Die Einstürzenden Neubauten sind ruhiger geworden.
Statt Lärmattacken liefert die Berliner Band Soundexperimente am Rande der Hörbarkeit – kommende Woche auch in Luxemburg.
Wie ein gerupfter Vogel sah Blixa Bargeld aus. Die Haare standen ihm zu Berge. Seine Pupillen waren riesig und die Ringe unter den Augen dunkel. Dünn und ungesund blass wirkte der Sänger der Einstürzenden Neubauten, als ich die Band das erste Mal live erlebte, in der Münchner Theaterfabrik Mitte der 80er Jahre.
Bei seinen Auftritten trug Bargeld regelmäßig ein schwarzes Hemd und enge Lederhosen mit einem Gurt, der aussah wie eine Art Keuschheitsgürtel. „Ich bin die umstürzlerische Liebe, der Gegensex“, flüsterte er mit gequälter Stimme ins Mikrofon. „Jeder Tag kostet mich Wunden, dabei bin ich schon jetzt zerschunden und völlig blutverschmiert.“ Dann forderte er lachend: „Alle Idole müssen sterben.“ Manchmal schrie er mit gellender Stimme „Fütter mein Ego“, ratterte im Stakkato „Es tanzt das ZNS“ herunter, oder er sang markdurchdringend „Der Tod ist ein Dandy“. Neben ihm bearbeiteten die anderen Bandmitglieder allerlei absonderliche Instrumente: Bohrmaschinen, Ketten, Stangen, Fässer und Stahlfedern gehörten zu den Klangutensilien der Neubauten, mit denen sie einen Höllenlärm fabrizierten. Die Fans tobten.
Das war vor Jahren. Die Band galt als die angesagteste der deutschen Avantgarde, mit internationaler Reichweite bis nach Japan, entstanden aus der urbanen Subkultur Westberlins im Dunstkreis der damaligen Punkszene. In Berlin hatte die Band im Club Moon am 1. April 1980 ihr erstes Konzert gegeben. Die Einstürzenden Neubauten machten ihrem Namen alle Ehre: Das musikalische Abrissunternehmen spielte unter einer Autobahnbrücke und in Kellerlöchern, bis zum „Kollaps“, wie sie ihre erste LP nannten. Ihre Konzerte arteten zu Happenings aus, bei denen die Bühne in der Regel zu Bruch ging. Denn Neues kann nur entstehen, wenn Altes zerstört wird, lautete die Devise der Gruppe.
Die Band – neben Blixa Bargeld Gitarrist Alex Hacke, Bassist Mark Chung sowie die Brachialperkussionisten N.U. Unruh und F.M. Einheit – prägte nicht nur den so genannten Industrial Sound, sondern beeinflusste auch Bands in Europa und Übersee maßgeblich. Darüber hinaus wurden die Underground-Künstler von der Hochkultur entdeckt. Sie mauserten sich zu den Lieblingen der Feuilletons und zum Exportschlager des Goethe-Instituts. Am Theater arbeiteten sie mit Heiner Müller zusammen und lieferten den Sound für Peter Zadeks Musical „Andi“. In dem früh verstorbenen österreichischen Dramatiker Werner Schwab fanden sie einen Geistesverwandten. Mit der Musik zu dessen „Faust: Mein Brustkorb. Mein Helm“ landeten sie in Berlin einen Erfolg.
Derweil rezitierte der „poète maudit“ Blixa Bargeld Gedichte und schrieb selbst welche. Nebenbei spielte er bei den Bad Seeds seines Freundes Nick Cave. In den 90ern
kochte er zusammen mit Alfred Biolek, wenn er nicht
gerade zu Gast bei einer kulturellen Fernseh-Talkrunde war. Doch wer glaubte, die Neubauten würden irgendwann einmal zu Mumien der Museumskultur erstarren und dem Zahn der Zeit zum Opfer fallen, sah sich getäuscht. Für die Hochkultur waren sie zu subversiv. Dem Würgegriff des Kultstatus entzogen sie sich durch stetige Wandlung. Allmählich wich die Spontaneität der frühen Tage einer immer konzeptionelleren Arbeitsweise. An die Stelle brachialen Ungestüms trat intellektuelle Reflexion. Aus den schockartigen Lärmattacken wurden teils melodische – und nicht selten melancholische – Lieder. In gefährliche Nähe zum Mainstream kamen sie allerdings nie. Dafür war ihr Anliegen zu sperrig.
Nach dem Band-Klassiker „Halber Mensch“ (1985) schlugen sie mit der LP „Fünf auf der nach oben offenen Richterskala“ (1987) ruhigere Töne an. Mit dem 1989 entstandenen Album „Haus der Lüge“ schufen die Neubauten verstärkt meditative Soundcollagen. Weitere Schritte in diese Richtung waren „Ende neu“ (1996) und „Silence is sexy“ (2000).
„Wir waren in erster Linie eine West-Berliner Band“, bekannte Gitarrist Alex Hacke in einem Interview. West-Berlin als Stadt gibt es nicht mehr, die Neubauten schon. Mark Chung und „Mufti“ Einheit hatten die Gruppe zwar mittlerweile verlassen. Doch die Neubauten haben überlebt und den Sprung ins 21. Jahrhundert geschafft. Ihre Klangexperimente sind noch subtiler geworden. In „Silence is sexy“ huldigen sie der Stille. Man hört das Geräusch einer verglühenden Zigarette. Blixa Bargeld schwelgt über die „Befindlichkeit des Landes“, indem er den Untergrund des alten Berlins beschwört. Eine politische Aussage darin zu sehen, wäre vielleicht zu viel des Guten. Die Neubauten verstanden sich nur dann politisch, wenn es zu ihrem dadaistischen Radikalismus oder musikalischen Destruktivismus passte. Die eigene Inszenierung hatte Priorität – und Meister der Selbststilisierung waren Blixa Bargeld und Co. schon immer.
Das neue Album „Perpetuum mobile“, mit dem die Band nun auf Welttournee ist und jetzt auch nach Luxemburg kommt, macht das Überlebensprinzip der Band zum Thema: Alles ist in Bewegung. Stillstand hat es bei den Neubauten nie gegeben. Blixa Bargeld singt im Titelstück bezeichnenderweise: „Ich bin unterwegs, in einer Melange aus Jetlag und Alkohol, in einem Bus mit hundert Sachen. Von A nach B der Liebe wegen.“ In dem Stück „Ein leichtes, leises Säuseln“ sind Geräusche getrockneten Laubs und das Zischen eines Bunsenbrenners zu hören. Zentrale Elemente sind Naturgewalten wie Wind und Regen, die Blixa Bargeld in „Ein seltener Vogel“ besingt: „Jetzt fängt es an zu regnen und hört überhaupt nicht mehr auf. Nach dem Regen sind nicht mehr alle dabei.“
An der Entstehung des Albums ließen die Einstürzenden Neubauten ihre Fangemeinde teilhaben – ohne vertragliche Verpflichtung mit einem Label. Der ganze Prozess wurde im Studio per Webcam aufgezeichnet. Für 35 Dollar konnten sich die Fans über das Internet ins Geschehen einklinken. Am Ende enthält „Perpetuum mobile“ jetzt doch andere als die interaktiv erarbeiteten Songs, und ein Vertrag mit der Plattenfirma Mute wurde auch unterzeichnet. Der Logistik wegen, erklärte Blixa Bargeld.
Der Sänger selbst ist kein gerupftes Tier mehr, kein „letztes Biest am Himmel“ wie in „Halber Mensch“. Er ist fülliger geworden, trägt einen Dreiteiler und posiert seit Jahren mit Hüten im Stile eines Dichters. Ein Dandy ist Blixa Bargeld geblieben. Tot ist er noch lange nicht. Auch wenn er leiser geworden ist. Bis an die Grenze der Hörbarkeit. Was stört es ihn? Schließlich heißt es in einem der Lieder auf der neuen CD: „Ich gehe jetzt, nach mir die Flut, nach mir Tornados, nach mir Tsunamis & Säuberungen, nach mir die Härte, die Glut.“ Nach mir die Sintflut.