In der Türkei beginnt der Prozess gegen den inhaftierten Istanbuler Oberbürgermeister Ekrem İmamoğlu, den aussichtsreichsten politischen Gegner von Präsident Recep Tayyip Erdoğan.

Protest gegen die Inhaftierung und Anklage des suspendierten Istanbuler Oberbürgermeisters Ekrem İmamoğlu Ende Oktober vor dem Gerichtsgebäude in Istanbul: In Rednerpose der CHP-Vorsitzende Özgür Özel, dessen Partei massiv von Repression betroffen ist. (Foto: EPA/ERDEM SAHIN)
Es ist ein umfangreiches Dokument. Am 25. November meldete die regierungsnahe türkische Tageszeitung „Hürriyet“ per Eilmeldung, dass das Strafgericht in Istanbul die fast 4.000 Seiten umfassende Anklageschrift gegen den suspendierten Istanbuler Oberbürgermeister Ekrem İmamoğlu angenommen habe. Damit beginnt offiziell ein Verfahren, das viele Beobachter als den größten politischen Strafprozess der jüngeren türkischen Geschichte einstufen. Unabhängige Medien betonen, dass die Annahme der Mammutanklage die politische Instrumentalisierung der türkischen Justiz so deutlich mache wie selten zuvor, weisen jedoch zugleich darauf hin, dass ein Prozessbeginn noch in diesem Jahr kaum zu erwarten sei.
İmamoğlu, Oberbürgermeister von Istanbul und Präsidentschaftskandidat der „Republikanischen Volkspartei“ (CHP), sitzt seit dem 19. März in Silivri in Untersuchungshaft („Lange Nächte“; woxx 1830). Kurz zuvor war sein Universitätsabschluss annulliert worden, ein Schritt, den Oppositionsvertreter als politisch motiviert bewerten. Bei den Kommunalwahlen 2024 erzielte die CHP Wahlergebnisse von 50,8 Prozent in Istanbul, 58,9 Prozent in Ankara und 48,7 Prozent in İzmir und ging insgesamt als stärkste politische Kraft im Land aus der Wahl hervor. Seither ist die Partei Gegenstand unverhohlener staatlicher Repression. Präsident Recep Tayyip Erdoğan ließ 17 CHP-Bürgermeister unter Korruptionsvorwürfen festnehmen und absetzen – ein Vorgehen, das stark an die systematische Entmachtung und Kriminalisierung der prokurdischen „Partei für Gleichheit und Demokratie“ (DEM) erinnert: Gewählte Bürgermeister aus den Reihen der Partei waren vor einem Jahr abgesetzt und deren Ämter unter Zwangsverwaltung gestellt worden.
Zudem strebt die Staatsanwaltschaft in Istanbul ein Verbot der CHP mit der Begründung an, sie sei durch illegale Gelder finanziert worden, ihre Transaktionen stellten „verbotene Handlungen“ dar; darüber solle der Kassationsgerichtshof des Landes entscheiden. Damit steht die CHP, die größte türkische Oppositionspartei, unter erheblichem Druck der Justiz, deren Motive politisch wirken. Der CHP-Vorsitzende Özgür Özel, der am 29. November auf dem 39. Parteitag mit großer Mehrheit wiedergewählt wurde, verurteilte das Vorgehen der Regierung scharf. Er sprach von einem „zivilen Putschversuch“ und sagte: „Sie versuchen, einen Putsch gegen den nächsten Präsidenten zu inszenieren.“ Oppositionelle Intellektuelle kritisieren eine faktische Aufhebung der Gewaltenteilung und eine Justiz, die immer deutlicher auf Regierungslinie agiert.
Politische Beobachter, Rechtsexperten und große Teile der Opposition sprechen von einem „Schauprozess“, der die größte Bedrohung für die politische Opposition seit Jahren darstelle.
Auch der seit März inhaftierte İmamoğlu äußerte sich in einer mit Hilfe Künstlicher Intelligenz erstellten Videobotschaft, die während des Parteitags gezeigt wurde, zu den Angriffen: Der „unerbittliche Versuch“, demokratische Wahlen zu manipulieren und einen Machtwechsel zu verhindern, zeige die Dringlichkeit des Parteitags, auf dem es um die Zukunft der Türkei insgesamt gehe. Landesweit kommt es seit İmamoğlus Inhaftierung zu Massenprotesten, den größten seit der Gezi-Bewegung von 2013.
Am 11. November hat der Istanbuler Generalstaatsanwalt Akın Gürlek, bekannt für sein hartes Vorgehen gegen Oppositionelle, die bislang umfangreichste Anklageschrift der jüngeren türkischen Geschichte vorgelegt: rund 3.900 Seiten, in denen für İmamoğlu eine Haftstrafe von bis zu 2.352 Jahren gefordert wird. Insgesamt werden 402 Beschuldigte angeklagt, von ihnen sitzen 105 in Untersuchungshaft. Gürlek, seit Oktober 2024 Generalstaatsanwalt von Istanbul, erlangte Bekanntheit durch die Verurteilung des früheren Vorsitzenden der „Demokratischen Partei der Völker“ (HDP), Selahattin Demirtaş, im Jahr 2020 wegen „Terrorpropaganda“.
İmamoğlu wird vorgeworfen, eine „gewinnorientierte kriminelle Organisation“ gegründet und geleitet zu haben, um sich politisch zu bereichern und seine Präsidentschaftskandidatur voranzutreiben. Deren „Arme“ hätten sich wie die eines „Oktopus“ in Kommunen, staatliche Institutionen und Medien erstreckt – eine Metapher, die Erdoğan zuvor öffentlich verwendete und die nun wortgleich in der Anklageschrift auftaucht. Zu den İmamoğlu vorgeworfenen Straftaten zählen die Bildung und Leitung einer kriminellen Vereinigung, Manipulation von Ausschreibungen, Bestechlichkeit, Geldwäsche, Betrug zum Nachteil öffentlicher Institutionen, Missbrauch persönlicher Daten, Vernichtung von Beweismitteln sowie Verstöße gegen Umwelt-, Steuer-, Forst- und Bergbaugesetze. Politische Vorwürfe betreffen zudem İmamoğlus Einfluss innerhalb der CHP: Während der Präsidentschaftswahl 2023 habe er Delegierte des Parteitags beeinflusst und die Partei „unter seine Kontrolle gebracht“; der gescheiterte Präsidentschaftskandidat der CHP, Kemal Kılıçdaroğlu, der im Zuge dessen auch den Parteivorsitz verlor, hat sich der Staatsanwaltschaft als wichtiger Zeuge zur Verfügung gestellt.
Noch ehe das Gericht die Anklage offiziell angenommen hatte, verbreitete die Staatsanwaltschaft bereits die Vorwürfe über regierungsnahe Medien, unter anderem den Sender „CNN Türk“. Kritische Juristen werten dies als Rechtsbruch und Versuch, die öffentliche Meinung vor Prozessbeginn zu beeinflussen. Politische Beobachter, Rechtsexperten und große Teile der Opposition sprechen von einem „Schauprozess“, der die größte Bedrohung für die politische Opposition seit Jahren darstelle.
Die Stärkung der CHP bei den Kommunalwahlen 2024 habe die Regierung alarmiert, heißt es vielerorts: Die Inhaftierung İmamoğlus und juristische Maßnahmen gegen zahlreiche CHP-Bürgermeister seien Teil einer Strategie, politische Konkurrenz auszuschalten. Auch westliche Diplomaten und Menschenrechtsorganisationen verfolgen die Entwicklungen aufmerksam. Der Türkei werden erneut Verstöße gegen rechtsstaatliche Grundsätze sowie die Instrumentalisierung der Justiz vorgeworfen. Im diesjährigen „Rule of Law Index“ des unabhängigen, in den USA ansässigen „World Justice Project“ belegt die Türkei Rang 118 unter 142 Ländern. Besonders problematisch ist die weitverbreitete Korruption, die erheblichen Einfluss auf Politik, Wirtschaft und Verwaltung hat.
Ein Verhandlungstermin in dem Prozess steht bislang nicht fest. İmamoğlu und die weiteren 407 Beschuldigten müssen in den kommenden Wochen zu ihren ersten Anhörungen erscheinen. An diesem Prozess wird sich zeigen, wie es mit der Türkei politisch weitergeht. Dabei steht weniger die Frage im Zentrum, was İmamoğlu tatsächlich getan haben könnte, als vielmehr die, wie weit Präsident Erdoğan zu gehen bereit ist, um seine nunmehr 23-jährige autoritäre Herrschaft zu sichern.

