30 Jahre und von Müdigkeit keine Spur – das Theaterkollektiv „Independent Little Lies“, einst von Teenagern gegründet, bleibt jung und vor allem engagiert. Zeit zum Innehalten gibt es da trotz des Jubiläums kaum, denn die Planung für die Saison 2028 läuft bereits.

Einige Mitglieder des Theaterkollektivs ILL, das in den vergangenen 30 Jahren eine große Entwicklung durchlaufen hat. (© Emile_Hengen)
Staub tanzt durch das goldene Herbstlicht, das schräg durch die Fenster in den Proberaum des Theaterkollektivs „Independent Little Lies“ (ILL) fällt. Blickt man hinaus, ist ausschnitthaft der blaue Himmel zu erkennen, in den die farbenprächtigen Kronen der Laubbäume hineinragen, dahinter ein Industriegebäude und Gleise, auf denen manchmal ein Zug vorbeirauscht. Sonst bleibt es still an diesem sonnigen Novembertag. Das „Bâtiment 4“ in Esch, das Zuhause von ILL, ist vor dem an- und abschwellenden Straßenverkehr durch seine abgelegene Lage gut geschützt. Die Ruhe, die momentan innerhalb der weißgetünchten Wände des Proberaums herrscht, täuscht aber über die rege Betriebsamkeit hinweg, die den Alltag der Kollektivmitglieder zurzeit bestimmt.
Mitte November feierte das Kollektiv sein 30-jähriges Bestehen im Ciné Ariston mit der Ausstrahlung von Anne Schiltz’ Dokumentarfilm „Theater.Kollektiv“. Bedeutete diese Rückschau denn auch eine kleine Ruhepause für die Kreativschaffenden? Mitnichten, denn diese müssen neben der Gegenwart auch schon die Zukunft im Blick haben und verschiedene Projekte simultan managen. „Gerade befinden wir uns auf Tournee mit ,Kleng Ligen iwwer Onofhängegkeet‘ [ein Stück über die Geschichte Luxemburgs, Anm. d. Red.]“, erzählt die ILL-Generalkoordinatorin Jill Christophe. Nach der Premiere im Kulturhaus Niederanven steht als Nächstes ein Auftritt im Kinneksbond in Mamer an. Ende November findet zudem die Reprise von Claire Thills Live-Hörspiel-Performance „Apoplexie“ (siehe woxx 1808) statt. Das Theaterhörspiel wird gleich danach in Basel aufgeführt. Damit nicht genug: Am 8. Dezember präsentieren einige Kollektivmitglieder außerdem ihre „Mikroprojekte“, also kürzere Performances, im Rahmen des „Microproject-Festival“ in Esch.
Ein bereits voller Terminkalender, der mit administrativen Tätigkeiten sowie Organisations- und Planungsarbeiten noch weiter gefüllt wird. „Man lebt immer in verschiedenen Saisons gleichzeitig“, erzählt Christophe. Wenn man in der Verwaltung arbeite, müsse man die vorherige Saison abschließen, zeitgleich kümmere man sich aber auch um laufende Projekte und müsse die kommende Saison vorbereiten. „Man springt immer zwischen unterschiedlichen Zeit- ebenen und Projekten, und das kostet natürlich unglaublich viel Energie.“ Gerade steht Christophe mit diversen Projektträger*innen im Kontakt, um die Saisons 2026 und 2027 zu planen. Doch der Blick in die Zukunft reicht noch weiter: Bald endet ein interner Aufruf an die Kollektivmitglieder zur Einreichung von Theaterprojekten für das Jahr 2028.
Work-Life-was?
Im Gespräch mit Jill Christophe und Anne Schiltz wird spürbar, dass schon länger Druck auf dem Kessel ist. Kurz schweift das Gespräch ab, weg vom ILL und hin zur Theaterbranche allgemein. Denn Schauspieler*innen und Fachkräfte ächzen unter der Vielzahl an Deadlines und Projekten, die es wie im Akkord zu bewältigen gilt. „Es herrscht die ganze Zeit Stress“, sagt Christophe, die ebenfalls für die „Association luxembourgeoise des professionnel·le·s du spectacle vivant“ (Aspro) arbeitet. „Es ist ein Hamsterrad, das dreht und dreht, und du sitzt drin und rennst mit. Irgendwann, wenn du nicht mehr kannst, fliegst du raus.“ Genau an dieser Stelle wird die Bedeutung des Kollektivs deutlich. „Das ILL hat so viele Mittel und wir müssen einen Weg finden, unsere Mitglieder zu schützen und ihnen die Möglichkeit zu geben, in Ruhe und im Vertrauen kreativ zu sein“, unterstreicht die Verwaltungsmitarbeiterin. Gefahr erkannt, Gefahr gebannt? So einfach ist es dann doch nicht. „Wir können uns nicht ganz von der Außenwelt abschotten“, sagt Christophe, „aber schön wäre es.“
Die Arbeitsbelastung von Theaterschaffenden ist zwar hoch – doch der Geldbeutel bleibt meist schmal. Die Prekarität, die mit der Arbeit auf und hinter der Bühne verbunden sei, sei anstrengend, betonen die ILL-Mitglieder. Auch die als „Minima tarifaires“ bezeichneten Mindestvergütungen, die seit 2023 im ganzen Land für Bühnenkünstler*innen und seit 2024 für Menschen, die im Backstage-Team arbeiten, gelten, änderten daran nichts. „Davon kann man nicht leben“, sagt Chistophe. Leider stagnierten gerade die Verhandlungen zwischen der Aspro und der Theaterfederatioun.
Ein weiter Weg
Das Escher Kollektiv nimmt, was das Finanzielle angeht, landesweit eine Vorreiterrolle ein: Als einzige Vereinigung im Theaterbereich zahlt sie indexgebundene Gagen aus, diese werden also automatisch an die Entwicklung der Lebenshaltungskosten angepasst. Dieser Umstand zeigt vielleicht am deutlichsten, wie sehr sich das Kollektiv in den vergangenen 30 Jahren professionalisiert hat.
1995 gegründet von theaterbegeisterten Schüler*innen des Lycée Hubert Clément Esch (LHCE), hat sich das ILL zu einem der wichtigsten Theaterkollektive Luxemburgs gemausert. Als das Theaterstück „Dreck“ im Jahr 2000 aufgeführt wurde, wurde das erste Mal ein Schauspieler für seine Leistung bezahlt. Ein weiterer Meilenstein: das Jahr 2007, als Luxemburg und die Großregion Europäische Kulturhauptstadt waren. Gemeinsam mit einem Wiener Kollektiv realisierte das ILL damals ein Theaterprojekt – und war dank der Förderungen zum ersten Mal imstande, professionelle Gagen zu zahlen. „Ab da wollten wir nie wieder einen Schritt zurückgehen“, erinnert sich Christophe an den Schlüsselmoment.
Heute gehört das ILL fest zur Escher Kulturlandschaft. Mit partizipativen Projekten wie der „Biergerbühn“ (siehe woxx 1844) hat sich die Künstler*innengruppe ein eigenes, der Welt zugewandtes und auf Multidisziplinarität beruhendes Profil aufgebaut. Hier vermischen sich unterschiedliche Künste, Laienschauspieler*innen unterschiedlichen Alters und verschiedener Herkunft finden zusammen. Ein für Luxemburg einmaliges Konzept, das über seine künstlerische Innovativität hinaus auch eine wichtige gesellschaftliche Botschaft beinhaltet: Ein wertschätzendes Miteinander ist möglich. Dieses Miteinander leben die Kollektivmitglieder auch selbst vor. „Wir sind alle durch Freundschaft miteinander verbunden“, sagt Schiltz, die 2022 durch ein Projekt zur Gruppe hinzustieß.
Das ILL bietet auch queeren Künstler*innen eine Plattform. 2018 rief Mitglied Sandy Artuso das Festival „Queer Little Lies“ ins Leben, das Kollektiv leistete damit Pionierarbeit. „Das war zu dem Zeitpunkt einzigartig“, sagt Christophe. Denn damals habe man queerer Kunst in Luxemburg kaum einen Platz eingeräumt. Der Wagemut des sich ständig erneuernden Kollektivs zeigte sich von Anfang an: Das erste vom ILL inszenierte Stück, das den Titel „Der beste Tag“ trug, handelte von AIDS – ein zu der Zeit auf der Bühne kaum besprochenes Thema.
Und was hat es mit dem Namen „Independent Little Lies“ auf sich? Gründungsmitglied Dirk Gindt, jetzt Dozent an der Universität Stockholm, habe immer Fleetwood Mac gehört, erzählt Christophe. In Anlehnung an deren Song „Little Lies“, der inoffiziellen Hymne der Freundesgruppe, wurde das Kollektiv auf seinen heutigen Namen getauft. Das Wort „Independent“ setzt dabei den Ton: Die Jugendlichen wollten ihren eigenen Weg gehen – ein Wunsch, der sich erfüllt hat.
Über den Boden huschen noch einmal kurz die Schatten der Theaterschaffenden, dann fällt die Tür zum Proberaum klickend ins Schloss. Auf dem Heimweg begleiten die Verfasserin dieser Zeilen nicht nur die Alltagsgeräusche der belebten Stadt, durch Kopfhörer dringt auch Stevie Nicks’ leicht raue Stimme ins Ohr: „You can’t disguise / No, you can’t disguise / Tell me lies, tell me sweet little lies…“

