesund genug ist, um auf der Siebzig-Jahr-Feier des Kibbuz eine Rede zu halten. Er hat mitgeholfen, das Land bewohnbar zu machen, doch seine Söhne und Enkel sind statt Kibbuz-Bauern wieder „Buchstaben-Gelehrte“ geworden.
Begeistert und staunend folgt man den Geschichten Nolls, der in einer schönen und wunderbar leichten Sprache Lebensgeschichten skizziert.
Mit der Nutzung und Entwicklung des Wüstengebiets beschäftigt sich heute die von David Ben Gurion gegründete Negev-Hochschule in Beer Sheva. Auch Noll unterrichtet an der Universität, bietet regelmäßig Sommerkurse für Gaststudenten an. Mehrere Geschichten erzählen von ausländischen Studierenden, wie sie mit der Angst vor Terroranschlägen zu leben lernen, sich in Literaturseminaren der Kultur der Beduinen zu nähern versuchen und nicht selten der Liebe wegen für immer im Land bleiben.
Nicht für alle Immigranten ist Israel das Gelobte Land. Noll erzählt auch von Russen, die statt in Israel lieber in Deutschland leben und einem jungen Mailänder Juden, der in Jerusalem, weil er die jüdische Abstammung seiner Mutter nicht nachweisen kann, von den Rabbinern in einen Konvertierungskurs geschickt wird.
Faszination und Befremden der Menschen, die für ein Gastsemester oder ein Forschungsprojekt erstmals nach Israel kommen, übertragen sich beim Lesen: Begeistert und staunend folgt man den Geschichten Nolls, der in einer schönen und wunderbar leichten Sprache Lebensgeschichten skizziert, von fabelhaften Begegnungen berichtet, aber auch Alltagserfahrungen schildert, auf die niemand stolz sein kann. Die kürzesten der ohnehin allesamt kurzen Erzählungen sind Parabeln, fein geschliffene Kleinode.
„Es hat keinen Sinn, eine Geschichte zu erzählen, die man nicht selber erlebt hat oder wenigstens erlebt haben könnte“, belehrt ein weißhaariger Alter einen amerikanischen Studenten, der vorlaut behauptet, die Geschichte eines palästinensischen Jungen aufschreiben zu können. „Ich habe mich immer gescheut, Geschichten von der anderen Seite des Zauns zu erzählen“, gesteht der Mann, der Nolls Alter ego sein könnte. Denn auch der Autor beschränkt sich darauf, die Verwerfungen auf seiner Seite zu erzählen, zwischen aschkenasischen, sephardischen und russischen Juden, zwischen israelischen Juden und Juden in der Diaspora, zwischen orthodoxen und atheistischen Israeli. Das Ensemble seiner Figuren widerlegt das Stereotyp vom einheitlichen Judenstaat. In vielen Geschichten treten Soldaten auf, sie gehören zu jeder israelischen Familie, ins israelische Stadtbild. Nicht zuletzt betont der Autor auf diese Weise, dass das Land sein Existenz- und Verteidigungsrecht selbstverständlich jederzeit in Anspruch nimmt.
Die Zuneigung, mit der Noll aus Israel erzählt, mag auf postzionistische Intellektuelle irritierend wirken und die typischen Israelkritiker, die ihre antisemitischen Ressentiments als salonfähigen Antizionismus präsentieren, provozieren. Souverän tritt er der Israel-Kritik entgegen, die sich durch Einseitigkeit und moralische Doppelstandards auszeichnet. Die Ausbeutung von palästinensischen Tagelöhnern, das Misstrauen gegenüber den Beduinen, die Diskriminierung arabischer Israelis beschönigt er nicht. Offen beschreibt Noll seine Empörung über die Machenschaften des „Schutzgeld-Scheichs“, ebenso wie seine Hilflosigkeit bezüglich der immigrationspolitischen Schikanen seines Landes. Israel ist nicht unbedingt besser als andere westliche Demokratien. Deshalb aber noch lange nicht verantwortlich für alles Elend hinter dem Sicherheitszaun, den der Autor von seiner Dachterrasse aus einsehen kann.
Was andernorts als Nahostkonflikt gelegentlich Schlagzeilen produziert, erleben die Menschen in Israel als endlosen Krieg. Das „Ausmarschieren und Wieder-Einmarschieren“ wird in Nolls Geschichten nicht ver-, sondern bewusst beschwiegen: „Wir schwiegen auch deshalb, weil wir nicht reden wollten, weil Reden in diesen Tagen nicht half.“ Und so bleiben die Männer, die sich in der Synagoge zum Morgengebet treffen, genauso stumm wie Alain, wenn er in den Semesterferien bei seinen Eltern in Paris zu Besuch ist. „Das Schweigen war nicht verächtlich oder kalt, eher ratlos.“ Umgekehrt weiß Annas Freund nichts zu erwidern, als sie ihn anlässlich eines angekündigten Familienbesuchs warnt „ihr Bruder hätte von Israel und vom Mittleren Osten ?nicht viel Ahnung`, in Deutschland redeten viele so, es sei ?nicht so gemeint`. Ihr Bruder hätte nichts gegen Israel, nur glaubten sie in Europa besser zu wissen, wie man es hier machen müsse.“ „Really?“ ist Simons knappe Antwort.
Während die einzelnen Geschichten häufig in einem offenen Schluss enden, entwirft Noll gegen Ende des Erzählbandes eine eindeutig düstere Zukunftsaussicht. „Nachrichten aus dem schrecklichen Newark“ zerstören die Vorstellung von einer amerikanischen Lobby und jede Illusion von Sicherheit. Zwar beruht der Schrecken über vermeintlich antisemitische Ausschreitungen an der Ostküste der USA nur auf einem sprachlichen Missverständnis, doch dass die Verwechslung überhaupt möglich war, erscheint als unheilvolle Vorahnung: „Es wäre ein gutes Gefühl gewesen, Amerika hinter uns zu wissen.“ Nolls Geschichten aus Israel enden in der Sorge, dass Pogrome, wie sie im alten Jahrhundert in Europa stattfanden, sich wiederholen könnten, überall auf der Welt.
Chaim Noll – Kolja. Geschichten aus Israel. Verbrecher Verlag, 285 Seiten.