LIBERALISIERUNG: Ein Monster

Im europäischen Parlament wurde diese Woche das vierte Eisenbahnpaket beschlossen, das bis 2019 eine weitgehende Liberalisierung des europäischen Schienenverkehrs vorsieht. Dabei belehrt uns die Geschichte eigentlich eines Besseren.

„Liberalisiert endlich“ hieß es im Lëtzebuerger Journal am Dienstag. Patrick Welter lobte darin das sogenannte vierte Eisenbahnpaket, mit dem sich das Europaparlament am selben Tag in erster Lesung auseinandersetzte. „Damit wird den alten Staatsmonopolisten die Möglichkeit entzogen, ihre Vorrangstellung zu verteidigen“ konnte man lesen und „Wo die neuen Bahnen zum Zug kommen, machen sie es gut.“ Nach den ersten drei Eisenbahnpaketen, durch die der internationale Personenverkehr bereits größtenteils liberalisiert wurde, sieht das vierte Paket vor, den gesamten Schienenpersonenverkehr in den EU-Mitgliedsstaaten zu vereinheitlichen und zu liberalisieren. Einheitliche Schienensysteme, eine zentrale Fahrzeuggenehmigung für alle Mitgliedsstaaten, ein einheitliches Ticketing-Sys-tem bis 2019, das ist der eine Teil des Gesetzespakets. Der andere Teil sah die Zwangstrennung von Netz und Betrieb vor, welche vom europäischen Parlament in der Form abgelehnt wurde. Damit hätte sich ein Unternehmen etwa um die Personen- und Warenbeförderung gekümmert, ein anderes um die Schieneninfrastruktur. Vor allem aber sieht das vierte Eisenbahnpaket den Zugang aller Anbieter zu den Netzen und die europaweite Ausschreibung aller Angebote vor. Eine Direktvergabe wie bisher soll nicht mehr möglich sein.

Diese „Marktöffnung“, die den „Wettbewerb“ beschleunigen soll, wird laut Europäischer Kommission für „bessere Qualität und mehr Wahlmöglichkeiten“ sorgen. Für die Gewerkschaften der EisenbahnerInnen, hierzulande Landesverband und Syprolux, wird sie die Existenz der traditionellen Eisenbahnunternehmen gefährden. Am Montag hatten sie zu einer Kundgebung vor dem hauptstädtischen Bahnhofsgebäude aufgerufen. Während seiner Rede warnte Guy Greivelding, Präsident des Landesverbands, vor den „negativen Effekten“ einer Liberalisierung des europäischen Schienenverkehrs. „Wir stehen einem Monster gegenüber!“ rief er. Für ihn führt eine Marktöffnung, wie das europäische Parlament sie beschlossen hat, dazu, dass „gute und bewährte Strukturen zerstört“ werden. Er rief in Bezug auf die kommenden Europawahlen dazu auf, „der Politik der Liberalisierung öffentlicher Dienstleistungen ein Ende zu setzen“. Im Anschluss an die Kundgebung besetzten TransportarbeiterInnen der Gewerkschaften Landesverband und Syprolux Gleise und hinderten die Züge zehn Minuten lang an der Abfahrt, um symbolisch darauf hinzuweisen, was die Konsequenzen einer Privatisierung sein könnten: Sicherheitsmängel, vernachlässigte, weil nicht lukrative Streckenabschnitte und vor allem Verspätungen.

In der Tat gibt die Geschichte den GewerkschaftlerInnen Recht, auch wenn Patrick Welter vom Journal meint, oder in Anbetracht der editorialen Linie seines Blattes wohl meinen muss, eine Liberalisierung der Schiene täte Not. Vorreiter in Sachen Eisenbahnprivatisierung war Anfang der 1990er Jahre Großbritannien. Der konservative Premierminister John Major privatisierte 1994 die Gesellschaft British Rail vollständig. Das Unternehmen wurde in 106 verschiedene Firmen zerlegt, für die mehr als 2.000 Subunternehmen arbeiteten. In der Folge gab es mehrere tödliche Unfälle auf britischen Schienen, von denen mindestens einer, im Jahr 2000, auf eine schlampige Instandhaltung zurückzuführen war. 2005 veröffentlichte die Times Teile einer Studie, nach der sich die Summe aller Verspätungen seit der Privatisierung auf 11.000 Jahre belief. Resultat war, dass die Fahrgastzahlen um fast 25 Prozent sanken. Auch in Neuseeland wurde die Bahn 1993 vollständig liberalisiert und für 332 Millionen Euro an private Investoren verkauft. Nachdem die Infrastruktur weitgehend verfallen war und Investitionen wie Instandhaltung ausgeblieben waren, kaufte der neuseeländische Staat die Bahn 2008 für 665 Millionen Euro zurück und verstaatlichte sie wieder vollständig.

Mit Ausnahme der Passage über Trennung von Netz und Betrieb stimmte das europäische Parlament für das vierte Eisenbahnpaket. Jetzt müssen noch die Mitgliedsstaaten entscheiden. Guy Greivelding hofft darauf, dass die Gambia-Koalition die „Privatisierung öffentlicher Dienstleis-tungen zurückweist“.


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