Belgien: Klabauter, Zorro und die Juden

Der berühmte Karneval im belgischen Aalst wartet nach dem Skandal vom letzten Jahr auch diesmal mit antisemitischen Klischees auf. Eine Spurensuche in der ostflämischen Provinz.

Zorro mit Schläfenlocken? Die Hüte, die sich in Aalst als Faschingsverkleidung großer Beliebtheit erfreuen, werden auch beim Online-Versandhandel „Amazon“ als „Judenhut“ verkauft. (Foto: Tobias Müller)

Zwei riesige Puppen mit Hakennasen, schwarzem Hut und Schläfenlocken. Auf der Schulter der einen Figur hat es sich eine Ratte bequem gemacht, zu beider Füßen liegen Geldsäcke – dies waren die Galionsfiguren auf einem der Wagen, mit denen die Karnevalsvereinigung „Vismooil’n“ (Fischmäuler) im März vergangenen Jahres vom belgischen Aalst aus international für Empörung sorgte. Hinter den riesigen Judenkarikaturen tanzten ähnlich verkleidete Mitglieder der Gruppe auf Geldkisten zu den landesweit beliebten Billig-Beats, während aus den Lautsprechern aufgekratzte „Sjalommekes“-Rufe klangen – das heißt Schalom im hiesigen Dialekt. „Sabbatjahr 2019“, so der Titel der Darbietung, die das zwischen Brüssel und Gent gelegene flämische Provinzstädtchen weltweit in die Schlagzeilen brachte.

Die Assoziation von Ratten und in der Diaspora lebenden Juden hatten beispielsweise auch die Nationalsozialisten in ihrer Propaganda gemacht, um die vermeintliche „zerstörerische Unterwanderung“ durch die Juden zu dokumentieren. Und auch das Klischee vom reichen, Geld scheffelnden Juden wurde und wird von Antisemiten häufig benutzt.

Und so sorgte der Aalster Karnevalsumzug für scharfe Kritik und Diskussionen, lange über die närrische Saison hinaus. Inzwischen hatte sich nämlich die Unesco eingeschaltet, in deren Bestand des Weltkulturerbes das Aalster Karnevalsbrauchtum 2010 aufgenommen worden war. Vergangenen September zitierte die Organisation den Aalster Bürgermeister Christoph D’Haese nach Paris. Er, der die beschriebenen Umtriebe stets mit dem Hinweis auf Satire und Meinungsfreiheit gerechtfertigt hatte, musste am Hauptsitz der Unesco Auskunft zum Hintergrund des Karnevals geben. Doch bevor die Organisation im Dezember über eine eventuelle Streichung des Aalster Brauchtums aus ihrer Liste entscheiden konnte, zog sich die Kommune selbst zurück. „Wir haben die Vorwürfe satt”, so D’Haese, Mitglied der flämisch-nationalistischen Partei N-VA. „Wir sind keine Antisemiten oder Rassisten. Wer das weiter behauptet, ist böswillig.“

Zur diesjährigen Karnevalssaison legte man deshalb gleich noch einmal nach: mit eigens angefertigten Orden, die abermals Karikaturen hakennasiger Juden zeigen, versehen mit Losungen wie „Wir lachen über alle“, oder „Unesco – was für eine Farce”.

Was aber hat man in Aalst eigentlich mit Juden zu tun? Es gab in dieser Kleinstadt nie eine jüdische Gemeinde, man kennt weder jüdische Einwohner noch Organisationen. Die Antwort liegt also nicht auf der Hand, wenn man durch das Örtchen streift. Der unscheinbare Bahnhof ist in den Farben der Saison geschmückt, Gelb, Rot und Weiß. Die beiden Frauen, die auf dem verwaisten Vorplatz den Zeugen Jehovas-Stand betreuen, haben zwar davon gehört, dass es irgendeine Karnevalsaffäre gab, Details kennen sie aber keine.

Im „Café des Arcades“ ein paar Meter weiter gesteht der Wirt, der am Tresen stehend unaufgeregt die mittäglichen Gäste bedient, dass er zu Karneval immer verreise. Eine jüngere Kundin, im Glas eine knallrote Mischung aus Bier und Grenadine, kann sich auch an keine Einzelheiten erinnern.

Es ist ein älterer Gast, der im Vorbeigehen deutliche Worte findet: „Diese Karikaturen vom letzten Jahr, das war wirklich wie Deutschland in den 1930er-Jahren.“ Wie man ausgerechnet in Aalst auf sowas kommt, weiß auch er nicht. „Aber was ich weiß, ist, dass hier eine ganze Reihe Rassisten herumlaufen“, sagt er und verabschiedet sich. Die Denderstreek, das Gebiet um den Fluss Dender, in dem auch Aalst angesiedelt ist, bildet in Belgien stets eine Basis für stramm rechte Wahlerfolge. Ob das der Hintergrund der närrischen Abgründe ist?

Es gab in Aalst nie eine jüdische Gemeinde, man kennt weder jüdische Einwohner noch Organisationen.

Die besagte Karnevalsgruppe schrieb in einem Facebook-Post, man habe „ungewollt Traumata und Verletzungen“ verursacht und sich dafür entschuldigt – jedoch ausdrücklich „nicht für die Verwendung von Karikaturen und Spott“. Anstatt sich mit dem Vorwurf des Antisemitismus auseinanderzusetzen, liefert man allgemeine Betrachtungen über den Geist der Zeit: „In welchem Schnelltempo verändert sich die Welt um uns herum? Sind wir weltfremd geworden? Oder sind sie weltfremd? Müssen wir uns anpassen? Oder erst recht weitermachen?“, heißt es dort. Die Kommentierenden haben Antworten schnell parat: „Karneval ist für Außenstehende nicht zu verstehen. Schlimm genug, dass ihr sowas der Unesco erklären musstet”, schreibt jemand. „Nur noch regionale Presse zulassen“, fordert jemand anderer. „Der Rest versteht es doch nicht und tut alles um einseitig zu berichten.“

Das nahe dem Ortskern gelegene Verkleidungsgeschäft Liebaut ist eine der beiden traditionellen Adressen für Karnevalzubehör. Der Inhaber, Danny Liebaut, präsentierte sich der belgischen Zeitung „Nieuwsblad“ unlängst bereitwillig im von ihm angebotenen Sortiment für eine Judenkarikatur. Nebst Vollbart und schwarzem Umhang trug er einen breitkrempigen Hut, welcher der Kopfbedeckung orthodoxer Juden nachempfunden ist und an dem Schläfenlocken, die sogenannten „Pejes“, kleben. Sogar eine Plastiknase, das vermeintliche „jüdische“ Rassemerkmal imitierend, durfte da nicht fehlen. „Voriges Jahr hatte ich all das nicht im Sortiment“, so der Einzelhändler: „Aber nach allem Getue mit der UNESCO beschloss ich es einzukaufen”, zitiert ihn die Zeitung.

Der Umhang ist inzwischen ausverkauft, sagt seine Frau, die an diesem Mittag an der Kasse steht. Was die von ihrem Mann zur Schau gestellten Accessoires betrifft, bestreitet sie, dass diese spezifisch Juden karikieren sollen. „Die Nase ist eine Hexennase“, weist sie auf eine schrumpelige Maske in Plastikverpackung. Ihr Mann hatte gegenüber der Zeitung „Het Laatste Nieuws“ von einer „Hakennase“ gesprochen. „Der Umhang kann auch für Schornsteinfeger oder Zorro gebraucht werden. Der Bart passt auch zu Klabautern oder Scheichs.“ In den hinteren Regalreihen zwischen allerlei anderen Kopfbedeckungen findet sich schließlich auch das Modell, das ihr Mann auf dem Foto trug. Fünf Stück sind noch übrig. „Hoed hat sombrero“, sagt das Etikett neutral. Seitlich baumeln die Schläfenlocken-Attrappen.

Selbst hat die Ladeninhaberin noch keinen Juden getroffen. „Da müssen sie nach Antwerpen“, rät sie. Warum Juden beim Karnevalsumzug im letzten Jahr mit Geldsäcken dargestellt wurden, ist für sie aber trotzdem keine Frage. „Das sieht man doch in TV-Programmen, da sitzen sie in solchen schicken Restaurants.” Und sie versichert: das, was letztes Jahr beim Karneval passierte, hätten „sie“ erst aufgebauscht. Sie? „Die Juden“, versichert die Geschäftsfrau, und alles was seither vorgefallen sei, hätten diese durch ihre Reaktion erst provoziert. Wie um zu beschwichtigen fügt sie hinzu, dass man sich beim Aalster Karneval auch über Türken und andere Minderheiten ebenfalls schon lustig gemacht habe.

Und so wähnt sich mancher hier gar als Opfer. Der Karnevalsverein „Vismooil’n“ verloste neulich Buttons, auf denen „Keine Zensur in Aalst“ stand oder, in regionalem Dialekt, „Zje swie (je suis) Vismooil“. Die Aalster Narren auf einer Stufe mit den Opfern des antisemitisch motivierten Mordanschlags auf die Redaktion des Satireblatts Charlie Hebdo?

Johan Van der Speeten, Mitglied des nichtkonfessionellen Vereins „Humanistisch Verbond“, dessen Niederlassung schräg gegenüber des Verkleidungsladens liegt, gibt weitere Auskunft über die hiesigen Befindlichkeiten. „Natürlich gibt es in Aalst wie überall Antisemitismus. Aber der war beim letzten Karneval nicht die Grundlage. Weil die Leute hier denken, dass das aufgebauscht wurde, wird es nun noch mehr jüdische Karikaturen geben. Wenn Aalster finden, dass man ihnen vorschreibt, über wen sie spotten dürfen, wehren sie sich.“

Der Politiker Michael Freilich hat in Aalst zu vermitteln versucht. Er ist Jude und sitzt für die N-VA im Brüsseler Parlament – die gleiche Rechtspartei, der auch Christoph D’Haese angehört, der Bürgermeister von Aalst. Freilich betont, die Leitung seiner Partei habe die Auftritte der Karnevalisten verurteilt, doch der Bürgermeister vertrete eben eine mehr lokale Perspektive. Fundierte antisemitische Überzeugungen sieht Freilich auf Seiten der Narren eher nicht.

In der Nähe des alten Rathauses von Aalst findet sich ein Delikatessenladen namens „Den Olijfboom“. Auf dessen Schaufenstern eine bunte Zeichnung, wie sie zu Karneval viele Geschäfte anbringen lassen. Ein empörter Händler ruft darauf faustschwingend, er könne den Laden dicht machen, wenn der Kunde weiter so viel verhandeln würde. Der Kunde, mit einem riesigen Teller voll Essen davoneilend, bedankt sich für das gute Mahl. Er trägt einen Hut mit Schläfenlocken. Und eine blaue Jacke mit Unesco-Logo. Auch das ist wohl lustig gemeint. Peter Van den Bossche, Sprecher von Bürgermeister D’Haese, versichert jedenfalls, er glaube selbstverständlich nicht, dass die Juden die Unesco kontrollierten.

Emmelien Deshommes, deren Vater nebenan ein spanisches Restaurant betreibt, wird deutlicher: „Ich würde mich schämen, wenn das unsere Vitrine wäre. Und wenn ich jüdisch wäre und hier vorbeiliefe, fühlte ich mich erniedrigt.”

Tobias Müller berichtet für die woxx vorwiegend aus Belgien und den Niederlanden.

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