Am 15. Juni tritt das Welterbekomittee in Katar zusammen, um neue Stätten in die Unesco-Liste aufzunehmen. In diesem Jahr wird die Tausendermarke überschritten. Aber der Hunger auf die Auszeichnung ist noch nicht gestillt.
Nur Güter „von außergewöhnlichem universellem Wert“ dürfen zum Welterbe ernannt werden, so schreibt es die Unesco-Welterbekonvention von 1972 vor. Mittlerweile genügen 981 Denkmäler aus 160 Ländern diesem hohen Anspruch. Früher dominierten Schlösser und Kathedralen die Welterbeliste, sie galt bald als zu europalastig. Die Unesco bemüht sich seither um unterrepräsentierte Kategorien, so dass heute auch südamerikanische Kupferminen oder afrikanische Felsmalereien zum Welterbe gehören.
Dennoch ist die Liste unausgewogen. Frankreich und Deutschland verzeichnen an die 40 Einträge, Spanien und Italien einige mehr. Italien gelang es 1997 sogar, zehn Stätten auf einmal in die Liste zu bekommen. Zwar sind auch außereuropäische Staaten – China, Indien, Mexiko ? reichlich mit Titeln ausgestattet, doch andere bevölkerungsreiche Länder haben einen deutlichen Rückstand: Brasilien kommt auf 19 Einträge, Indonesien auf 8, Nigeria nur auf 2.
Das Ungleichgewicht, das die Liste von Anfang an besaß, konnten auch neu geschaffene Kategorien nicht beseitigen, etwa die Kulturlandschaften. 1992 eingeführt, sollte diese Kategorie unterrepräsentierten Nationen den Zugang zur Liste erleichtern, etwa den Philippinen mit ihren Reisterrassen. Aber auch Europa nahm sie dankend an und ließ Weinanbaugebiete adeln.
Weinbaugebiete gegen Reisterrassen
Christoph Brumann vom Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung in Halle spricht von einem „Hase-und-Igel-Wettlauf“. Die Bewerbungen seien inzwischen „langjährige, hohe Summen verschlingende Unternehmungen“. Während finanzschwache Länder damit überfordert seien, stellten sich „die üblichen Welterbe-Verdächtigen“ schnell auf neue Kategorien ein.
Dennoch soll das Übergewicht reicher Länder korrigiert werden. Und zwar durch die Tätigkeit des Welterbe-Komitees, in dem auf vier Jahre gewählte Delegierte aus 21 Staaten sitzen. Sie allein entscheiden, was zum Welterbe ernannt wird, denn Internationaler Denkmalrat (ICOMOS) und Internationale Naturschutzunion (IUCN), die die Vorschläge auf ihre Tauglichkeit prüfen, geben letzlich nur Empfehlungen ab.
Welterbe-Sitzungen sind längst zum Großereignis geworden. Sogar Minister und Staatschefs reisen an, wenn es um die Vergabe des Titels geht. Auch das Komitee ist mit Leuten aus der Politik besetzt. Wo früher Natur- und Denkmalschützer beratschlagten, dominieren heute Karrierediplomaten. Brumann: „Die dienen vor allem nationalen Eigeninteressen. So kommt es zunehmend zu Spannungen mit dem universalen Welterbe-Ideal.“
Brumann war 2010 bei der Sitzung in Brasilia zu Gast. Dort beobachtete er, wie wirtschaftlich starke Länder mit regionalem Führungsanspruch „unverblümt“ für ihre Interessen eintraten – oder die ihrer Nachbarn. Brasilien etwa half Ecuador, die Galapagos-Inseln von der Roten Liste zu bekommen, Russland unterstützte Serbien. Die Delegierten tauschten ganz offen Gefälligkeiten aus, so Brumann. Die Folge: Elf Kandidaten bekamen den Welterbetitel zugesprochen, obwohl sie bei den ICOMOS- und IUCN-Fachleuten durchgefallen waren.
In Brasilia brach ein „nicht erklärter Konflikt“ auf, meint Brumann. Auf der einen Seite: Westeuropa und Nordamerika, die so reich mit Titeln Bedachten. Auf der anderen Seite: der Rest der Weltgemeinschaft, der sich mehr oder weniger zu kurz gekommen fühlt. Gerade bei den aufstrebenden Staaten hat sich beträchtlicher Groll angestaut, so Brumann. Sie verlangen einen angemessenen Anteil am Welterbe.
China ist ein besonderer Akteur auf der zunehmend politisierten Welterbe-Bühne. Zwar verzeichnet es schon 45 Einträge, aber der Hunger ist nicht gestillt. Denn der inländische Tourismus orientiert sich stark an dem Titel. Und: China will Nummer eins sein. Noch hat Italien mehr Stätten auf der Liste.
Bei allem kulturellen Ehrgeiz – wirtschaftliche Interessen gehen stets vor. Etwa wenn der Schutzstatus einer Stätte im Weg steht. China ließ 2010 einen Teil der Drei Parallelflüsse Yunnans aus dem Welterbe herausnehmen – genau dort soll künftig Bergbau betrieben werden. Das Manöver fand Nachahmer. Tansania gelang es 2012 auf der Sitzung in St. Petersburg, ein Stück aus dem Selous Game Reserve herauszuschneiden. Jetzt kann die Regierung dort Uran abbauen lassen. Der Profit werde dem Schutz des restlichen Parks zugute kommen, argumentiert sie. Dieser Rest ist immer noch so groß wie Belgien.
Welterbe-verträglicher Bergbau in China und Tansania
Die Politisierung des Welterbes hält seit Brasilia an. Staaten erfüllen sich ihre Wünsche. Dass Delegierte die Empfehlungen von ICOMOS und IUCN ignorieren, sei schon normal geworden, klagt Brumann. Auch die Neubesetzung des Komitees nütze nichts. Neu dazugekommene Mitglieder wie Deutschland oder Japan wollten auch nur ihre eigenen Kandidaten durchbringen. Wenige Länder, wie Schweden und die Schweiz, hätten in der Vergangenheit gegen die Vergabepraxis protestiert. Aber sie seien mittlerweile nicht mehr im Komitee vertreten.
Ein Welterbe-Titel verleiht Glanz, lockt zusätzliche Touristen an, spült Geld in die Kassen. Allerdings muss eine Stätte auch geschützt werden, dazu verpflichten sich die Staaten. Mit der Auszeichnung geht ein „ideeller Souveränitätsverlust“ einher, erklärt Michael Kloos vom Institut für Städtebau und Landesplanung in Aachen. Denn ein Ort werde, sobald er Welterbe ist, zum Eigentum der Weltgemeinschaft. Entscheidungen auf lokaler oder nationaler Ebene seien von da an mit der Unesco abzustimmen.
Ein Einzeldenkmal, etwa ein Rathaus, ist noch relativ leicht zu erhalten. Allerdings stehen auf der Welterbe-Liste auch großflächige Stadtlandschaften. Und da wird es dann kompliziert, erklärt Kloos. Denn urbane Räume verändern sich kontinuierlich. Die unvorhersehbare Entwicklungsdynamik kann den Erhalt einer Stätte gefährden.
Istanbul etwa, seit 1985 auf der Liste, steht unter riesigem Veränderungsdruck. Im Jahr der Einschreibung lag die Einwohnerzahl noch bei 5 Millionen, heute leben geschätzte 13 oder 14 Millionen in der Megacity. In zehn Jahren wird die Einwohnerzahl voraussichtlich 23 Millionen betragen, vermutet Kloos: „Daraus ergeben sich enorme Verkehrsprobleme.“
Metrobrücke an der Hagia Sophia
Um den Kollaps zu vermeiden, hat die Stadt eine neue Metrobrücke gebaut, eines von mehreren Großprojekten. Die Brücke überspannt das Goldene Horn, die Bucht, die Istanbuls europäische Seite in zwei Hälften teilt. Die Bahnstrecke soll pro Tag etwa 700.000 Fahrgäste aufnehmen ? die dringend benötigte Alternative zum Autoverkehr, der Istanbul zu ersticken droht.
Eigentlich muss die Unesco über große Bauvorhaben informiert werden. Sie erfuhr aber erst spät von der Metrobrücke. Da hatten die lokalen Planungs- und Denkmalschutzbehörden den Bau schon längst abgesegnet. Die Ausmaße des Bauwerks zeugten nicht von Bescheidenheit: 82 Meter sollten die Brückenpfeiler aufragen. Die Unesco befürchtete nachteilige Einflüsse auf das Bild der historischen Halbinsel. Dort versammelt sich Welterbe-Architektur: unter anderem die Hagia Sophia, die Blaue Moschee und die Süleymaniye-Moschee, die in unmittelbarer Nähe der Brücke gelegen ist.
Die Verantwortlichen in Istanbul erkannten, dass sie etwas unternehmen mussten. Sie meldeten sich beim „Unesco Chair“ in Aachen. Der berät großflächiges Welterbe, das unter Veränderungsdruck steht. 2010 reiste Kloos nach Istanbul, um eine Lösung zu finden. Als er ankam, waren die 110 Meter tiefen Brückenfundamente schon gelegt und die Metrotunnelröhren, an die die Brücke anschließen sollte, bereits teilweise in Betrieb. Stoppen konnte den Bau keiner mehr, nur noch korrigieren, so Kloos.
Ein internationales Team aus Unesco- und Tragwerksexperten überarbeitete die Brücke ? gemeinsam mit der türkischen Seite. Am Ende kam ein Kompromiss heraus: Die Pfeiler ragen nur noch 55-Meter auf, die Überdachung der Metrostation ist um die Hälfte verkürzt. Und Farbgebung und Beleuchtung fallen zurückhaltender aus als ursprünglich geplant.
Die Brücke ist inzwischen eröffnet, Istanbul hat die offene Konfrontation mit der Unesco vermieden. Der Stadt fehle es nicht am Willen, ihr Welterbe zu schützen, sagt Kloos. Vielmehr laufe sie ständig dem Tempo der eigenen Entwicklung hinterher. Er ist sich sicher: Istanbul wird nicht die letzte Megacity sein, deren Wachstum mit dem Welterbe-Status kollidiert.
Kongo und Köln auf der Roten Liste
Auch ein Hochhaus kann mit diesem unvereinbar sein – Wien hat damit seine Erfahrungen. Schon 2005 sah die Unesco die Sichtbeziehungen im historischen Stadtbild durch ein Bauprojekt gefährdet. Nun soll auf dem einem Investor gehörenden Heumarkt-Areal ein 73 Meter hoher Wohnturm entstehen. Er stünde mitten in der Sichtachse zwischen Belvedere und Innenstadt, so Kloos. Ein Beschluss der Unesco liegt noch nicht vor, aber nach Ansicht von ICOMOS darf der Turm das schon bestehende Hotel Intercontinental nicht überragen. Dieses ist 45 Meter hoch.
Andere Welterbe-Städte wachsen ebenso himmelwärts. In London plant man derzeit 240 Hochhäuser – die Stadt könnte Ärger mit der Unesco bekommen. Köln hat die Auseinandersetzung schon hinter sich. Der Dom stand wegen geplanter Hochhäuser vorübergehend sogar auf der Roten Liste. Diese Liste macht auf Welterbe aufmerksam, das in seinem Bestand bedroht ist, und setzt öffentliche Diskussionen in Gang. Momentan stehen 44 Stätten darauf, die Nationalparks im unruhigen Kongo als Dauergäste. 2013 kamen alle sechs syrischen Stätten dazu. Kloos: „Die Welterbekonvention kann nicht verhindern, dass Fassbomben auf Aleppo fallen. Gegen die kriegerische Wirklichkeit ist sie machtlos.“
Auch der Klimawandel bedroht namhafte Stätten des Welterbes. Im australischen Großen Barriereriff zerstört der Anstieg der Wassertemperatur die Korallenriffe, Venedig droht unterzugehen, über die Lehmmoscheen Timbuktus legt sich der Wüstensand, in der Schweiz schmilzt unaufhaltsam der Aletschgletscher. Die Unesco versucht im Rahmen ihrer Möglichkeiten gegenzusteuern. Sie lässt den Zustand der Welterbe-Wälder untersuchen – danach werden Schutzstrategien entworfen. Auf der Unesco-Liste stehen unter anderem der Zentral-Amazonas und die Regenwälder Sumatras. Sie binden gigantische Mengen an Kohlendioxid. Ob der begrenzte Schutz, den der Welterbetitel bietet, helfen kann, diese großen CO2-Speicher zu erhalten?