Buch über den deutschen Arbeitsbegriff: Zum Wohl der Gemeinschaft

Die deutsche Auffassung davon, was Arbeit gesellschaftlich bedeutet, ist eng mit dem Antisemitismus und dem Aufstieg des Nationalsozialismus verbunden. Der Sozialphilosoph Nikolas Lelle hat nun eine Studie zur Wirkungsgeschichte des Begriffs vorgelegt, die bis in die Gegenwart reicht.

Arbeit als Dienst an der Volksgemeinschaft: Die Ideologisierung der Arbeit umfasste auch die Inszenierung und Zuweisung der Geschlechterrollen, wie hier auf dem Titelblatt der nationalsozialistischen Zeitschrift „NS-Frauenwarte“. (Bild: Internet)

Die Vorstellung, dass Deutsche besonders gut, hart, effizient, präzise, tüchtig und fleißig arbeiten – ihre Beziehung zur Arbeit gilt als einzigartig – hat eine lange Tradition und hält sich bis heute. Besonders wirkmächtig war dieser Topos zur Zeit des Nationalsozialismus.

Und doch kamen Analyse und Kritik insbesondere der nationalsozialistischen Arbeitsauffassung und ihres Nachlebens in der Forschung bislang zu kurz. Dieser Befund bildet den Ausgangspunkt eines jüngst veröffentlichten Buches von Nikolas Lelle. Es sei erstaunlich, wie wenig sich die Auseinandersetzungen mit dem Nationalsozialismus „um dessen Verhältnis zu Arbeit drehen“, so der Sozialphilosoph.

Wie ein Blick in das 31 Seiten umfassende Literaturverzeichnis des Bandes verdeutlicht, mangelt es an verharmlosender, beschönigender und verherrlichender Literatur zu dieser Thematik allerdings keineswegs. Hinsichtlich einer dringend notwendigen, alle Aspekte deutscher Arbeit – einschließlich der Vernichtung durch Arbeit – der damaligen Zeit umfassenden Kritik, hat nun der Autor eine lehrreiche und richtungweisende Studie vorgelegt. Diese ist unter dem Titel „Arbeit, Dienst und Führung  – Der Nationalsozialismus und sein Erbe“ im Berliner Verbrecher Verlag erschienen.

Das besondere Verhältnis der Deutschen zur Arbeit beginnt sich im langen 19. Jahrhundert, wie es der britische Historiker Eric Hobsbawm nannte, und das durch zahlreiche Umbrüche gekennzeichnet war, zu entfalten. Erste Ansätze eines spezifisch deutschen Begriffs von Arbeit sind, wie Lelle anmerkt, aber bereits in den Schriften des Reformators Martin Luther zu finden. In Literatur und Wissenschaft, in Kunst und Politik traten in Folge zunehmend Positionen auf, die sich der Verherrlichung von „Arbeit“ als einer spezifisch deutschen Eigenschaft widmen. Als Gegenbild hierzu wird ein Bild vom „Juden“ entworfen, der zur Verinnerlichung einer solchen Auffassung von Arbeit angeblich nicht in der Lage sei.

Deutsche Arbeit wird demnach nicht zuletzt als Pflichtgefühl definiert, das den Arbeitenden an die (Betriebs-)Gemeinschaft binde. Die Arbeit wird erledigt nicht um des Verdienstes und der Einkünfte willen, sondern zum Wohl des Ganzen. Das Gegenteil sei die „jüdische Arbeit“; diese werde allein für den Eigennutz getan. Entscheidend für die „deutsche Arbeit“ sei nicht die Art der Tätigkeit, sondern wie sie ausgeführt werde. Der (deutsche) Kaufmann arbeitet der Ideologie nach ehrlich und gemeinnützig, der (jüdische) Händler jedoch suche immer nur seinen eigenen Vorteil. Das Ideologem „deutscher Arbeit“ ist jedoch nicht auf seine Bedeutung im Antisemitismus beschränkt, wie Lelle zu zeigen vermag: Auch der „gute deutsche Kolonisator“ des Imperialismus arbeitete stets an der Erziehung zur Arbeit und kolonialisierte grundsätzlich nur gemeinnützig und nachhaltig.

Von Luther zu Hitler

An solch eine Tradition konnten die nationalsozialistischen Frühschriften von Autoren wie Gottfried Feder, Anton Draxler und Dietrich Eckart nach dem ersten Weltkrieg nahtlos anschließen. Von deren Texten spannt sich ein Netz zu den frühen Reden und Schriften Adolf Hitlers. Lelle nimmt eine systematische Untersuchung dieser Texte vor, um die Spezifik der nationalsozialistischen Arbeitsauffassung näher zu bestimmen. Die Macht des Leihkapitals müsse gebrochen werden, heißt es dort, es gelte sich von der „Zinsknechtschaft des Geldes zu befreien“. Hinter dem Kapitalismus, der Sozialdemokratie und dem Kommunismus stünden die Juden. Deren „Mammonismus, die geheimnisvolle Herrschaft der großen internationalen Geldmächte“ gelte es zu bekämpfen, und nicht etwa den Kapitalismus insgesamt.

Derlei Phrasen bildeten die Grundlage von Hitlers 25-Punkte Programm von 1920 für die aus der „Deutschen Arbeiterpartei“ durch Umbenennung hervorgegangenen NSDAP. Um die darin gesetzten Ziele zu erreichen, sei es die „erste Pflicht jedes Staatsbürgers (…) geistig oder körperlich zu schaffen“, und zwar zum Nutzen aller. Das sich hieraus ergebende Konstrukt der Volksgemeinschaft bildete die ideologische Verbindung zwischen Antisemitismus und deutscher Arbeitsauffassung. Eingegrenzt durch den Begriff der Rasse definiert sich der nationalsozialistische Arbeitsbegriff: Arbeit ist Dienst an der Volksgemeinschaft.

Der Autor erläutert diese Arbeitsauffassung als den Versuch, eine Antwort auf die Probleme moderner, industrieller Arbeit zu finden. Allem voran ermöglichte der Antisemitismus eine Kapitalismuskritik, ohne die Grundlagen des Kapitalismus zu benennen oder gar abzuschaffen. Nicht die Verhältnisse, die entfremdete Arbeit produzieren, sollten abgeschafft oder auch nur verändert werden, sondern bloß die Art und Weise, wie sich Menschen in diesen auf einander beziehen. Der Nationalsozialismus präsentierte sich als Gegenbild sowohl zur liberalen Arbeitsauffassung, organisiert in kapitalistischen Marktbeziehungen, als auch zu einem sozialistischen Begriff von Arbeit, der auf eine demokratische und kollektive Organisation derselben zielte. Arbeit wurde nicht mehr innerhalb von Ware-Geld-Beziehungen verstanden, und damit als etwas, das zur Selbsterhaltung gezwungenermaßen zu erdulden ist, sondern als Ehre. In der Propaganda wähnte man sich jenseits von Liberalismus und Sozialismus auf einem dritten Weg.

Es gehörte zur politischen Ökonomie des „Dritten Reiches“, eine Verbindung zur Arbeiterklasse herzustellen, die Arbeiter sozial in das Regime zu integrieren, um sich dadurch langfristig deren Unterstützung zu sichern. Die Einsicht, dass faschistischer Kapitalismus nicht auf die „Passivierung des Proletariats“ setzt, sondern auf dessen „Aktivierung“ findet sich schon bei Philosophen aus dem Umfeld der Kritischen Theorie wie Walter Benjamin und Herbert Marcuse. „Die totale Aktivierung und Politisierung entreißt breite Schichten ihrer hemmenden Neutralität“, schrieb letzterer bereits 1934 in seinem Aufsatz „Der Kampf gegen den Liberalismus in der totalitären Staatsauffassung“. Und Max Horkheimer ergänzte 1939 in „Die Juden und Europa“: „Nicht für die Steigerung ihres eigenen Lebens sollten die Massen aktiviert werden, nicht dass sie essen, sondern dass sie gehorchen, ist die Aufgabe des faschistischen Apparats.“

Aktivierung des Proletariats

Damit die Arbeiter auch wollen, was sie sollen, experimentierte man in ausgewählten Betrieben mit neuen Formen der Menschenführung. Bekanntestes Beispiel sind die Kölner Klöckner-Humbold-Deutz-Werke (KHD). Hier wurden Mitte der 1930er-Jahre Formen des Personalmanagements eingeführt, die auf die Eigenverantwortung der Arbeiter setzten. Ziel war es, den Arbeiter zum Mitarbeiter zu machen. Der Betriebsdirektor verlieh einigen besonders effektiven Arbeitern den Titel „Selbstkontrolleur“, erkennbar an dem Schriftzug „Ich prüfe selbst“. Das bedeutete, dass sie, ohne eine materielle Zusatzvergütung dafür zu erhalten, ihre Produkte selbst auf etwaige Mängel überprüfen und gegebenenfalls reklamieren konnten. Auch wurde einigen ausgezeichneten Facharbeitern der Titel „Selbstkalkulator“ verliehen. Sie durften ihre Akkorde selbst festsetzten und somit ihr Gehalt selbst bestimmen.

Die nationalsozialistische Presse feierte diese neue Personalführung als Realisierung der eigenen Ideologie. In der von der „SS“ herausgegebenen Zeitung „Das Schwarze Korps“ war zu lesen: „Hier ist der Nationalsozialismus zur Tat geworden.“ Das nationalsozialistische Herrschaftssystem bestrafte also nicht nur, sondern wollte auch motivieren und aktivieren. Es war eine „klassenlose Klassengesellschaft“, wie der Philosoph Theodor W. Adorno sie bezeichnete.

Im Postnazismus, dem Kapitalismus der Nachkriegszeit, konnte an diese Tendenzen angeschlossen werden, aber der Wegfall des Führers musste kompensiert werden. Statt Führer und Gefolgschaft hieß es ab jetzt Vorgesetzter und Mitarbeiter.

Die personellen Kontinuitäten, die den Nationalsozialismus mit der deutschen Nachkriegsgeschichte in Justiz, Verwaltung und Politik verbinden, sind mittlerweile hinlänglich bekannt und auch an Forschungsliteratur dazu mangelt es nicht. In den 1950er-Jahren lag beispielsweise der Anteil der führenden Mitarbeiter des bundesdeutschen Arbeitsministeriums, die einst NSDAP-Mitglieder waren, bei 60 Prozent.

Lelle geht es in seiner Arbeit jedoch nicht in erster Linie um personelle, sondern um ideologische Kontinuitäten: Um den Fortbestand der spezifisch deutschen Auffassung von Arbeit, und darum, inwieweit diese zumindest oberflächlich und nach außen hin vom ihr inhärenten Antisemitismus, Antiziganismus, Rassismus und Sozialchauvinismus bereinigt wurde.

Dennoch verrät manche Nachkriegskarriere, wie bruchlos dies gelang. Rainhard Höhn etwa entpuppte sich nach seiner Zeit als nationalsozialistischer Chefideologe als Chefausbilder im Dienst des Kapitals. Der 1904 geborene studierte Jurist und überzeugte Antisemit hatte den von Reinhard Heydrich geleiteten SS-Geheimdienst „SD“ (abgekürzt für „Sicherheitsdienst des Reichsführers SS“; „Reichsführer SS“ war Heinrich Himmler; Anm. d. Red.) mit aufgebaut. Dessen Ziel war es, vermeintliche „Volksfeinde“ aufzuspüren. Von Heinrich Himmler 1944 zum SS-Oberführer ernannt, lieferte Höhn Argumente für eine europaweite nationalsozialistische Vertreibungs- und Vernichtungspolitik. 1953 wurde er Geschäftsführer der „Deutschen Volkswirtschaftlichen Gesellschaft“ und baute die „Akademie für Führungskräfte der Wirtschaft Bad Harzburg“ auf. Diese wurde bald zur ersten Adresse in der Bundesrepublik für Management-Training und unternehmerische Führungsmodelle. Nicht zuletzt wegen der umfangreichen Unterstützung alter SS-Kameraden, die sich jetzt bei Höhn als Führungskräfte in Unternehmen ausbilden ließen.

Leistung über alles

Die Ideologie vom Führer und Gefolgschaft wurde angepasst und modernisiert, lebt aber in „entnazifizierten“ Formen fort, so der Befund von Nikolas Lelle. Nach der Befreiung hieß es nicht mehr „Führer befiel – wir folgen“, sondern „Führer befiel – wir managen“, wie es die linke deutsche Zeitschrift „konkret“ einmal bezeichnete.

Anfang der 1970er-Jahre endete der staatlich gelenkte Kapitalismus in Deutschland; oktroyiert wurde die bis heute andauernde neoliberale Variante. Nicht allein weil diese von Beginn an wegen ihres politisch-ökonomischen Autoritarismus kritisiert wurde, sondern vor allem auch wegen ihrer ideologischen Nähe zur politischen Ökonomie des Nationalsozialismus hätte man sich hier eine etwas ausführlichere Darlegung gewünscht (siehe hierzu den Artikel „Unheilvolle Allianz“ in woxx 1642). Lelle jedoch belässt es bei der Feststellung, wonach die Aktivierung der Selbststeuerungspotenziale heute in der Selbstverantwortung liege. Ziel sei es, sich selbst möglichst gut zu verkaufen und Gewinn zu machen.

Bis heute ist die berufliche Karriere das Ideal der bürgerlichen Leistungsgesellschaft und des kapitalistischen Leistungsprinzips. Rassistisch aufgewertet und radikal zu Ende gedacht, impliziert es genau die Devise, die über dem Eingangstor des Konzentrationslagers Buchenwald zu lesen war: „Jedem das Seine“.

Lelle resümiert, das Nachdenken über den Nationalsozialismus führe zwangsläufig immer wieder auf den Kapitalismus zurück. Prägnant hat dies bereits am Vorabend des Zweiten Weltkrieges der Philosoph Max Horkheimer formuliert: „Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen“. Die Forderung nach einer radikalen Veränderung des Arbeitsbegriffes impliziert die Forderung nach einer radikalen Veränderung der Gesellschaft, ohne wird es nicht gehen, wie der Autor deutlich macht.

Angesichts dessen gilt es, an den von Karl Marx formulierten kategorischen Imperativ zu erinnern: Alle Verhältnisse seien umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist. Zuvörderst die Arbeitsverhältnisse zählen hierzu. Ein kritischer Arbeitsbegriff muss zumindest versuchen, auch diejenigen zu integrieren, die sich verweigern: jeder kann, keiner muss, aber für alle wird gesorgt.


Nikolas Lelle: Arbeit, Dienst und Führung. 
Der Nationalsozialismus und sein Erbe. 
Verbrecher Verlag, 368 Seiten.

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