SUIZID: Wie weit geht die Freiheit?

Die Gesundheitsministerin stellt den nationalen Suizid-Präventions-Plan vor und Mediziner wie Abgeordnete diskutieren über Ursachen und Strategien. Eine konstruktive Debatte?

Foto: Robin Reer / fotocommunity.de

1.600 Selbstmordversuche und 80 Suizide jährlich – das ist die Realität in Luxemburg. Jeden 4. Tag nimmt sich in Luxemburg ein Mensch das Leben und rund ein Viertel der Menschen, die einen Selbstmord begehen, sind über 64 Jahre alt. Verunsicherung, Perspektivlosigkeit, Angst, ins Büro zu gehen, das Abrutschen in die Arbeitslosigkeit, Ruhestand oder Angst vor Mobbing durch Mitschüler oder Kollegen und ein stetig wachsender Leistungsdruck treibt Menschen in Westeuropa in den Selbstmord.

Hinsichtlich der Zahlen liegt Luxemburg zwar im europäischen Mittelfeld, doch das Phänomen bleibt – „eine menschliche Tragödie“, wie sich die Abgeordneten anlässlich einer Debatte in der Chamber am vergangenen Dienstag einig waren. Im Vorfeld der Vorstellung des nationalen Suizid-Präventions-Plans und einer Fachtagung unter Medizinern gaben die Abgeordneten ihre Meinung zum Thema ab – eine nach Ansicht der Gesundheitsministerin Mutsch „sehr konstruktive Debatte“, die in die nationale Strategie einfließen soll, an der insgesamt sechs Ministerien in einer Laufzeit von 2015-2019 mitwirken. Sie zeigte sich in der Debatte gewillt, „das Problem“ an der Wurzel zu packen.

Bei rund 90 Prozent der Selbstmörder wird eine psychische Erkrankung als Ursache ausgemacht.

Die Vielzahl der genannten Gründe für Suizide zeigt allerdings, dass es nicht so einfach ist, hier eine „Wurzel“ auszumachen. Zudem bleibt letztlich doch immer ein gewisses Nichtbegreifen, warum Menschen ihrem Leben ein Ende setzen. So war die Debatte in der Chamber eher von Klagen über den Status Quo und Fragen bestimmt. „Wie verzweifelt muss ein Mensch sein, um sich das Leben zu nehmen?“, fragte etwa André Bauler und erntete nur stummes Kopfnicken.

In der Betroffenheitsdebatte sorgte allein Fernand Kartheisers provokativer Beitrag für Wirbel. Gerade bei der Suizidprävention stelle sich die Frage der Politikkohärenz, so Kartheiser, der salopp meinte, dass man den Freiheitsbegriff nicht überstrapazieren dürfe. Seine Empfehlung: Um gesunde Kinder heranwachsen zu lassen, muss man sie in den Schoß der klassischen Familie einbetten! Denn nur die Familie sei der sichere Garant für stabile Menschen. „Sind Eltern, die arbeiten gehen also Schuld am Selbstmord ihrer Kinder?“ empörte sich die DP-Deputierte Anne Brasseur postwendend. Neben der Familie als Hort des glücklichen Lebens empfahl Kartheiser eine Rund-um-die-Uhr-Überwachung von Suizidgefährdeten in Strafanstalten.

Bei rund 90 Prozent der Selbstmörder wird eine psychische Erkrankung als Ursache ausgemacht. Indirekt ist dies zumindest ein Hinweis darauf, dass das Angebot an psychotherapeutischen Beratungsstellen doch zu gering ist. Die Statistiken über Suizid sagen zudem, dass Männer sich häufiger umbringen als Frauen. Die Theorie dazu: Frauen haben eine bessere Disposition, ihren Zustand zu erkennen, und meist ein besseres soziales Netz.

„Suizidprävention ist eine Angelegenheit von allen!“, lautete der Konsens auf der Fachtagung und zugleich der Titel eines Rundtischgesprächs. Fränz D’Onghia, Direktionsbeauftragter am „Centre d’information et de prévention“ und Koordinator der nationalen Strategie, brachte gemäß des vorherrschenden Zeitgeistes ein Kosten-Nutzen-Argument ins Spiel. „Investiere man in Prävention, so spare man Kosten!“

„Suizid gibt es, jetzt sieht man Suizid als vermeidbares Phänomen“, doch jeder müsse Verantwortung übernehmen, meinte Jean-Louis Terra, Professor für Psychiatrie in Lyon. Sein Luxemburger Kollege Dr. Paul Hedo, tätig in der Psychiatrie des Luxemburger Centre Hospitalier (CHL) hob hervor, dass man zumindest im Bewusstseinsprozess ein Stück weitergekommen sei. Heute spreche man immerhin über Suizid und mögliche Ursachen. „In unserer Gesellschaft sind psychische Krankheiten mit einem Stigma verbunden“, erst durch die sukzessive Enttabuisierung des Themas interessiere sich auch die Politik dafür, stellte Hedo klar. Da Suizidgefährdete häufig nicht (mehr) in der Lage seien, die Gefahr selbst einzuschätzen, sei es wichtig, dass andere ihre Situation erkennen und ihnen zuhören würden. Gerade Jugendliche hätten ein Kommunikationsproblem.

In ihrer Welt, in der ein „Like“ mehr zählt, als jede intellektuelle Bestätigung, hätten gerade junge Menschen Angst davor, bewertet zu werden.

In einer Welt der Bilder, in der ein Facebook-Eintrag und ein Foto als Spiegelbild der Persönlichkeit herhalten, stießen Kinder meist auf taube Ohren oder seien es gewöhnt, Probleme herunterzuspielen. In ihrer Welt, in der ein „Like“ mehr zählt, als jede intellektuelle Bestätigung, hätten gerade junge Menschen Angst davor, bewertet zu werden. Eine stärkere Individualisierung hieße, dass vor allem die Schwächsten an ihrer Performance arbeiten müssten, um beliebt zu sein. Immer häufiger kämen junge Menschen zu ihm, die diesen Schein bewusst zerstören wollten, so Terra. Die neuen Medien wollte der Großteil der Experten dennoch mehr als Chance zur Suizidprävention denn als Gefahr sehen. „Wir leben in einer Gesellschaft der Leistungsschau, in der man erfolgreich sein muss“, stellte Hedo fest.

Ist Leistungsorientierung der Kern des Problems, wenn man denn Selbstmord als Problem betrachten will? Welche Erwartungen stellt die Gesellschaft an uns? Wird der Wert eines Menschen an seiner Produktivität bemessen?

Gerade ältere Menschen fallen im Ruhestand häufig in ein Loch und leiden unter Depressionen. Ist ihre Isolation im Alter ein Erklärungsmodell für die relativ hohe Rate an Selbstmorden bei Menschen über 64? Und inwiefern spielen andere Faktoren wie ein Migrationshintergrund und die sozialen Verhältnisse eine Rolle? Einen Suizid begehen hierzulande eher Luxemburger als Ausländer, stellte D’Onghia klar. Das Armutsrisiko stellt hingegen ganz klar eine Gefahr dar. Noch mangele es in Luxemburg jedoch zur Erforschung des Phänomens an „objektiven Tatsachen“, so Hedo. Es gebe nicht genug Material über den Verlauf von Behandlungen von suizidären Menschen, also auch zu wenig Erkenntnisse darüber, wie gut das Luxemburger System funktioniert.

Dass das Phänomen des Suizids nicht zu trennen ist vom System, indem „der Mensch immer mehr wirtschaftlich rentabel sein muss“, gab allein Justin Turpel anlässlich der Chamber-Debatte zu bedenken. Erstaunlich erscheint aber vor allem der allgemeine Konsens über ein Phänomen, für das die Gesellschaft verzweifelt nach Erklärungen sucht – ohne sich selbst zu hinterfragen.

Zudem lauert in dieser immer auch moralisch geführten Debatte – meist unter Ausschluss von Betroffenen – eine viel schwierigere Frage. Wenn Sterbehilfe bei Kranken und oder älteren Menschen als Errungenschaft für die freie Entscheidung des Einzelnen gefeiert wird, wie sind Kriterien zu begründen, um Menschen den Freitod zumindest zu erschweren, wenn nicht, sie daran zu hindern?


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