Eine private Erkundung (Teil 1)
: Reden und Schweigen zum Zweiten Weltkrieg


Wie gehen ZeitzeugInnen und Nachfolge-Generationen mit der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg um? Wie wird in einer Familie die Frage der wirtschaftlichen Kollaboration behandelt? Mit Hilfe von aufgezeichneten Interviews entstand zu diesen Fragen ein persönliches Forschungsprojekt.

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Das Monument „Gëlle Fra“ in Luxemburg-Stadt, errichtet 1923 zu Ehren der Luxemburger Freiwilligen, die während des Ersten Weltkriegs auf Seiten Frankreichs und Belgiens gefallen waren. (AVL, Fonds AC5, N.c. 1743, Construction du Monument du Souvenir « Gëlle Fra »)

„Reden und Schweigen einer Generation“ – so heißt der Titel einer Veröffentlichung von 2006, die sich mit der Auseinandersetzung um Krieg und Nationalsozialismus in Deutschland befasst. Das Buch fügte sich ein in eine publizistische Auseinandersetzung um den Umgang der Kriegsgeneration mit ihrer eigenen Vergangenheit. „Reden und Schweigen“, zwischen diesen Polen bewegt sich nicht nur die spezifisch deutsche, häufig Täter-orientierte Auseinandersetzung mit der Familienerinnerung, vielmehr lassen sich in ganz Europa ähnliche Phänomene in der privaten oder öffentlichen Darstellung der Kriegsvergangenheit feststellen. So werden einerseits Taten der WiderständlerInnen für ihre Kinder und Enkel zum Mythos, andererseits schweigen Täter und ihre Nachkommen zum vergangenen Geschehen, in manchen Familien der Verfolgten bleibt das Tabu des Konzentrationslagers bestehen. Und dazwischen gibt es unzählige Mischformen der Kommunikation über Familiengeschichte.

Nachdem der Zeitzeugenbericht in der Luxemburger Kriegsliteratur anfangs eine eher untergeordnete Rolle spielte (Jules Christophory zählte 1987 in seiner „Radioscopie“ zur Literatur über den Zweiten Weltkrieg nur 14 Veröffentlichungen in der Kategorie der Zeitzeugenberichte), wurden anschließend zunehmend Memoiren zum Kriegsgeschehen publiziert. So kam es ebenfalls in Luxemburg während der vergangenen zwei Jahrzehnte zu zahlreichen Interviews mit ZeitzeugInnen, persönlichen Recherchen, Übergaben von „Ego-Dokumenten“ wie Memoiren, Tagebüchern oder Briefwechseln an Museen und Archive.

Auch die Universität Luxemburg interessierte sich für diese persönlichen Schilderungen.1 Die allermeisten davon schildern den Widerstand in Luxemburg, die Umsiedlung oder das Engagement von Zeitzeugen in den alliierten Armeen. Die Zwangsrekrutierung in das deutsche Heer wurde ebenfalls durchaus thematisiert, wenn auch meist die Verbrechen der Wehrmacht in Osteuropa, an denen sich unter Zwang auch Luxemburger Wehrmachtsoldaten beteiligten, ausgeklammert wurden. Dennoch gibt es weiterhin das große Schweigen zur Kollaboration, zum Mitläufertum und zum Arrangement mit der nationalsozialistischen Besatzungsmacht in Luxemburg.

Subjektivität und Relevanz

Die Aufarbeitung der privaten Familiengeschichte ist eine Form der Geschichtsschreibung, die in Fachkreisen häufig mit etwas Skepsis betrachtet wird. Die Diskussion um den Stellenwert der Erinnerungen von Zeitzeuginnen und –zeugen gegenüber der „wissenschaftlichen“ Aufarbeitung von Geschichte dauert seit Jahrzehnten an. Verknüpft mit der Frage der „Seriosität“ der mündlichen Quellen ist auch die Problematik, dass die öffentliche Darstellung privater Erinnerung meist als „belastet“ betrachtet wird: Allzu oft erscheinen die betreffenden Darstellungen als nachträgliche Glorifizierungs- oder aber Rechtfertigungsversuche bestimmter Handlungen, allzu oft werden sie als objektiv fehlerhaft oder reißerisch empfunden – Argumente, die man aber durchaus auch gegenüber vielen wissenschaftlichen Werken anbringen kann. Die Vorstellung, die 
klassische Geschichtsforschung finde in einem wertungsfreien Raum statt, wird heute immer mehr in Frage gestellt.

Daneben ist jedoch die Frage berechtigt, inwieweit private Familiengeschichte und Familienerinnerung in den öffentlichen Raum gehört. Bei der Forschung zur eigenen Familiengeschichte kommt für die Forschenden oft die Sorge auf, eine gewisse Forschungsfreiheit zu verlieren, weil ihre wissenschaftlichen Erkenntnisse nun immer mit dem persönlichen Familienhintergrund in Verbindung gebracht werden.

Dennoch haben diese Übungen persönlicher Geschichtsschreibung die traditionelle Darstellung verändert. Erinnerungen und Ego-Dokumente haben einen wichtigen Beitrag geleistet, die menschliche Dimension des Kriegsalltags zu erfassen. Die Alltagsgeschichte des Zweiten Weltkriegs wäre weit ärmer ohne diese Dokumente, und spezifische Phänomene wie etwa jenes des überaus hohen Anteils an versteckten Zwangsrekrutierten innerhalb Luxemburgs lassen sich gar nicht ohne solche Erkundungen von persönlichen Motivationen und Haltungen erklären.

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Die hauptstädtische Synagoge, errichtet 1894, Ecke Rue Aldringen und Rue Notre-Dame. Sie wurde während des Zweiten Weltkriegs zerstört. (Quelle: Ansichten jüdischen Lebens zwischen Maas, Mosel und Rhein im Spiegel alter Postkarten (vom Ende des 19. bis Anfang des 20. Jahrhunderts). Dudelange 2005)

Die Frage nach der Relevanz von privater Geschichtsschreibung ist also mit „Ja“ zu beantworten, wenn auch mit einem „Ja, aber“. Denn genauso wie die klassische Luxemburger Geschichtsschreibung lange Zeit die „dunklen Stellen“ der Kriegsgeschichte ignoriert hat, genauso bleiben auch persönliche Familiengeschichten von „Täter“- und „Mitläufer“-Familien äußerst selten. Fast so, als ob die Spaltung der Luxemburger Gesellschaft von 1945 zwischen Tätern, Kollaborateuren und Mitläufern einerseits, ResistenzlerInnen und Opfergruppen andererseits immer noch weiter auf die nachfolgenden Generationen übertragen würde. „Mir woren net all Helden“, meinte Anfang des Jahres Premier-Minister Bettel. Auch diese Formel suggeriert, „wir heute“ seien alle im 2. Weltkrieg dabei gewesen oder „wir damals“ würden in „wir heute“ weiterleben, es gäbe also eine Art Verbindung/Vererbung zwischen den Generationen von damals und von heute geben.

Zwischen dem „master narrative“, d.h. der gesellschaftlich dominierenden Darstellung einer kollektiven, meist nationalen Geschichte, der kritischen wissenschaftlichen Forschung und der persönlichen Familiengeschichte gibt es unterirdische Kanäle, in denen Informationen ausgetauscht und daraufhin Auffassungen und Darstellungen justiert werden. Auch aus wissenschaftlicher Perspektive kann es deshalb interessant und produktiv sein, die eigene Familiengeschichte zu erkunden.

Ein solches Experiment soll nun dargestellt werden. Es dreht sich hier jedoch weniger um die Analyse privater Familienbande (die offensichtlich sind, auf die hier aber nicht eingegangen wird), es geht auch nicht um Rechtfertigung, Verurteilung oder spektakuläre Enthüllung der Denk- und Handlungsweisen von eigenen Vorfahren. Das Experiment ist der Versuch einer Annäherung an diese Denk- und Handlungsweisen, die als „soziales Erbe“ immer noch in der Gegenwart wirken. Der Soziologe Meinrad Ziegler, der diesen Begriff geprägt hat, schreibt: „Soziale Erbschaften realisieren sich in Sozialisationsprozessen, in denen familiär 
akkumulierte Verhaltens- und Einstellungsmuster, Werte und Tabus sowie Ressourcen für lebensgeschichtliche Entwicklungen weitergegeben werden.“

Im Zentrum dieses Experiments stehen drei Personen: das Ehepaar Elise und August und ihr Sohn Fernand. Zeitpunkt des Geschehens: Der Zweite Weltkrieg, das Ende des 20. Jahrhunderts und die Jetztzeit. Ort der Handlungen und Erinnerungen: die Stadt Luxemburg.

Der Anstoß zu dieser Erkundung kam 1998. Damals bat mich mein Vater Fernand, zu diesem Zeitpunkt ein älterer Herr, die Familien-”Papiere” gemeinsam mit ihm durchzusehen. In vier oder fünf Sitzungen, die aufgezeichnet wurden, saßen wir im Winter 1998-99 zusammen und gingen alte Dokumente durch, während er ihre Bewandtnis erklärte. Es ging vor allem um den Handwerksbetrieb, den sein Großvater gegründet hatte, und der nach seinem Tod 1935 von dessen Söhnen übernommen worden war. Einiges von dem, was Fernand mir über den Betrieb während des Zweiten Weltkriegs erzählte, war mir bereits aus Familienanekdoten bekannt. Aber vor allem zwei Punkte hatte er vorher nur bruchstückhaft bzw. gar nicht angesprochen: Die Implikation des Betriebs in den Abriss der „Gëlle Fra“ und in den Abriss der hauptstädtischen Synagoge.

Abriss von „Gëlle Fra“ 
und Synagoge

Der von den nationalsozialistischen Machthabern befohlene Abriss des Monuments der „Gëlle Fra“ zu Beginn des Zweiten Weltkriegs gehört zu den markanten Momenten für die Durchsetzung einer „Neuen Ordnung“ in Luxemburg. Es war der in den Familienpapieren befindliche „Epurations-Schein“, den der Handwerksbetrieb nach dem Krieg erhalten hatte, der das Gespräch auf diese Episode lenkte. In der frühen Nachkriegszeit mussten sich im Rahmen einer vom Staat verordneten „Säuberungsaktion“ alle Wirtschaftsbetriebe einer Kontrolle über ihre Haltung gegenüber dem Okkupanten unterziehen. Fernand erklärte, dass man schon in der NSDAP gewesen sein musste, um diesen Schein nicht zu bekommen. Alle Firmen hätten überdies im nationalsozialistischen Regime für den Staat und die Gemeinden gearbeitet. Allerdings habe sein Vater August „vielleicht tiefer drin gesteckt“: Er habe, als das Monument „Gëlle Fra“ abgerissen wurde, die Seile befestigt. Über diese Seile habe die Firma verfügt, um alljährlich bei der Schobermesse das große Tor aufzurichten. Die Firma Karp-Kneip habe zunächst eine Dampfwalze geschickt, die habe aber nicht gereicht, um das Monument umzulegen. Erst mit zwei Dampfwalzen sei es gelungen, das Monument abzureißen. Bei dieser Aktion seien die Zehen der „Gëlle Fra“ abgebrochen und am Sockel befestigt geblieben, die Arbeiter hätten sie sich später angeeignet.

Es sei nicht das einzige Mal geblieben, dass der Betrieb Aufträge des nationalsozialistischen Besatzers angenommen habe. Man habe auch für die Großkundgebungen in den Limpertsberger Hallen die Bühnen gebaut. Auf meine Frage, was geschehen wäre, wenn eine Firma nicht mitgemacht hätte, antwortete F., dann wäre man umgesiedelt geworden. Und er fügte hinzu: „Wann si et net gemaacht hätten, hätt en aneren et gemaacht. Mir hunn ebe fir d’Gemeng geschafft, mir hunn alles, och déi Saachen … Do konns de net soen, lo maan ech dat net, da wors de hin.“2

Anschließend wies Fernand darauf hin, dass der Betrieb auch am Abriss der hauptstädtischen Synagoge beteiligt gewesen sei. Es kämen ja heute, „diese Judengeschichten wieder auf die Tapete“. Sein Vater habe damals eine Art „Weihrauchgefäß“ aus der Synagoge mitgehen lassen, das immer noch im Keller stehe. Er wisse nicht, was er damit machen solle: „Wann ech vun de Judden iergendwou Sue kéint erausgeh[?]. Net fir mech, net fir mech hn, mä fir e gudden Zweck, domat vun deem räiche Judd, awel dat (laacht), sinn sou Saachen.“

Ich erwiderte zunächst, dass das Objekt wahrscheinlich nicht wertvoll sei, dann schlug ich vor, dass er es „an das Museum“ geben könne. Fernand wiederholte, es sei nicht gut „diese Sachen“ auf die Tagesordnung zu bringen, aber fügte, zu mir gewendet, hinzu: „Et ass ëmmer gutt emol ze wëssen, wéi dat deemols gelaf ass. Bon, d’kënnt jo mol sou Geschichten op d’Tapéit kommen. Ma, dat wor, also, ‘t wor keen an der Partei, ‘t ass ‚rein wirtschaftlich‘ alles ofgelaf.“ In den Augen Fernands schien wirtschaftliche Kollaboration als weniger schlimm zu bewerten zu sein als politische.

Solidarität

In unserem Gespräch stellte ich daraufhin fest, dass niemand in der Familie „groß in der Resistenz“ gewesen sei. Als Antwort verwies Fernand auf seine Mutter Elise, die Kleidungsstücke eines Deserteurs versteckt habe. Sie habe sich viel mit einer Kusine aufgehalten, die im Kontakt gewesen sei mit Leuten, die Deserteure versteckt hätten. Und so sei ein Verwandter, der zwangsrekrutiert worden war, ebenfalls versteckt worden. In dieser Situation habe sie die Uniformteile des Deserteurs versteckt, worüber er, Fernand, damals im Gegensatz zu seinem Vater ins Bild gesetzt worden sei. Seine Mutter habe posthum die „Medaille de la reconnaissance nationale“ erhalten. Fernands Fazit: „Also mir hu Resistenz gemaacht (laacht). Jo, du muss ëmmer op zwou Säiten …“ Er schien, wenn auch in Form eines Scherzes, die Kollaborationsaspekte gegen die der Resistenz aufzuwiegen.

Es gab in diesem Gespräch zahlreiche Lacher sowohl des Interview-
partners als auch von mir als Interviewerin. Ich hielt mich mit Lösungsvorschlägen zurück, reagierte auch nicht auf das Stereotyp des “reichen Juden”.

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Ausschnitt aus der Urkunde zum Erhalt der „Médaille de la reconnaissance nationale“, mit grafischer Darstellung des Abzeichens.

Fernand starb wenige Monate später. Zunächst wusste ich nicht, wie ich mit seinen Informationen umgehen sollte. War es eine rein private Geschichte, oder verdiente sie mehr Öffentlichkeit? Wenn ja, in welcher Form? Im Gespräch mit meinen Geschwistern ergab sich, dass manche Bruchstücke davon schon in den Kriegsgeschichten aufgetaucht waren, die Fernand uns als Kindern hie und da aus seiner Kindheit und Jugend aufgetischt hatte. Vor allem die Anekdote von den Zehen der „Gëlle Fra“ kannten wir bereits von früher. Andere Aspekte wiederum waren uns völlig unbekannt und demnach von Fernand bewusst jahrzehntelang verschwiegen worden.

Fernand hatte also Gründe gesehen, zu schweigen, während er nun Gründe sah, zu reden. Diesen Sinneswandel begründete er nicht mit einer neuen, kritischeren Sicht auf das Vorgehen seines Vaters, sondern mit der Notwendigkeit, dass seine Nachfahren auf alle Eventualitäten, die sich in dieser Hinsicht stellen könnten, vorbereitet seien. Seine Loyalität gegenüber der Familie und dem Familien-
betrieb konnte er auf diese Weise als gewahrt sehen.

Mich intrigierte sowohl dieser Sinneswandel als auch der Inhalt dieser Erinnerungsgeschichten aus dem Krieg, den Fernand als Kind, bzw. Jugendlicher erlebt hatte. Inwieweit stimmte diese Erinnerung mit der öffentlichen Geschichtsschreibung und mit überprüfbaren Originalquellen überein? Dazu mehr in Teil 2 dieser Serie.

Quellen:
Botz, Gerhard: Schweigen und Reden einer Generation: Erinnerungsgespräche mit Opfern, Tätern und Mitläufern des Nationalsozialismus, Wien 2005, Mandelbaumverlag.
Christophory, Jul: Radioscopie de la littérature luxembourgeoise sur la Seconde Guerre mondiale bibliographie annotée des publications autonomes des quarante dernières années, (Histoire et documents), Luxembourg 1987, Éditions RTL.
Ziegler, Meinrad: Das soziale Erbe. Eine soziologische Fallstudie über drei Generationen einer Familie, Wien 2000, hier S. 27, Böhlanverlag.
1 Hier ist besonders auf das Forschungsprojekt LUX-ID zu verweisen, das von 2007 bis 2009 zur Tradierung von Erinnerung in Luxemburger Familien forschte, und an dem die Autorin beteiligt war.
2 Die luxemburgischen Zitate wurden aus den Interviews wörtlich, mitsamt den sprachlichen Eigenheiten übertragen.

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