Brasilien: Wenn die Demokratie zerfressen wird

Brasilien kehrt unter Jair Bolsonaro in autoritäre Zeiten zurück, Erinnerungen an die nie wirklich aufgearbeitete Militärdiktatur werden geweckt. Eine erste Bilanz der seit Januar 2019 dauernden Amtszeit des Präsidenten.

Wer demokratisch gesinnt ist, hat unter ihm nichts zu lachen: Präsident Jair Bolsonaro bei den Feierlichkeiten zum brasilianischen Unabhängigkeitstag am vergangenen Samstag in Brasilia. (Foto: EPA-EFE/Joedson Alves)

Ein Haus in Recife soll abgerissen werden und einem neuen Großprojekt weichen. Clara ist die letzte Bewohnerin des zweistöckigen Gebäudes. Nachdem sie mehrere Angebote einer Baufirma abgelehnt hat, versucht das Unternehmen, sie mit allen Mitteln zu verjagen. Zuletzt sogar mit Termiten. Diese haben die leerstehende Wohnung über ihr bereits zerstört. Doch Clara wehrt sich.

Auf diese Weise lässt sich nicht nur der Film „Aquarius“ des brasilianischen Regisseurs Kleber Mendonça Filho von 2016 kurz zusammenfassen. Dessen Handlung wird heutzutage auch metaphorisch für den Zustand Brasiliens gesehen.

„Wenn die Termiten die Demokratie zerfressen“, heißt bezeichnenderweise auch der Untertitel eines aktuellen Essays des argentinischen Publizisten Horacio Verbitsky, in dem er den Rechtsruck in den meisten südamerikanischen Ländern in den vergangenen Jahren thematisiert. Verbitsky beginnt mit der Amtsübernahme von Raúl Alfonsín als erstem Präsidenten Argentiniens nach der Militärdiktatur (1976-1983) und spannt einen Bogen zu Jair Bolsonaro, der sein Amt als brasilianisches Staatsoberhaupt Anfang des Jahres antrat. Mit Alfonsín begann eine demokratische Ära in Südamerika, mit Bolsonaro scheint die Krise der Demokratie auf dem Teilkontinent einen neuen Tiefpunkt erreicht zu haben.

Mauricio Macri in Argentinien, Sebastián Piñera in Chile und nun Bolsonaro sind drei Präsidenten, die eine Dekade von Mitte-Links-Regierungen in ihren Ländern beendeten. Es gibt sicherlich viele Unterschiede zwischen ihnen. Verbitsky betont, dass Macri nicht Bolsonaro sei. Auch sind nicht alle lateinamerikanischen Länder gleichermaßen von dem rechten Rollback betroffen. Das Vordringen rechter und ultrarechter Kräfte ist aber eine Tatsache.

Wie Trump wurde Bolsonaro im Wahlkampf zunächst sträflich unterschätzt.

Während in Argentinien und Chile 2015 bzw. 2018 demokratisch legitimierte Regierungswechsel stattfanden, wurde mit Blick auf Brasilien nicht selten von „De-facto-Staatsstreichen“ gesprochen. Präsidentin Dilma Rousseff von der linken Arbeiterpartei PT wurde 2016 per Amtsenthebungsverfahren gestürzt und von Vizepräsident Michel Temer abgelöst. Ex-Staatschef Luiz Inácio „Lula“ da Silva wurde 2018 in einem höchst umstrittenen Gerichtsverfahren wegen Korruption zu mehr als acht Jahren Haft verurteilt und so an einer Kandidatur bei den Präsidentschaftswahlen gehindert.

Die Demokratien in der Region stecken nach mehr als drei Jahrzehnten politischer Konsolidierung in einer Krise, wie die „Neue Züricher Zeitung“ (NZZ) feststellt. „Viele Bürger haben die Hoffnung auf die Problemlösungsfähigkeit der politischen Eliten verloren“, schreibt das Blatt. „Deshalb fallen autoritäre Lösungen, wie sie von Populisten vertreten werden, auf fruchtbaren Boden.“ Mit dem Risiko, dass nicht nur die sozialen Errungenschaften der Mitte-Links-Regierungen verloren gehen, sondern dass die politische Repression, wie sie in der Region noch aus den Zeiten der Militärdiktatur bekannt sind, zurückkehrt.

Diese Entwicklung beschränkt sich angesichts des bereits seit Jahren anhaltenden Aufstiegs der Rechtspopulisten in Europa nicht nur auf Südamerika. Welchen Einfluss der Wahlsieg Donald Trumps auf den Erfolg der Rechtspopulisten in anderen Ländern hatte, gilt es noch genauer zu analysieren. Nicht von der Hand zu weisen ist, dass sich Trump und Politiker wie Bolsonaro in Ton und Stil gleichen; zudem gelang es beiden, mit ähnlichen Methoden an die Macht zu kommen.

Beide wurden außerdem zunächst fahrlässig unterschätzt. Es gelang ihnen, vor allem mit Hilfe der sogenannten sozialen Netzwerke eine Stimmung zu entfachen, die sie bis ins höchste Amt ihres jeweiligen Staates trug. Beide inszenierten sich als Außenseiter des Establishments, obwohl sie längst diesem angehörten, und gelobten, die verkrusteten politischen Strukturen aufzubrechen. Trump versprach eine Mauer zu Mexiko, und sein brasilianisches Pendant sagte, Brasilien könne kein Land mit offenen Grenzen sein. Beide loben einander wechselseitig. Der Slogan des US-Amerikaners heißt „America first“, der von Bolsonaro „Brasil acima de tudo“ – Brasilien über alles.

Während Trump gegen Medien wie die „New York Times“ wettert und twittert, bezeichnete Bolsonaro die größte brasilianische Tageszeitung „Folha de São Paulo“ als größte Fake-News-Quelle und kündigte an, dass die Regierung keine Anzeigen mehr in kritischen Zeitungen schalte. Schon im Wahlkampf und dann in seiner Antrittsrede sprach er sich für die Stärkung der traditionellen Familie, den Kampf gegen die „Gender-Ideologie“ sowie einen leichteren Zugang zum Besitz einer Waffe aus.

Ein wichtiger Machtfaktor in Bolsonaros Präsidentschaft ist das Militär. Der Staatschef ist umgeben von hohen Offizieren. Einerseits ist die Armee eine wichtige Stütze des Präsidenten, andererseits bekam er Widerspruch von dort, als er erwog, den USA Militärbasen in Brasilien anzubieten. Außerdem sind die Militärs argwöhnisch gegenüber seiner Wirtschaftspolitik. Denn die Umsetzung seines Wirtschaftsprogramms obliegt dem Ultraliberalen Paulo Guedes. Das erklärte Ziel des Wirtschaftsministers ist es, die Arbeitsverhältnisse weiter zu flexibilisieren, nachdem bereits unter Bolsonaros Vorgänger Temer die Arbeitnehmerrechte ausgehöhlt wurden und eine Rentenreform zugunsten privater Vorsorge gemacht worden ist. Guedes will auch sämtliche Staatsunternehmen privatisieren. Dagegen stehen die Militärs traditionell für die staatliche Kontrolle auch der Wirtschaft.

Der brasilianische Schriftsteller Luiz Ruffato nannte in einer Rede, die er im Mai in der Berliner Volksbühne hielt, die vielen Gefahren, die Bolsonaros Politik für Brasilien mit sich bringt. Schon jetzt lasse sich die Katastrophe erkennen, die sich abzeichnet. Ruffato weist darauf hin, dass Brasilien in punkto Ungleichheit im globalen Ländervergleich an zehnter Stelle steht und sich 27 Prozent des Gesamteinkommens in den Händen von nur einem Prozent der Bevölkerung befinden.

Brasilien ist das Land mit den meisten Toten durch Feuerwaffen.

Brasilien ist überdies das Land mit den meisten Toten durch Feuerwaffen, wie die Studie „Global Mortality from Firearms“ zeigt. Trotzdem unterzeichnete Bolsonaro als eine seiner ersten Amtshandlungen ein Dekret, das den Erwerb von Waffen erleichtert. Bereits in den vergangenen fünf Jahren ist die Zahl der Konzessionen um 381 Prozent gestiegen, in Brasilien sind laut Berechnungen fast 18 Millionen Kleinfeuerwaffen im Umlauf, mehr als die Hälfte davon illegal. Schon im Jahr 2016 kam es zu 65.000 Tötungsdelikten, auch hier liegt Brasilien mit 31,5 Toten pro 100.000 Einwohner unter den Top Ten.

Seit dem Wahlkampf ist – angeheizt von Bolsonaros Hetze gegen Homosexuelle, Frauen und Brasilianer dunkler Hautfarbe – die Zahl der Übergriffe gegen Frauen und LGBTIQA-Personen angestiegen. Der erste oppositionelle Politiker, der wegen Morddrohungen das Land verließ, war im Januar der homosexuelle Abgeordnete Jean Willys von der Linkspartei PSOL. „Ein großer Tag“, höhnte Bolsonaro ihm nach. Ebenso werden zunehmend rassistisch motivierte Verbrechen angezeigt. Allgemein ist die Zahl der Opfer von Polizeigewalt hoch: Mehr als 5.000 Tote im Jahr 2017, und 67 Prozent davon sind dunkelhäutig.

Kurz nach dem Amtsantritt Bolsonaros, der im Wahlkampf als Kämpfer gegen die Korruption aufgetreten war, gab es einen ersten Skandal, als anonyme Bareinzahlungen auf das Konto seines Sohnes Flávio während dessen Zeit als Abgeordneter in Rio de Janeiro bekannt wurden. Ebenso wurden Verbindungen publik zum mutmaßlichen Auftragsmörder von Marielle Franco, einer linken Stadtverordneten in Rio, sowie zu einem Hauptmann der Militärpolizei und Milizenführer und Mitglied des Mordkommandos „Escritório do Crime“ (Verbrechensbüro). Franco war im März 2018 erschossen worden.

Die Zahl der gewaltsamen Übergriffe in den ländlichen Gebieten dürften angesichts von Bolsonaros Ankündigung, die Aktionen der Landlosenbewegung als Terrorismus zu kriminalisieren, weiter ansteigen. Die wirtschaftliche Erschließung Amazoniens ist ein zentrales Projekt Bolsonaros und wird begleitet von Repression gegen indigene und Umweltorganisationen. Unterdessen überlegen Künstler und Kulturschaffende, wegen der Streichungen von staatlichen Kulturprogrammen ins Ausland zu gehen. „Dies ist keine Regierung, das ist ein Angriff“, kommentierte Vladimir Safatle, Philosoph und Kolumnist der „Folha de São Paulo“, die Politik der Regierung. Die Wahl Bolsonaros sei eine Farce gewesen. Brasilien sei ein mögliches Laboratorium eines autoritären Neoliberalismus.

Leider nicht nur ein verrückter Clown: Protest gegen den brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro und gegen Kürzungen im Bildungsbereich am 13. August in Rio de Janeiro. (Foto: EPA-EFE/Antonio Lacerda)

Die Stimmung gegen Intellektuelle hat sich in der Tat verschärft. In der Bildungspolitik will der Präsident eine „neutrale Schule“ durchsetzen: Ihm zufolge sind Schulen dazu da, „die Kinder auf den Arbeitsmarkt vorzubereiten und nicht auf politischen Aktivismus“. Bolsonaro spricht von „marxistischem Müll, der sich in den Bildungseinrichtungen eingerichtet hat“. In den Abschlussprüfungen für den Zugang zu den öffentlichen Universitäten sollen Fragen mit vermeintlich „ideologischem Inhalt“ eliminiert werden. Schon im Januar löste das Bildungsministerium die Abteilung für Biodiversität und Inklusion auf und richtete stattdessen eine Behörde zu Militarisierung von staatlichen Schulen ein.

Die Geschichtsbücher sollen umfassend überarbeitet werden. „Wir erleben in Brasilien einen bedrohlichen Geschichtsrevisionismus, der die Erinnerung an die brutale Vergangenheit verdrängt, um den derzeitigen autoritären Diskurs zu legitimieren“, stellt die Politikwissenschaftlerin Cristina Buarque de Hollanda fest. Brasilien ist nach wie vor von der Zeit der Militärdiktatur (1964-1985) geprägt. Für den heutigen Präsidenten, selbst einst Fallschirmjäger und Hauptmann der Reserve, sind die Militärmachthaber von einst und ihre Schergen Helden. Im Gegenzug verhöhnt er ihre Opfer. Einer der Folterer der Diktatur war Oberst Carlos Alberto Brilhante Ustra, von 1970 bis 1974 Chef des Geheimdienstes DOI-CODI in São Paulo. In einem Folterzentrum wurden unter Ustras Kommando mehr als 500 politische Häftlinge gefoltert, mindestens 60 davon wurden ermordet. Ustra folterte auch Dilma Rousseff, die spätere Präsidentin. Sie wurde als 22-jährige Studentin an den Füßen aufgehängt und mit Stromschlägen gequält. Drei Jahre lang blieb sie im Gefängnis.

In einem Fernsehinterview sagte Bolsonaro, der größte Fehler der Generäle sei es gewesen, „nur zu foltern und nicht zu töten“. Im Wahlkampf kündigte er „eine in der Geschichte des Landes nie dagewesene Säuberung“ an. Seine Gegner befürchten eine Rückkehr der Diktatur. So wie Bolsonaro sich nach seinem Wahlsieg als Messias feiern ließ, bezeichneten sich die Putschisten von einst als Retter.

Die Militärs von 1964, die Bolsonaro lobt, stießen kaum auf Widerstand in der Bevölkerung, sodass es ihnen leichtfiel, ihre Macht auszubauen und Oppositionelle mit Gewalt zu verfolgen. Viele Intellektuelle flohen ins Ausland. Erst nachdem das Land völlig heruntergewirtschaftet war, gaben die Generäle 1985 die Macht ab, verabschiedeten aber 1979 noch rechtzeitig ein Amnestiegesetz, um den Folterern und Mördern Straffreiheit zu sichern. Zwar gab es unter Präsident Fernando Henrique Cardoso 2001 Entschädigungszahlungen und wurden bis 2011 etwa 11.000 Opfer des Regimes finanziell entschädigt. Die Verurteilung der Täter blieb jedoch aus.

Die offizielle Aufarbeitung der Militärdiktatur ließ lange auf sich warten. Sie begann größtenteils unter den linken Regierungen von Lula und Dilma Rousseff. Erst ab 2011 untersuchte die Nationale Wahrheitskommission systematisch die Menschenrechtsverbrechen während der Diktatur. Oberst Ustra wurde 2012 in erster Instanz verurteilt, der Familie des von dem Regime ermordeten Journalisten Luiz Eduardo Merlino Schmerzensgeld zu bezahlen. Doch ein Gericht wies die Ansprüche wegen Verjährung ab. 2014 hatte eine Wahrheitskommission die Grausamkeiten der Diktatur nachgewiesen: offiziell 434 Ermordete und Verschwundene, rund 1.800 Fälle von Folter. Die Dunkelziffer ist ungleich höher. Bolsonaro widmete seine Stimme im Amtsenthebungsverfahren gegen Dilma Rousseff dem „Gedenken an Oberst Ustra“, dem Folterer.

Die erste große Demo während Bolsonaros Amtszeit erlebte Brasilien im vergangenen Mai. In vielen Städten des Landes gingen insgesamt rund 1,5 Millionen Menschen auf die Straße, um gegen die drastischen Kürzungen im Bildungsbereich zu demonstrieren. Nach der ersten großen Protestwelle am 15. Mai folgte eine zweite am 30. Mai. Doch das Bildungsministerium verbot es Lehrern, Mitarbeitern und Schülern, während der Unterrichtszeit an Protesten teilzunehmen oder zu ihnen anzuregen und forderte auf, jene, die dies dennoch tun, auf der Website des Ministeriums zu denunzieren.

Ein homosexueller Abgeordneter verließ wegen Morddrohungen das Land – “ein großer Tag“, höhnte Bolsonaro ihm nach.

Präsident Bolsonaro, der während der Proteste im Ausland war, stand zuletzt vor allem wegen seiner Umweltvergehen in der Kritik, als es in den vergangenen Monaten zu deutlich mehr Waldbränden vor allem im Amazonas-Gebiet kam als in den Jahren zuvor. Die Zahl der Feuer hat in diesem Jahr um 83 Prozent zugenommen, wie verschiedene Zeitungen meldeten, und erreichte einen neuen Höchstwert seit Beginn der Aufzeichnungen 2013. Eine Ursache der Brände ist die Dürre, aber verbunden mit den Waldrodungen kann sich das Feuer schneller ausbreiten. Und die Abholzung hat im Vergleich zum Vorjahr deutlich zugenommen: Im Juli wurden 212 Prozent mehr Bäume gefällt als noch im Juli 2018. Die Abholzungsrate liegt bei drei Fußballfeldern pro Minute.

Bolsonaro, der den Klimawandel bestreitet, wies jegliche Verantwortung von sich: „Früher wurde ich Kapitän Kettensäge genannt, jetzt bin ich Nero.“ Seine Teilnahme an einem Amazonas-Gipfel zu den Waldbränden sagte er ab – aus gesundheitlichen Gründen: Bolsonaro musste sich zum vierten Mal einem medizinischen Eingriff unterziehen. Die Narbe, die er sich bei einem Messerangriff während des Wahlkampfs zugezogen hatte, war wieder aufgebrochen. Der Präsident ließ sich per Video zur Konferenz hinzuschalten.

Bustos Domecq berichtet für die woxx aus Brasilien und Argentinien.

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