Nachdem Ex-Präsident Evo Morales das Land verlassen und die liberalkonservative Senatorin Jeanine Áñez eine Übergangsregierung gebildet hat, ist die Situation in Bolivien massiv eskaliert. Nahe der Provinzhauptstadt Cochabamba gab es bei Auseinandersetzungen zwischen Polizei und demonstrierenden Kokabauern mehrere Tote. Im woxx- Interview erläutert der Soziologe Marco A. Gandarillas den Konflikt.
woxx: Die Situation in Bolivien ist derzeit von Gewalt geprägt. Vor den Toren von Cochabamba haben sich Ordnungskräfte und Anhänger von Evo Morales am letzten Wochenende blutige Auseinandersetzungen mit neun Toten und vielen Verletzten geliefert. Wie beurteilen Sie die Situation?
Marco A. Gandarillas: Die Situation ist alarmierend. Beide Seiten sind mit einem Ausmaß an Gewaltbereitschaft vorgegangen, das beispiellos ist.
Laut den Berichten der Gerichtsmediziner sind die neun Toten durch den Einsatz von Schusswaffen ums Leben gekommen. Sind Armee und Polizei dafür verantwortlich?
Darauf deutet alles hin, aber die Gewalt ging von beiden Seiten aus. Polizei und Armee haben angegeben, beschossen worden zu sein und die Situation ist binnen zwanzig Minuten an einer Brücke vor den Toren von Cochabamba eskaliert. Das belegen auch Filmsequenzen. Die Kokabauern aus dem Chapare, die auf der Seite von Evo Morales stehen und seine militante Basis bilden, wollten die Brücke passieren, um ihren Protest gegen die Interimsregierung aus dem mexikanischen Exil nach La Paz zu tragen und für die Rückkehr von Evo Morales zu demonstrieren. Sie wollten die Hauptstadt lahmlegen und genau daran haben Polizei und Armee sie gehindert – daraufhin kam es zur Eskalation der Gewalt.
Die Interimsregierung hat der Armee einen Freibrief ausgestellt – den Streitkräften wurde per Gesetz Straffreiheit zugesichert für die ergriffenen Maßnahmen zur „Wiederherstellung der inneren Ordnung“.
Dieses Gesetz verletzt alle internationalen Normen, das hat auch die Interamerikanische Menschenrechtskommission kritisiert. Ich denke, dass dieses Gesetz dazu beigetragen hat, dass es zum Waffeneinsatz kam.
Wie kann es zu so einem Gesetz kommen?
Die Armee ist im Oktober 2003 brutal gegen den Widerstand im so genannten Gas-Krieg in El Alto vorgegangen (damals kam es vor allem in El Alto zu Aufständen der Bevölkerung gegen die Privatisierung der Gasressourcen; Anm. d. Red.). Die Streitkräfte hatten sich von der damaligen Regierung von Gonzalo Sánchez de Lozada instrumentalisieren lassen. Damals sind mehr als 60 Menschen umgebracht worden – vor allem durch die Militärs, die mit Panzern in El Alto eingedrungen waren. Dafür sind viele Militärs ins Gefängnis gegangen, weshalb sie von der Regierung nun eine Absicherung einforderten. Die haben sie von dieser Regierung erhalten, die ausgesprochen schwach ist.
Es gibt militante Anhänger von Morales’ „Bewegung für den Sozialismus“, aber auch kritische Nachbarschaften, die sich nicht in eine Spirale der Gewalt begeben wollen.
Wie lässt sich die Gewalt eindämmen? Die UN-Menschenrechtsbeauftrage Michelle Bachelet hat davor gewarnt, dass die Situation außer Kontrolle geraten könne.
Das Risiko besteht, aber es hat in den letzten Tage Verhandlungen gegeben – zwischen der Regierung und der MAS (Movimiento al Socialismo). Allerdings gehört es auch zur Strategie der MAS, Maximalforderungen aus einer Position der Stärke zu stellen, die man angesichts des momentanen Grades der Mobilisierung verspürt. Die Kokabauern aus dem Chapare sind die radikalste Gruppe innerhalb der MAS und sie sind gezielt in Marsch gesetzt worden und fordern den Rücktritt der Interimsregierung. Diese Forderung ist nach wie vor aktuell.
Was hat der Appell der Bischofskonferenz zum Gewaltverzicht für einen Effekt?
Das ist positiv und trägt hoffentlich dazu bei, die Situation zu entspannen. Für mich ist aber das wichtigste Signal, dass es innerhalb des MAS Fraktionen gibt, die in den Dialog treten. Wir brauchen eine Verhandlungslösung – Kompromisse.
Es hat den Anschein, dass die Gewalt sich derzeit auf Cochabamba konzentriert – hat sich die Situation in El Alto beruhigt?
In El Alto hat es viele Versammlungen auf Nachbarschaftsebene gegeben, die zum Gewaltverzicht aufriefen. Das ist positiv, auch wenn es nach wie vor Stadtteile gibt, wo die Blockaden aufrechterhalten bleiben und militante Aktivisten der MAS agieren. Die Lage in El Alto ist deutlich vielschichtiger als jene in Cochabamba. Da gibt es militante Anhänger der MAS, aber auch kritische Nachbarschaften, die diskutieren und sich nicht in eine Spirale der Gewalt begeben wollen respektive da wieder raus wollen.
Droht eine Paramilitarisierung des MAS?
Ja, genau, und sie wird von Evo Morales auch geschürt. Er verstößt mit seinen Botschaften aus dem mexikanischen Exil gegen internationales Asylrecht, weil er in den Konflikt eingreift und ihn anheizt. Er hat gegenüber mehreren Journalisten in Mexiko von der Notwendigkeit zur Bewaffnung gesprochen und zur Gründung von Milizen aufgerufen. Das ist gravierend, denn er instrumentalisiert seine Anhänger für seine eigenen politischen Ziele. Ich bin der Meinung, dass er eine Mitverantwortung für die Todesopfer trägt.
23 Tote und Hunderte von Verletzten lautet die Bilanz seit dem 20. Oktober laut der Interamerikanischen Menschenrechtskommission. Lässt sich die Gewalt eindämmen?
Ja, doch dazu muss die Regierung, aber auch die MAS einlenken. Bis zum Rücktritt von Evo Morales am 10. November waren acht von zehn Todesopfern Oppositionelle, die gezielt von Heckenschützen ermordet wurden. Viele Indizien und auch einige Beweise deuten darauf hin, dass diese Toten auf das Konto der militanten MAS gehen. Seit Morales’ Rücktritt und der repressiven Haltung der Interimsregierung sind die Opfer MAS-Anhänger. Aber es gibt auch andere Opfer – ausländische beispielsweise, wie etwa ein FARC-Guerillero aus Kolumbien, der in Santa Cruz im Krankenhaus liegt. Laut Polizeiberichten wurden auch kubanische und venezolanische Staatsangehörige mit Geld, Sprengstoff und teilweise mit Waffen in Bolivien aufgegriffen. Berichte über diese Personen sind ein weiteres Element, über das es bisher wenige Informationen gibt.
Marco A. Gandarillas ist Soziologe und Direktor des Dokumentations- und Informationszentrums CEDIB. Das Zentrum begleitet indigene Gemeinden bei der Verteidigung ihres Landes und ihrer Ressourcen und engagiert sich für die Verteidigung der Menschenrechte. Gandarillas stammt aus Cochabamba, wo auch der Sitz des CEDIB ist. Er lebt in La Paz. Auf Einladung der Action solidarité Tiers Monde (ASTM) war der Wissenschaftler auch schon mehrmals für Vorträge in Luxemburg zu Gast, zuletzt im Jahr 2013. Auch bei dieser Gelegenheit hatte die woxx ein Interview mit ihm geführt.