UTOPAIA S.A.: Das langsame Sterben

Die Zeit der luxemburgischen Traditionskinos
gehört längst der Vergangenheit an. Utopia S.A. beherrscht die Szene.

Nur noch der Name erinnert an alte Zeiten: Das ehemalige „Victory“ im Luxemburger Bahnhofsviertel ist längst eine Ruine.

Ein Kinobesitzer hat sich das Leben genommen – und auf der Leinwand läuft „Red River“ von Howard Hawks. „Royal“ heißt das Kino, ein prahlerischer Name in einer Kleinstadt wie dem texanischen Anarene.

„Die letzte Vorstellung“ heißt der Film und er wird oft zitiert, wenn es um das Kinosterben geht. Das schon
seit mehr als 30 Jahren, denn Peter Bogdanovichs Film stammt aus dem Jahr 1971. Das tatsächliche Sterben dauert aber noch länger. Gemeint ist das des klassischen Kinos in den Innenstädten. Selbst Tim Roths Filmtod in Quentin
Tarantinos „Reservoir Dogs“ kann da nicht mithalten. Und der soll angeblich der längste Tod in der Filmgeschichte sein.

Zur ersten Welle von Kinoschließungen in Europa kam es in den 1960er Jahren. Die Konkurrenz des Fernsehens hatte vielen Lichtspielhäusern den Garaus gemacht. Doch wie auf jede Bedrohung von außen reagierte die Filmwelt, indem sie sich an die neuen Gegebenheiten anpasste. Statt Kinos mit gigantischen Sälen, entstanden die so genannten Schachtelkinos sowie die alternativen Programmkinos. Cineasten fanden, außer den Cinematheken, eine neue Heimat.

In Luxemburg verzögerte sich das Ende der alten Traditionskinos bis in die 1980er Jahre: „Marivaux“, „El dorado“ und „Victory“, so ihre klangvollen Namen. Allesamt waren sie angesiedelt im Bahnhofsviertel der Hauptstadt. „Die Besitzer waren alt und müde geworden. Es war eine Generation, die nicht mehr weitermachen wollte“, sagt Joy Hoffmann vom Centre National de l’Audiovisuel (CNA). Heute erinnern nur noch alte Leuchtreklamen an die Kinotempel von einst.

Neben den staatlich und kommunal finanzierten Provinzkinos und den Caramba-Kinos in Esch und Rumelange überlebte bislang auch das Escher Ariston. Zuletzt gehörte es zur internationalen Kinogruppe Utopia S.A. Nun gibt die in Luxemburg ansässige und in Belgien, Frankreich sowie den Niederlanden umtriebige Firma das Kino auf. Nach der Schließung des Ciné Cités in der Luxemburger Innenstadt ein weiterer Kinotod? Mitnichten, folgt man den Worten von Nico Simon: Zwar seien im Allgemeinen die kleinen Kinos mit einem Saal einfach nicht mehr überlebensfähig und im Besonderen das Ariston stark defizitär gewesen, meint der Utopia-Geschäftsführer. Das Haus soll jedoch unter der Obhut des Centre de diffusion et d’animation cinématographiques (CDAC) und der Stadt Esch mit öffentlicher Hilfe weitergeführt werden.

Die Geschichte der Utopia S.A. ist hingegen eine Erfolgsgeschichte. Aus dem kleinen, aber anspruchsvollen Kino gleichen Namens wurde ein internationales Unternehmen mit 15 Kinos in 14 Städten. „In Luxemburg ist man schnell ein Riese“, meint Nico Simon mit viel Understatement. „Utopolis – movies, moments & more“ spricht da schon andere Bände. So nämlich heißt die Corporate Identity, die sich die Utopia-Gruppe selbst gegeben hat. Sie setzt nicht nur auf die Traumproduktion per Leinwand, sondern auf Entertainment total. Das Multiplex-Kino auf dem Kirchberg ist zum eigentlichen Markenzeichen der Utopia S.A. geworden: Neben Mainstream-Kinounterhaltung gibt es Restaurants, Bars, Läden und noch viel mehr, denn die Räumlichkeiten sollen nicht nur für Veranstaltungen an Unternehmen vermietet werden, sondern auch für Fußball-Übertragungen und ähnliche Events herhalten. „Business to business“ eben, wie es Nico Simon nennt. Der Mehrfachnutzen wird somit voll ausgeschöpft. Wie ein zartes Pflänzchen wird daneben das alte Utopia-Kino auf Limpertsberg gehegt: Anspruchsvolle Filme sollen dort weiterhin ein intellektuelles Publikum anziehen.

Wie weit die Expansionsgelüste der Utopia-Gruppe noch gedeihen, ist zurzeit schwer zu beantworten. Ein
Kino-Projekt in Belval-Ouest wurde vorerst auf Eis gelegt. Denn es herrscht Flaute in den Kinosälen: In Europa wie auch in den USA gingen die Zahlen der Kinobesucher im vergangenen Jahr zurück. Mit 149 Millionen Zuschauern kamen zum Beispiel in Deutschland neun Prozent weniger Besucher ins Kino als 2002, der Umsatz sank um 110 Millionen auf 850 Millionen Euro. Auch Frankreich, Großbritannien, Italien und Spanien verzeichneten nach Angaben der deutschen Filmförderungsanstalt (FFA) in Berlin Rückgänge an den Kinokassen. Und in den USA wurde nach elf Zuwachs-Jahren in Folge erstmals ein Minus an den Kinokassen geschrieben.

Schon wurde von einer Krise gesprochen: Fachleute begründen den Besucherrückgang vor allem mit der schlechteren Wirtschaftslage, mit der Film-Piraterie und der zunehmenden DVD-Konkurrenz. Die Filmzeitschrift ¬Cinema« berichtete sogar: ¬2003 wird als das Jahr der Wende in die Geschichte eingehen.“ Denn die Einzelhändler erzielten mit DVDs mehr Umsatz als die Filmtheater mit Kinokarten. Allein in den USA wurden mit auf Silberscheiben gebrannten Filmen etwa 12 Milliarden Dollar umgesetzt, in den Kinos hingegen nur 9,2 Milliarden.

Kein Grund zur Panik, entwarnt Joy Hoffmann vom Centre National de l’Audiovisuel und relativiert das Krisengerede. Schließlich sei das Jahr 2002 ein absolutes Rekordjahr gewesen, da verwundere es nicht, dass das darauf folgende nicht so erfolgreich war. Außerdem hätte eine ganze Reihe von Blockbuster-Filmen 2003 versagt. Viel Besserung erwartet Hoffmann aber für das aktuelle Jahr nicht.

Am meisten hätte das Limpertsberger Utopia unter dem schwachen Jahr gelitten, sagt der Filmexperte. „Das liegt aber zumeist wieder am Filmangebot“, so Hoffmann. „Im Jahr 2002 sorgten ‚Der Pianist‘ und ‚L’auberge espagnole‘ für einen großen Besucherandrang, im vergangenen Jahr war kein Publikumsmagnet unter den anspruchsvolleren Filmen.“ Anders sieht es wiederum in diesem Jahr aus: „Lost in Translation“ und „Girl with a Pearl Earring“ hätten die Zahlen bereits um 40 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum hochschnellen lassen.

Zur Auswirkung der DVDs auf den hiesigen Kinobesuch sei es fast „unmöglich, etwas zu sagen“, meint Hoffmann. In Luxemburg herrsche dies bezüglich die „absolute Anarchie“. Da es keine Gesetzgebung gebe, setze man auf Autoregulation.

Joy Hoffmann widerspricht deutlich der These, dass das Utopolis eine Art Totengräber der alten Traditionskinos war. „Die waren schon vorher tot“, konstatiert er. Derweil betont Nico Simon: „Seit das Utopolis 1996 auf dem Kirchberg eröffnet wurde, stieg die Zahl der Kinobesucher in Luxemburg von 600.000 auf mehr als das Doppelte.“ Damit nehme das Land einen europaweiten Spitzenplatz ein, was die Zahl der Kinobesucher im Verhältnis zur Bevölkerungszahl angeht. Auch sei es nicht richtig, dass das Utopolis den kleinen, kommunalen Kinos die Zuschauer wegnimmt, sagt Hoffmann. Wenn es den großen Kinos gut gehe, gehe es auch den kleinen gut.

So liegt zum Beispiel der Kursaal in Rumelange nach den Worten seines Betreibers Raymond Massard „im permanenten Aufwärtstrend“. Von der Utopia-Gruppe sieht sich Massard nicht bedroht, der zudem noch für die Programmgestaltung des Escher Kinosch und des Cinémaacher in Grevenmacher verantwortlich ist. Was er vielmehr als Gefahr ansieht, „ist die Vermischung von privaten kommerziellen und öffentlichen Interessen“. Massard, der den Kursaal, das älteste Kino Luxemburgs, nun in der vierten Generation seiner Familie betreibt und als 13-Jähriger als Filmvorführer begann, denkt nicht ans Aufgeben. Also kein weiterer Kinotod in Luxemburg.


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