In Bolivien zerreißt ein interner Machtkampf die regierende Partei „Bewegung zum Sozialismus“. Seit Wochen herrscht ein scharfer Konflikt zwischen dem seit 2020 amtierenden Präsidenten Luis Arce und seinem Vorgänger Evo Morales.
Federico Chipana ist seit zwei Wochen zurück in El Alto. Er ist schockiert, wie viele Bolivianos nun in der Wechselstube pro US-Dollar fällig werden. „Als ich Anfang Oktober Bolivien verlassen und vorher etwas Geld eingetauscht habe, waren es elf, manchmal zwölf Bolivianos, die ich pro US-Dollar zahlen musste. Heute sind es 15 Bolivianos“, sagt der Sozialarbeiter. Seine Heimatstadt El Alto liegt über dem Talkessel der Hauptstadt La Paz und ist geprägt von Handel und aufstrebenden indigenen Familien, aber auch von Armut und Umweltverschmutzung.
Chipana engagiert sich in der Bekämpfung von beidem. Er arbeitet mit Jugendlichen aus armen Stadtvierteln wie dem Distrito 8 von El Alto, wo er mit insgesamt zehn Schulen kooperiert; er sensibilisiert sie für Umweltbelange und Gewaltprävention, vermittelt aber auch politisches Wissen. Derzeit geht es vor allem darum, die Jugendlichen für die Präsidentschaftswahl zu interessieren, die im August kommenden Jahres stattfinden soll. „Wir erklären unser Wahlsystem, animieren die Jugendlichen, lokale Kandidaten und Kandidatinnen anzuschreiben, sie einzuladen, mit ihnen zu diskutieren und sie auf ihr politisches Programm zu verpflichten“, sagt Chipana. So versucht er, politische Prozesse und Abläufe transparenter zu machen, auch wenn das in Bolivien derzeit alles andere als einfach ist.
Seit Wochen herrscht ein scharfer Konflikt zwischen dem seit 2020 amtierenden Präsidenten Luis Arce und seinem Vorgänger Evo Morales (2006 bis 2019). Beide gehören zur Partei „Movimiento al Socialismo“ („Bewegung zum Sozialismus“; MAS). Sie kennen einander gut, haben Bolivien über Jahre gemeinsam regiert, galten als Freunde – und bekämpfen sich derzeit heftig. Das geht so weit, dass Morales seinen Parteifreund für ein mutmaßliches Attentat auf ihn Ende Oktober verantwortlich macht. Arce ordnete eine detaillierte polizeiliche Untersuchung an, die den Attentatsvorwurf entkräftete, zugleich aber Beweise zutage förderte, dass aus dem Auto des ehemaligen Präsidenten bei einer Straßenkontrolle auf Polizisten geschossen worden sei. Es wird allerdings kaum aufzuklären sein, was genau geschehen ist, denn die beteiligten Fahrzeuge gingen in Flammen auf – Anhänger von Morales entwendeten sie und zündeten sie an.
„Dieser Machtkampf hat eine handfeste politische Krise ausgelöst, denn Evo Morales will zurück an die Macht und scheint dafür bereit, auch Gesetzesverstöße in Kauf zu nehmen.“ Marco Gandarillas, Soziologe
Es herrschen Verhältnisse, die an schlechte Filme erinnern, so der Soziologe und Analyst Marco Gandarillas. Derzeit zerfalle der MAS, die mit Abstand bedeutendste Partei im Land, in zwei Teile, von denen der eine Luis Arce, der andere Evo Morales anhängt. „Dieser Machtkampf hat eine handfeste politische Krise ausgelöst, denn Evo Morales will zurück an die Macht und scheint dafür bereit, auch Gesetzesverstöße in Kauf zu nehmen“, meint Gandarillas. Der Soziologe lebt in La Paz, ist aber auch viel in den Regionen des Landes unterwegs.
Legal kann Evo Morales bei der Präsidentschaftswahl im August 2025 nicht antreten, denn mehr als zwei Amtszeiten erlaubt die Verfassung nicht. Zudem hat Morales das Land zwischen 2006 und 2019 regiert, de facto also sogar drei Amtszeiten absolviert. Das Verfassungsgericht genehmigte seine Kandidatur 2014, weil er die erste Amtszeit vor der Ratifizierung der Verfassung absolviert habe („Präsident unter Druck“; woxx 1360); diesmal ist ein solches Manöver nicht mehr möglich.
Gleichwohl meint Morales, der aus der Kokaanbauregion Boliviens, dem Chapare, stammt und seinen politischen Aufstieg seiner Arbeit in der Gewerkschaft der Kokapflücker zu verdanken hat, wieder an die Macht kommen zu können. Erstmals kündigte Morales im Mai vor Anhängern in Cochabamba an, er werde einen Weg finden. Folgerichtig machen viele Spekulationen die Runde und Chipana hält es für möglich, dass der MAS, den Morales weitgehend kontrolliert, einen Strohmann aufstellen könne. Hinter dem könne Morales als Vizepräsident agieren. „Nach ein paar Monaten wird dieser Strohmann dann abtreten und den Weg für Evo freimachen“, umreißt Chipana den Plan.
Dieser Plan ist in den Straßen von El Alto, aber auch in anderen Regionen des Landes recht bekannt. Doch könnte diese Strategie auch aufgehen? Marco Gandarillas winkt ab. „Ich gehe davon aus, dass die laufenden Ermittlungen gegen Evo Morales zu seiner Verhaftung führen und dazu, dass ein anderer Kandidat den MAS in die Wahlen führen wird“, so der Soziologe.
Gegen den ehemaligen Präsidenten laufen derzeit zwei Verfahren wegen sexuellen Missbrauchs. Die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen ihn, weil er im Jahr 2016 eine sexuelle Beziehung mit einer Minderjährigen gehabt haben soll. Aus dieser Verbindung sei ein Kind hervorgegangen. Morales hat am 10. Oktober in der Stadt Tarija einen Gerichtstermin in diesem Fall nicht wahrgenommen. Daraufhin erließ Staatsanwältin Sandra Gutiérrez einen Haftbefehl gegen Morales, der jedoch wieder aufgehoben wurde. Der zweite Fall soll sich 2020 während Morales’ Exil in Argentinien ereignet haben. Deshalb wird auch dort gegen ihn wegen sexuellen Missbrauchs von Minderjährigen und Menschenhandel ermittelt.
Dem selbstherrlichen Morales erscheinen die Ermittlungen nur als Versuche, ihn zu bremsen. Damit hat der 65-Jährige zwar nicht ganz unrecht, denn sein Gegenspieler Luis Arce kontrolliert die Justiz und lässt sie gegen seinen ehemaligen Freund agieren; aber die Anklage selbst beruht nicht auf einer Intrige, die Beweislage ist vielmehr recht eindeutig.
Arce war unter Morales von Beginn an Finanzminister, später auch noch Wirtschaftsminister in Personalunion – bis 2019, als Präsident Morales nach Unruhen zurücktreten und das Land verlassen musste („Umstrittener Abgang“; woxx 1554). Arce wurde dank Morales’ Unterstützung 2020 Präsidentschaftskandidat des MAS, gewann die Wahl und beendete das desaströse Intermezzo von Interimspräsidentin Jeanine Áñez, die inzwischen wegen Korruption, Machtmissbrauch und anderer Delikte im Gefängnis sitzt. Doch schon bald zeigte sich, dass Arce nicht gewillt war, nach der Pfeife von Evo Morales zu tanzen, der 2021 aus dem Exil zurückkam. Er ließ „Evistas“, also Anhänger Morales’, in den Ministerien austauschen; es kam zum Bruch zwischen den beiden MAS-Anführern.
Das hat dazu geführt, dass Partei und Institutionen vor wiederkehrende Zerreißproben gestellt werden. Derzeit ist der MAS von der Parlamentsfraktion bis hinunter in die Basisorganisationen gespalten. 2023 wurden Arce und der ehemalige Außenminister und Vizepräsident David Choquehuanca aus der Partei ausgeschlossen, was aber nicht von allen Parteimitgliedern akzeptiert wird. Zumindest die Parlamentsfraktion aber wird von den Evistas dirigiert. Auch der kommende Präsidentschaftskandidat dürfte nicht an Morales vorbei nominiert werden, und in den vergangenen Wochen hat der ehemalige Präsident immer wieder seinen Einfluss geltend gemacht. Im September rief er seine Anhänger zu einem „Marsch zur Rettung Boliviens“ gegen die „schlechteste Regierung der Geschichte“ auf.
All das trägt dazu bei, dass die ohnehin lahmende Wirtschaft immer weiter in die Krise gerät.
Im Rahmen dieses Konflikts kommt es immer wieder zu Straßensperren und zu Handgreiflichkeiten zwischen den Anhängern beider Lager. All das trägt dazu bei, dass die ohnehin lahmende Wirtschaft immer weiter in die Krise gerät. Die Gasexporte, eine wichtige Devisenquelle, gehen seit Jahren zurück, der Boliviano wurde mehrfach abgewertet. US-Dollar seien ähnlich knapp wie Benzin und Diesel und beides werde vor allem aus Chile importiert, so der Soziologe Gandarillas über die schwierigen Verhältnisse.
„Vor allem für die ärmeren Bevölkerungsschichten ist das dramatisch, denn der Warenkorb an Grundnahrungsmitteln wird teurer und die Jugend erkennt immer weniger eine Perspektive“, beschreibt Sozialarbeiter Chipana die Situation. Auch die Zunahme der Korruption sei spürbar, Ämterkampf sei in staatlichen Institutionen, aber auch Parteistrukturen alles andere als selten. Er kennt mehrere Jugendliche, die sich seitens potenzieller Arbeitgeber immer wieder der Forderung nach einem MAS-Parteibuch gegenübersehen. Auch eine Parteispende für die Aufnahme im Betrieb oder andere Dinge würden verlangt. Chipana vermisst neue politische Initiativen, neue Gesichter, neue Parteien, die das Land aus den Konflikten und den Verteilungskämpfen herausführen können. Die sind jedoch nicht in Sicht.